# taz.de -- Nazis in Mecklenburg-Vorpommern: Das Hakenkreuz am Kirchturm
       
       > Eines Morgens in Sternberg: Vom Kirchturm der verträumten
       > mecklenburgischen Kleinstadt hängt plötzlich eine Hakenkreuzfahne. Was
       > passiert jetzt?
       
 (IMG) Bild: Blick aus dem Turm der Stadtkirche über Sternberg und Umgebung.
       
       Eva Lagies erinnert sich nicht mehr genau an das Wort, das Helga Koch
       benutzte. Die Stimme der Gemeindepädagogin zitterte, das weiß Eva Lagies
       noch, aber was war ihre Bezeichnung dafür, was passiert war? Sagte sie
       "Schlamassel"? Die Pastorin Eva Lagies leitete eine Konfirmandenfreizeit,
       es war ein Sonntagmorgen, als sie den Anruf von Helga Koch bekam: "Wir
       haben hier einen großen Schlamassel."
       
       Lagies ist seit einem halben Jahr Pastorin in Sternberg, einer Kleinstadt
       eine halbe Stunde östlich von Schwerin; es ist ihre erste Stelle. Sie ist
       33 Jahre alt, selbst in Mecklenburg aufgewachsen, in der Küsterwohnung im
       oberen Stockwerk eines Pfarrhauses auf dem Dorf. Sie wollte mal Künstlerin
       werden. Bevor Eva Lagies nach Sternberg kam, arbeitete sie bei der
       Arbeitsstelle "Gewalt überwinden" der Kirche in Hamburg, davor ein halbes
       Jahr lang mit Kriegstraumatisierten in Papua-Neuguinea. Dann schickt die
       mecklenburgische Kirche sie aufs Land.
       
       Dort geschieht der Schlamassel: In der Nacht zum 28. Februar brechen
       Unbekannte in die Kirche ein. Sie stemmen eine Seitentür mit einem massiven
       Gegenstand auf, verschütten Bier und nehmen zwei Altarkerzen mit. Und sie
       steigen die Treppe zum Kirchturm hinauf, 66 Meter hoch, auf dem höchsten
       Punkt des Hügels, der die mittelalterliche Altstadt von Sternberg trägt.
       Dort hängen sie eine Hakenkreuzfahne auf, ein Meter fünfzig groß,
       Fabrikware. Bemerkt wird sie am folgenden Tag, am Morgen ruft jemand die
       Polizei. Als die Gemeindepädagogin Helga Koch kommt, um die Orgelbegleitung
       für den Gottesdienst noch einmal durchzuspielen, stehen schon zwei Beamte
       vor dem Gemeindehaus und warten auf den Kirchenschlüssel. Die Glocken
       läuten in Sternberg an diesem Morgen nicht.
       
       Menschen, die ihr nahe stehen, sagen, man sieht Eva Lagies immer an, wie es
       ihr geht. Auch nach dem Telefonat am Sonntagmorgen sieht man es, sie ist
       blass geworden. Aber das Angebot, bei einem Kollegen zu übernachten, lehnt
       sie ab. "Ich bin im Busch gewesen und im Kriegsland", sagt sie sich. Sie
       verabredet sich für den nächsten Morgen um 8.30 Uhr zur Erarbeitung einer
       gemeinsamen Erklärung im Rathaus, telefoniert mit einem Kirchenvertreter
       und schläft in ihrem eigenen Bett in der 160 Quadratmeter großen Wohnung.
       
       Es ist die Nacht des Gedankens: Eine Hakenkreuzflagge hängt vom Kirchturm
       in einer mecklenburgischen Stadt mit viereinhalbtausend Einwohnern. Was
       passiert jetzt?
       
       "Neonazis schänden Sternbergs Kirche", lautet die Überschrift in der
       Lokalzeitung am Montagmorgen. Eva Lagies geht ins Rathaus, der
       Bürgermeister hat eine halbe Stunde Zeit, danach sitzt die Pastorin noch
       mit dem Bürgervorsteher zusammen und formuliert eine Erklärung. Darin steht
       am Ende: "Lassen Sie uns entschieden für ein Zusammenleben in Achtung der
       demokratischen Kultur eintreten."
       
       "Man hat uns ausgesucht", sagt Jochen Quandt. "Aber das hätte auch zu jeder
       Zeit woanders stattfinden können." Quandt ist seit der Wende Bürgermeister
       von Sternberg. 59 Jahre alt, CDU-Mitglied, er trägt ein orange Hemd zu
       Jackett und Krawatte, auf dem Tisch seines Büros steht eine Vase mit
       Forsythienzweigen. "Wir haben hier nicht solche Strukturen festgestellt,
       dass es so wäre, dass man sich als Stadt damit auseinandersetzen müsste."
       Er sagt, das Ziel solcher symbolischen Aktionen sei es ja gerade, ins
       Gespräch zu kommen.
       
       Quandt ist vorsichtig. Er hat viel aufgebaut in Sternberg. Die Stadtmauer
       wurde mit Unterstützung eines örtlichen Unternehmers restauriert, der
       Marktplatz neu gestaltet, viele Häuser renoviert. Jährlich findet das
       Landesrapsblütenfest statt, mit einer Biodieselanlage kamen weitere
       Arbeitsplätze in die Stadt. Sternberg hat es geschafft, Anschluss an den
       Tourismusboom in Mecklenburg-Vorpommern zu gewinnen. Er weiß von Regionen
       in Vorpommern und Brandenburg, dass möglicherweise etwas auf dem Spiel
       steht, wenn die Stadt das Label "Neonazi-Region" bekommt. Und wer den
       Umgang mit der rechten Szene thematisiert, der thematisiert, dass es eine
       gibt.
       
       Auch wenn Jochen Quandt die natürlich kennt. Bei den Kommunalwahlen im
       vergangenen Jahr bekam die NPD 268 Stimmen - 4,5 Prozent. Seitdem sitzt ein
       NPD-Abgeordneter in der Stadtvertretung. Er hat bisher einen Antrag
       gestellt. Die Stadt solle wieder ein Begrüßungsgeld für Neugeborene
       einführen, aber "nur für deutsche Kinder".
       
       Die NPD arbeitet hier in Sternberg wie überall - mit bürgernahen Themen und
       den scheinbar ganz einfachen Lösungen dafür. Jochen Quandt schiebt seinen
       Stuhl zurück und macht zwei Schritte zum Schreibtisch. Er hebt die Hälfte
       eines Papierstapels an und zieht darunter eine Postkarte hervor.
       
       Gegen Geruchsbelästigung 
       
       "Beschwerde" steht dick gedruckt darauf und darunter: "Mit dieser Postkarte
       möchte auch ich mich schriftlich bei der Stadt Sternberg über die
       Geruchsbelästigung, welche durch die Rapsmühle entsteht, beschweren.
       Gleichzeitig fordere ich die Stadtvertretung auf, eine vernünftige Lösung
       herbeizuführen, um diesen unhaltbaren Zustand zu beenden bzw. zu mindern."
       Auf der Rückseite steht in winziger Schrift: "V.i.S.d.P.: Gildo Jaugitz" .
       Das ist der NPD-Abgeordnete. Die Postkarte lag kürzlich in den Briefkästen
       hunderter Sternberger.
       
       Sternberg ist keine Neonazihochburg. Das belegt weder die Statistik an
       rechten Straftaten, noch sagen dies die mobilen Beratungsteams im
       Bundesland. Es ist vielmehr einer der vielen Orte, in denen sich
       Neonazismus still und unspektakulär in den Alltag schleicht. In denen im
       Wahlkampf viele NPD-Plakate hängen und die Jugendlichen weniger werden, die
       sie nachts heimlich abnehmen würden. Von denen die Schulabgänger wegziehen
       - am Gymnasium gibt es mittlerweile noch zwei statt vier Jahrgänge. Die
       einzige Schulform mit konstanten Schülerzahlen ist die Allgemeine
       Förderschule. Die letzte Demonstration hier gab es gegen den Irakkrieg
       2003, der damalige Schülersprecher hatte sie organisiert.
       
       Auch der letzte alternative Laden in der Stadt hat schon länger zugemacht,
       ein Headshop: Rauchwaren, Naturtextilien, Ethnokitsch. Jede neu ersetzte
       Scheibe wurde wieder eingeschlagen. Über dem Bild eines Jointrauchers auf
       den Brettern vor dem Ladenfenster kleben heute Streifen von abgerissenen
       Plakaten. Man kann nur einzelne Wörter erkennen: "ls eine weltans…g…neuen
       Typs m…" Die Adresse unten links ist die der NPD-Jugendorganisation.
       
       Die Verbindung zwischen unorganisierten Bushaltestellen-Rechter und Partei
       ist in Sternberg noch neu. Eine Gruppe Mädchen machte im Wahlkampf einige
       Male das Catering für den NPD-Kandidaten. Sie nennen sich "Sternberger
       Nazissen" und haben sich Pullover bedruckt. Oben steht "Sternberger", unten
       "Nazissen", dazwischen eine schwarze Sonne, ein Rad mit zwölf Runen, wie es
       die SS als Bodenornament in die Wewelsburg einließ. Ein Erkennungssymbol
       der Neonaziszene.
       
       Die meisten Sternberger kennen diese Zeichen nicht. All die Facetten
       örtlicher Rechter spielen für kaum jemanden, dem man in Sternberg begegnet,
       im Alltag eine Rolle. Auch weil sie so nah sind. Verwandt. Bekannt. Man
       sieht sich bei Familienfesten oder Handballspielen. Man bekommt keine
       Prügel, selbst wenn man "Nazis raus"-T-Shirts trägt, weil der große Bruder
       selbst mal Nazi war.
       
       Eva Lagies, die neu in der Stadt ist, gehört noch nicht zu diesem Netz, das
       in einer Kleinstadt alle Punkte miteinander verbindet. Für sie sind die
       Informationen noch unzusammenhängend: weiße Schnürsenkel in
       Springerstiefeln, Aufkleber an Bushaltestellen, Namen.
       
       Besuch am Judenberg 
       
       Vor ihrer ersten Predigt nach dem Dienstantritt lief Eva Lagies den Berg am
       Eingang der Stadt hoch, den Judenberg. Hier wurden 27 Juden 1492 auf dem
       Scheiterhaufen verbrannt, weil sie angeblich Hostien geschändet hatten. Es
       war der Ausgangspunkt der Vertreibung der Juden aus Mecklenburg und
       Pommern, die Kirche entwickelte sich zum Wallfahrtsort, die Stadt wurde
       wohlhabend. Eva Lagies predigt dann über eine neue Pastorin, die auf dem
       Berg sitzt und über Sternberg seufzt, darüber, wozu Menschen in der Lage
       sind. Sie sagt, dass sie sich Kraft wünscht, entschlossen umzugehen mit
       Themen wie Rechtsradikalismus und Antisemitismus. Und ihren alltäglichen
       Formen. Auf die violette Kirche auf dem Schild am Ortseingang von Sternberg
       "Evangelischer Gottesdienst: 10 Uhr" hat jemand mit weißer Farbe ein
       Davidstern gesprüht.
       
       Die Pastorin hat aus Anlass des Einbruchs eine Friedensandacht
       veranstaltet, vier Tage später. Es kamen kaum 30 Leute, fast alle
       regelmäßige Kirchgänger, kein Jugendlicher war da, niemand von der Schule,
       der Bürgermeister auch nicht. Dafür Eva Lagies Amtsvorgängerin und der
       Bürgervorsteher. Beim Abschlussgebet zündete sie ein Teelicht an für die
       Täter und stellte es auf den Altar. Dazu sagte sie: "Vater, vergib ihnen,
       denn sie wissen nicht, was sie tun." Einige der Menschen im Raum schließen
       kurz die Augen. Vielleicht hoffen sie, dass Eva Lagies recht hat.
       
       29 Mar 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Luise Strothmann
       
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