# taz.de -- Debatte Holocaust-Gedenken: Pilgerfahrt nach Auschwitz
       
       > Das Gedenken an den Holocaust ist zu einer Art Religion geworden. Zu den
       > Ritualen dieser Religion zählt es, jüdische Kritiker der israelischen
       > Politik auszugrenzen.
       
 (IMG) Bild: "Die Heil- und Pflegeanstalten sind zu Mordzentralen geworden." Geistig behinderte Kinder in Schwäbisch Hall, ca. 1930.
       
       Was haben die beiden Professoren Ilan Pappe (Israel), Norman Finkelstein
       (USA) und der Publizist Hajo Meyer (Deutschland) gemeinsam? Alle drei sind
       Juden, Überlebende des Holocaust beziehungsweise deren Nachkommen sowie
       vehemente Kritiker der israelischen Politik.
       
       Was haben die Stadt München, die Trinitatiskirche in Berlin, die
       Heinrich-Böll- und die Rosa-Luxemburg-Stiftung gemein? Sie alle haben, nach
       anfänglichen Zusagen, Ilan Pappe beziehungsweise Norman Finkelstein wieder
       ausgeladen und ihnen versprochene Veranstaltungsräume verwehrt - so wie es
       die Heiliggeistkirche in Frankfurt vor ein paar Jahren bereits einmal mit
       Hajo Meyer getan hatte. Die genannten Institutionen gaben damit dem Druck
       sich proisraelisch gebender Kreise nach, die Finkelstein, Pappe und Meyer
       sogar als "Antisemiten" denunzierten. Wegen der Schoah. So nennt man das
       mittlerweile.
       
       Früher sagte man "Auschwitz", dann "Holocaust". Bis Claude Lanzmann kam. Er
       suchte für das gigantische Menschheitsverbrechen, das er nicht verstand,
       ein Wort, das er ebenfalls nicht verstand. Also nannte der französische
       Regisseur seinen neunstündigen Dokumentarfilm über den Völkermord an den
       Juden 1985 "Shoah". Dabei störte es ihn nicht, dass es sich um einen
       religiös aufgeladenen Begriff handelt: Auf Hebräisch bezeichnet man damit
       eine Katastrophe, die Gott über die Welt gebracht hat. Inzwischen hat sich
       der Begriff auch in Deutschland eingebürgert.
       
       Mit dem Wort "Schoah" wird der Völkermord an den Juden mit der Aura des
       Unfassbaren, des Heiligen ummantelt. Dabei handelt es sich bei diesem
       Völkermord, so erschreckend er war, nicht um ein esoterisches Ereignis,
       sondern um ein modernes, gut dokumentiertes und recherchiertes Verbrechen,
       das Menschen an anderen Menschen verübt haben. Zahllose Bücher wurden
       darüber geschrieben: Unfassbar ist es also nicht auf einer intellektuellen,
       sondern allenfalls auf einer emotionalen Ebene.
       
       Mit dem hebräischen Wort "Schoah" wird in Deutschland auch die israelische
       Interpretation des Ereignisses übernommen. In Israel ist diese eine Art
       nationale Erzählung und ein Grundpfeiler des Staates, sodass sich dort
       jedes jüdische Kind damit identifizieren kann, selbst wenn seine Eltern
       ursprünglich aus dem Jemen oder aus Indien stammen. Schülerreisen nach
       Auschwitz, ursprünglich nur von israelischen Eliteschulen betrieben, sind
       heute ein fester Bestandteil jeder israelischen Postpubertätsbiografie
       geworden. Bevor ein junger Israeli zur Armee geht, muss er mindestens
       einmal Suff, Sex und eine Auschwitzreise erlebt haben. Wenn diese
       Voraussetzungen erfüllt sind, kann er seinen Armeedienst leisten und
       hinterher in Indien ausflippen.
       
       Zu offiziellen Gedenktagen holen auch ältere Israelis die inzwischen
       obligate Pilgerfahrt nach Auschwitz nach. Von einfachen Soldaten bis zu
       hohen Generälen und Politikern marschieren sie in Uniform (!) durch
       Auschwitz und erinnern an die Worte Ehud Baraks: "Wir sind 60 Jahre zu spät
       gekommen." Das Evangelium von Auschwitz hat inzwischen sogar schon den
       Weltraum erreicht: Als der erste israelische Astronaut Ilan Ramon 2003 mit
       dem Raumschiff "Columbia" ins All flog, hatte er auch die
       Bleistiftzeichnung eines kleinen Jungen dabei, der in Auschwitz ermordet
       wurde.
       
       Bei diesem Schoah-Kult handelt es sich, so muss man wohl sagen, um eine Art
       Religion mit festen Ritualen. Dazu gehört - ungeachtet aller heutigen
       Realitäten - die feste Überzeugung, die Deutschen seien die ewigen Täter
       und die Israelis die ewigen Opfer, weshalb die Gesetze und Regeln
       demokratischer Staaten für Letztere nicht zu gelten hätten: ein Sonderfall
       halt.
       
       Diese Religion erfreut sich nicht nur in Israel großer Beliebtheit. Auch
       vielen Deutschen kommt eine solche Mystifizierung von Auschwitz gelegen.
       Denn wenn Auschwitz eine heilige Aura umgibt, dann muss man sich nicht mehr
       mit dem eigenen Potenzial zur Täterschaft auseinandersetzen. Wenn der
       Holocaust so heilig ist, dann darf man nur auf Zehenspitzen gehen.
       
       Nicht wenige Deutsche haben damit ein prima Arrangement mit der
       Vergangenheit getroffen. Sie erklären das Verbrechen ihrer Vorfahren als so
       schlimm, dass es zu etwas quasi Mystischem geworden ist. Das Thema ist
       damit aus dem Diesseits und dem Feld der Politik in die Sphäre des Sakralen
       entrückt. Solange man die Rituale dieser Religion befolgt, braucht man sich
       nichts vorwerfen zu lassen und kann sich sogar, wie Angela Merkel in der
       Affäre um die Piusbruderschaft gezeigt hat, päpstlicher als der Papst
       verhalten. Kein Wunder, dass man in Deutschland zuweilen viel engagiertere
       Verfechter der israelischen Politik antrifft als in Israel selbst.
       
       Es gibt aber auch Juden, die dieses israelisch-deutsche Interpretation der
       Schoah nicht akzeptieren. Für sie ist Auschwitz nicht heilig und Israels
       Politik noch immer kritisierbar. Publizisten wie der israelische
       Wissenschaftler Ilan Pappe, der ein Buch über "Die ethnische Säuberung
       Palästinas" geschrieben hat, sein US-Kollege Norman Finkelstein, der eines
       über die "Holocaust-Industrie" verfasste, und der in Deutschland geborene
       Dr. Hajo Meyer, der "Das Ende des Judentums" publizierte, gehören dazu.
       Doch in Deutschland sind sie deswegen nicht willkommen.
       
       Man stelle sich vor, Heinrich Böll wollte heute über die Sprache der
       israelischen Besatzer reden - und die nach ihm benannte Stiftung ließe das
       nicht zu. Rosa Luxemburg bekäme in der Stiftung, die ihren Namen trägt,
       keine Gelegenheit, über die Machtverhältnisse in Israel zu sprechen. Und
       der Jude Jesus fände die Türen der Trinitatiskirche verschlossen, wenn er
       über die Missachtung des Nächsten in Israel sprechen wollte.
       
       All diese Institutionen üben sich in Selbstzensur und belegen Publizisten,
       die sich für die Menschenrechte im Nahen Osten einsetzen, mit einem
       Redeverbot. Es ist immer noch angebracht, Rosa Luxemburgs Erbe
       weiterzugeben und die Dinge beim Namen zu nennen. Doch die Stadt München,
       die Trinitatiskirche in Berlin, die Böll- und die Luxemburg-Stiftung
       drücken sich davor.
       
       9 Mar 2010
       
       ## AUTOREN
       
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