# taz.de -- Aus dem Leben eines Arbeitslosen: "Ich bin hier falsch"
       
       > "Wenn ich von diesen Politikern höre, die Arbeitslosen seien faul, dann
       > packt mich die Wut." Ein Protokoll aus dem Arbeitslosenleben des
       > Brandenburgers Mario Krüger.
       
 (IMG) Bild: Mario Krüger: "Es hieß immer: Mach dies mal, mach das mal."
       
       "Zur Arbeit, die uns lieb, stehn früh wir auf und gehn mit Freuden dran"
       William Shakespeare (und Betriebsparole in der DDR).
       
       Brandenburg, die schöne alte Stadt am Wasser, liegt eingebettet zwischen
       drei Havelseen und erstreckt sich, teils inselartig angelegt, beiderseits
       der Havel. Die weitgehend restaurierte Innenstadt wirkt ein bisschen tot,
       so als sei sie erstarrt in banger Erwartung von Kunden und Touristen. Die
       flüchten sich aber vorschriftsmäßig in die eben eröffnete St.-
       Annen-Galerie mitten im Zentrum, ein 20.000 Quadratmeter großes
       Einkaufscenter mit pseudoklassizistischer Fassade, in dem der triste Alltag
       aufgedonnert wird zur "Shopping-Erlebniswelt". Man kann als Fremder aber
       auch mit der Straßenbahn Nr. 6 hinausfahren in den Norden, nach
       Hohenstücken, wo die stillgelegte Bevölkerung großflächig in grauen
       Plattenbauten lebt, über denen der drohende "Rückbau" schwebt, wie mir ein
       Bewohner erzählte.
       
       Oder man fährt mit der Nr. 2 bis zur riesigen verglasten Halle des alten
       Stahl- und Walzwerkes - das einst zum Flick-Konzern gehörte, das Ende der
       30er-Jahre zu massiver Rüstungsproduktion benutzt wurde - und in dem die
       DDR dann "Friedensstahl" produzierte. Heute zeigt ein von ehemaligen
       Stahlarbeitern sehr engagiert betriebenes Industriemuseum, wie und was hier
       von 1914-1993 produziert wurde - und dass die Schließung ein reiner Segen
       war für Atemluft und Umwelt der Bevölkerung. Mit der dritten der drei
       Straßenbahnlinien, der Nr. 1, gelangt man hinaus nach Görden, zur
       inzwischen privatisierten Psychiatrischen Landesklinik, der ehemaligen
       Landesirrenanstalt, 1911 in Pavillonbauweise errichtet für die Opfer der
       Industrialisierung. In einer Psychiatrie-Dauerausstellung wird dort der
       10.000-fache Krankenmord in dieser Stadt während der NS-Zeit dokumentiert.
       Man kann auch über viel Kopfsteinpflaster in der Stadt herumstreifen und
       viel Backsteingotik anschauen. Oder durch die schönen Parks und an den
       Flussufern entlang spazieren, über die Jahrtausendbrücke, hinüber auf das
       linke Flussufer in die Neustadt.
       
       Hier wohnt Mario, nahe am Theater, in einer renovierten Altbausiedlung aus
       den 20er-Jahren. Seine kleine Zweizimmerwohnung ist liebevoll eingerichtet,
       die einfallsreiche Verwendung vieler Fundstücke gibt ihr einen sehr
       persönlichen Charme. Aus dem Sperrmüll eines Chinarestaurants hat er sich
       ein imposantes chinesisches Bett und schöne Regale gebaut, große bemalte
       ehemalige Decken-Leuchtelemente zieren die Wand. Im Wohnzimmer steht auf
       einem schallisolierten Podest sein Schlagzeug. In einem Vitrinen-
       Schränkchen im Flur bewahrt er seine kleine Feuerzeugsammlung auf. In der
       Küche, an die Wand über dem Herd, hat er, freihändig mit Pinsel, in
       tadelloser Druckschrift ein Kochrezept geschrieben. Man sieht, er hat
       Schriftmalerei gelernt. Wir nehmen Platz am Wohnzimmertisch, Mario schenkt
       Kaffee ein und erzählt. Er spricht Berliner Dialekt:
       
       "Mein Vater war Gaststättenleiter im Ratskeller, meine Mutter war bei der
       Post. Und ich wollte Maler, Tapezierer und Dekorateur werden, eigentlich
       deshalb, weil auch mein Großvater ein Maler- und Tapezierergeschäft hatte.
       So mit 16, 17, wo ich gelernt habe, das war dann auch die Zeit, in der ich
       viel angeeckt bin damals. Lange Haare waren angesagt. Wir wurden auch
       geprägt durch die 68er Bewegung im Westen. War schon so! Mit acht Jahren
       habe ich das im Westfernsehen gesehen, Ho Chi Minh, Vietnamdemonstration,
       Dutschke-Attentat und alles, später dann die RAF. Im Westfernsehen hieß die
       übrigens Baader-Meinhof-Bande, in unseren Nachrichten immer nur
       Baader-Meinhof-Gruppe. Na ja, und die ganzen Jahre über haben wir natürlich
       die Musik auf den Westsendern im Radio gehört.
       
       Wir, das war damals eine kleine Gruppe hier in der Stadt, die nicht so
       mitgemacht hat, wie man sollte. Da ist man natürlich aufgefallen,
       unangenehm aufgefallen, und entsprechend wurde dann auf uns reagiert. Mich
       hat man erst mal weg geschickt. Ich hab dann außerhalb lernen müssen, in
       Jüterbog, in einer Berufsfachschule. Wie ein Internat war das, mit
       geregelten Zeiten für Schularbeit, Abendbrot und Ausgang. Ich war ganz gut,
       sogar in Staatsbürgerkunde, aber ich habe natürlich meine Kritik geäußert
       am System. Und die Folgen hat man mich dann auch spüren lassen.
       
       Der Beruf hat mir eigentlich Spaß gemacht, aber es war dann so, dass ich in
       eine Brigade gekommen bin im neuen Elektro-Stahlwerk - das hatten
       ausländische Firmen aufgebaut, heute ist es in italienischer Hand und
       gehört dem Riva-Konzern -, und dort hat man mich in den Keller gesteckt.
       Ein halbes Jahr habe ich keine Sonne mehr gesehen und von morgens bis
       abends nur Rohre grau angestrichen, bis ich eine Allergie gekriegt habe.
       Eine Farbenallergie, durch die ganzen Ausdünstungen und Gifte. Ich bekam
       vom Arzt ein Attest, dass ich nichts mehr mit Ölfarben zu tun haben darf,
       dass ich nur noch mit natürlichen Stoffen arbeiten soll, mit Leimfarben,
       also mit Kreide, Latex usw. Ich habe dann da gekündigt.
       
       Mach dies mal, mach das mal 
       
       In der DDR war es so: Wer ein viertel Jahr ohne Arbeit war, wurde schon als
       kriminell gefährdet registriert, denn Arbeit gab es ja genug. Sie hatten
       mich ja sowieso schon auf dem Kieker, deswegen war es gut, dass mein Bruder
       im Kraftwerk gearbeitet hat und dort auch in der Gewerkschaftsleitung war.
       Durch ihn habe ich dann ganz schnell eine neue Arbeit gekriegt. Das war ein
       Kohlekraftwerk, hier in Brandenburg. Da habe ich dann zwölf Jahre lang
       gearbeitet, aber nicht mehr direkt als Maler. Zuerst als Kranfahrer - ich
       habe den Kranfahrer-Führerschein gemacht -, aber ich hätte mich lieber zum
       Kesselwärter qualifiziert. Man ließ mich aber nicht, weil ich als politisch
       unzuverlässig eingestuft wurde. Ich war dann aber doch mit am Kessel und
       habe ganz gut verdient. Ab und zu musste ich Schilder malen. Es war immer
       mal was zu beschriften, diese Elektrokästen zum Beispiel. Es hieß immer:
       Mach dies mal, mach das mal!
       
       Ach so, und zwischendurch haben sie mich ja noch zur Nationalen Volksarmee
       eingezogen für eineinhalb Jahre! Wollt ihr das auch hören? Gut, also ich
       hatte einen Antrag gestellt auf Dienst ohne Waffe, man musste dann als
       Bausoldat schuften, aber ich wurde nicht berücksichtigt. Im Gegenteil!
       Nachdem ich dem Einberufungsbefehl nicht Folge geleistet hatte, haben sie
       mich erst mal in den Armeeknast nach Hohenstücken, dann nach Oranienburg
       gesteckt. Und nach der Grundausbildung haben sie mich in eine besonders
       brutale Einheit getan. Das war 84/85.
       
       Ich wurde mit dem Jeep rausgefahren in den Wald, da standen Uniformierte
       mit geschorener Glatze - was ja sonst bei der NVA verboten war, weil, so
       sahen die Russen aus! Die deutschen Soldaten hatten Kultur, einen
       ordentlichen Haarschnitt über den Ohren. Von den 20 Mann mit Unteroffizier
       wurde grade Überfall und Hinterhalt trainiert, also wie man einem anderen
       von hinten in die Kniekehlen springt, im Fallen ihm die Augen ausdrückt,
       oder mit dem Messer zusticht, damit der Mann beim Abrollen keinen Mucks
       mehr macht, im Ernstfall. Lautloses Töten heißt das.
       
       Ich habe mich gemeldet und gesagt: Genosse Unteroffizier, ich bin hier
       falsch! Später musste ich zum Offizier und der hat gesagt: Sie sind aus
       Brandenburg? Hier sind Sie in Beelitz, beide Orte fangen mit B an. Sie
       bekommen jetzt zwei Minuten Zeit, um sich zu entscheiden, ob Sie hier
       mitmachen. Ansonsten fängt der nächste Ort, an den wir sie bringen, auch
       mit B an!
       
       Und dann bin ich wieder ins Kraftwerk 
       
       Es war klar, was er meinte. In den Knast nach Bautzen, das wollte keiner.
       Also habe ich mich gefügt und das durchgezogen, diese Ausbildung bei den
       Fernaufklärern. Es war hart und brutal, was da abging. Und es war streng
       geheim! Das mussten wir extra unterschreiben, dass wir niemals darüber
       sprechen. Unser Einsatzgebiet wäre in erster Linie Westberlin gewesen, im
       Ernstfall sollten wir in 5er-Gruppen Westberlin unterwandern, Leute
       ausschalten und wichtige Stellen wie Rundfunk, Post, Bahnhöfe usw. unter
       unsere Kontrolle bringe und übernehmen. Na ja, letzten Endes kams dann
       umgekehrt", sagt er lachend. "Und danach bin ich wieder ins Kraftwerk, ich
       hatte eigentlich einen Ausreiseantrag stellen wollen, aber dann lernte ich
       eine Frau kennen und bald schon kam ein Kind. So ist das?"
       
       Mario schlägt vor, eine Pause zu machen: "Ich dachte, wir essen was
       zusammen, Königsberger Klopse mit Kapernsoße, ja? Habe ich selber gemacht!"
       
       Während des Essens, das sehr wohlschmeckend ist, erzählt er uns ein wenig
       über die Lage in der Stadt Brandenburg: "Ja, die Stadt ist heute
       hergerichtet. Sie hat sich sehr verändert, in jeder Beziehung. Es sind
       viele Leute und auch viele meiner Freunde weggezogen, nach Berlin oder
       sonst wohin. Und das geht weiter so. Zu DDR-Zeiten lebten hier 100.000
       Einwohner, jetzt sind es 30.000 weniger. Wir haben heute mehr als 15
       Prozent Arbeitslose, glaub ich. Offiziell! Da werden aber die ganzen Leute,
       die in Maßnahmen gesteckt werden, die 1-Euro-Jobber usw., gar nicht
       mitgezählt. In Wirklichkeit sind das wesentlich mehr, die ohne eine
       richtige Erwerbsarbeit sind. Wesentlich! Es ist einfach so: Alles, worauf
       wir mal gehofft hatten, woran wir mal geglaubt haben nach der Wende, ist
       aufgelöst. In Lügen aufgelöst, in Luft! Es wurde alles zugemacht, ohne
       Ersatz zu schaffen.
       
       Hier gab es Schwerindustrie, Stahl und Stahlwalzwerk. Davon gab`s zwei, das
       neue Elektrostahlwerk und das alte Stahlwerk mit den Siemens-Martin-Öfen,
       das ihr gesehen habt, also den Rest davon, mit nur noch einem Ofen, das
       Industriemuseum. Heute ist auf dem ehemaligen Werksgelände so ein bisschen
       Gewerbe angesiedelt, aber da gibts kaum Arbeitsplätze, im Vergleich zu
       früher kann man das vergessen. In den Werken waren ja allein schon mehr als
       10.000 Leute beschäftigt. Das Elektrostahlwerk - wo ich gearbeitet habe als
       Maler - das arbeitet noch, aber mit viel weniger Leuten. Es wurde 1980 in
       Betrieb genommen und nach der Wende 91/92 verkauft an die Italiener, an den
       Riva-Konzern.
       
       Dann gabs noch das Getriebewerk, die Elisabeth-Hütte, es gab textile
       Verpackung und was weiß ich, Brandenburger Kinderbekleidung - ein
       Riesenbetrieb. Sie mussten sogar Arbeitskräfte aus Kuba und Vietnam holen,
       Frauen und Mädchen, die hier genäht haben. Alwo gabs noch, Wolle-und
       Spinnereiwerke, die Kammgarnspinnerei, eine Keksfabrik und andere, also
       richtig voll mit Betrieben waren wir hier. Und heute ist das eine Stadt,
       die keine Arbeit mehr hat! Nur noch ein bisschen Dienstleistungsgewerbe!
       Mittlerweile habe ich den Eindruck, dass der größte Arbeitgeber der Stadt
       das Arbeitsamt selber ist." Er lacht.
       
       "Na ja, und dann war hier Garnisonstadt, fast immer schon. Aber die Stadt
       war mal reich. Hier wurden ja in den 20er-Jahren die meisten Kinderwagen
       Fahrräder und Autos von ganz Deutschland gebaut. Bei Brennabor, der
       Fahrrad- und Autofabrik der Gebrüder Reichstein. Im Krieg wurden dann dort
       Rüstungsgüter produziert. Nach dem Krieg haben die Russen die Reste
       demontiert und dann war der VEB Brandenburger Traktorenwerke bzw. das
       Getriebewerk drin, bis zur Wende. Später wurde saniert und ausgebaut, heute
       sind da Künstlerateliers und eine Kunsthalle.
       
       So, jetzt komme ich wieder zum Kraftwerk, wo ich zwölf Jahre gearbeitet
       habe, bis 1991. Und da ging es dann auch schon los mit dem
       Arbeitsplatzabbau. Anfangs, gleich nach der Wende, haben wir im Kraftwerk
       noch Unterschriften gesammelt für die Zulassung des Neuen Forums. Das war
       ziemlich schwierig. Plötzlich waren da aber überall lauter DVU-Aufkleber.
       Ich hab die natürlich gleich abgemacht. Und bald ist dann auch das
       Betriebsklima massiv schlechter geworden. Innerhalb von zwei Jahren. Es
       wurde das Konkurrenzverhalten der Beschäftigten untereinander dermaßen
       aggressiv, nur, damit man nicht der Erste ist, dem gekündigt wird. Mit
       Mobbing und Denunziationen, das war unglaublich. Dann wurde mein
       Schichtleiter in den Vorruhestand geschickt und ich sollte den Kessel
       übernehmen. Das, was ich immer wollte. Aber da war ja nichts mehr
       investiert worden und dementsprechend gefährlich wurde die Anlage. Also ich
       hatte eine richtige Angst davor, weil man wirklich mit hohen Drücken
       gearbeitet hat. Ich bin dann gegangen.
       
       Alle waren voller Hoffnung 
       
       Damals bestand gerade die Möglichkeit, in den Fontane-Club einzusteigen -
       das war unser schönes Kulturhaus, direkt am Wasser gelegen. Heute ist es
       privatisiert. Wir waren ja auch sehr engagiert für Jazz, auch schon zur
       DDR-Zeit, und haben den Club dann politisch umgedreht. Wir waren die erste
       Szene-Kneipe der Stadt, ich war fest angestellt als gastronomischer Leiter.
       Es gab Fördermittel, es gab Musik, Lesungen, ein Kinosaal ist dort, also
       querbeet. Das war die beste Zeit damals, die kreativste. Alle waren voller
       Hoffnungen und Ideen. Und dann gab es natürlich politisch Ärger. Unsere
       Fördermittel wurden gestrichen und unsere kleine Zeitung konnte nicht mehr
       erscheinen. Damit war das erst mal vorbei.
       
       Ich habe dann in verschiedenen Kultureinrichtungen gearbeitet.
       Zwischendurch war ich immer kurz arbeitslos. Erst kam ein selbst
       verwaltetes Jugendprojekt im Haus der Offiziere der ehemaligen sowjetischen
       Streitkräfte, dann habe ich Projektarbeit gemacht für den Kultur- und
       Gewerbehof Brennabor. Das lief über Fördermittel der EU und ich war fest
       angestellt, bis es auslief.
       
       Um 2000 habe ich wieder im Fontane-Club angefangen als Tontechniker. Sie
       hatten sich einen neuen Geschäftsführer geholt aus Westberlin, Volker Hugo,
       ein guter Mann mit vielen Verbindungen zu Bands und Künstlern, auch
       international. Und obwohl es sehr gut lief, haben sie ihm nach einem halben
       Jahr den Vertrag nicht verlängert, ohne Begründung. Von heute aus gesehen
       ist klar, das waren alles die Vorbereitungen zur Privatisierung. Wir haben
       vergeblich dagegen angekämpft, das Objekt gehörte ja der Stadt, war eine
       Schenkung in den 20er-Jahren. Sie haben es einfach verscherbelt. Wir haben
       uns beworben um den Betrieb nach der Privatisierung, haben aber den
       Zuschlag als politisch Unliebsame natürlich nicht gekriegt. Wir wollten ja
       was anderes als nur eine schicke Kneipe.
       
       Damit waren wir alle arbeitslos, und die 60 bis 70 Leute, die da
       verkehrten, die hatten nun auch keinen Ort mehr, wo sie sich treffen
       konnten oder wollten. Ich habe dann eine Umschulung gemacht zum
       Veranstaltungskaufmann übers Arbeitsamt und habe mich beworben für die
       Theater-Klause, zusammen mit einer Kollegin aus der Gastronomie.
       
       Leider haben wir auch hier den Zuschlag nicht gekriegt, obwohl man mir ja
       vom Theater her absolut Hoffnungen gemacht hatte. Na, ich war schon sehr
       enttäuscht. Dann hat der Intendant gesagt: Pass auf, du kriegst den Job als
       Betriebshandwerker. Der es jetzt macht, geht dann und dann in Rente. Gut,
       habe ich also mit befristetem Arbeitsvertrag so lange gejobbt im Theater,
       habe auch die Klause quasi restauriert, so wie sie ursprünglich mal war,
       Bar mit Goldrand und alles. Immer mit dieser Hoffnung, dass ich eine
       Festanstellung kriege.
       
       Dann ging der endlich in Rente, aber ich habe den Job wieder nicht
       gekriegt, und zwar deshalb, weil ich keinen Grundkurs in Elektrotechnik
       hatte. Hat mir keiner gesagt, dass ich den brauche. Sonst hätte ich den
       nämlich gemacht, in einem Vierteljahr während der Wartezeit!
       
       So, und nun hänge ich jetzt hier fest, bin arbeitslos und kriege keinen Fuß
       mehr in die Tür. Nirgends. Wenn ich das schon höre, von diesen Politikern
       da, die Arbeitslosen sind faul, dann packt mich die Wut. Es gibt ja nicht
       zu viele Faule, es gibt zu wenig Arbeitsplätze! Sie nehmen uns die sozialen
       Errungenschaften Stück für Stück weg, die unsere Vorfahren erkämpft haben,
       und wir Arbeitslose müssen uns auch noch als Drückeberger beleidigen
       lassen. Ja wer hat denn die ganzen Werte geschaffen?! Die doch nicht! Na
       gut, es hat ja keinen Sinn. Mir bleibt jetzt nur noch der Schritt in die
       Selbstständigkeit. Aber da geht auch nichts voran.
       
       Drei Tage zu spät 
       
       Das alles hat mir total die Kraft genommen. Gut, ich muss hier nicht
       verhungern, klar, aber dafür darf ich mich schikanieren lassen vom
       Arbeitsamt. Gleich beim ersten Arbeitslosengeld haben sie mir 150 Euro
       abgezogen, als Sanktion. Man muss sich drei Monate bevor der Arbeitsvertrag
       ausläuft bereits arbeitslos melden - versteht ja kein Mensch. Und ich bin
       aus Versehen drei Tage zu spät hingegangen. Das wird hart bestraft. Und
       das, während andere straflos Steuern hinterziehen dürfen, in Milliardenhöhe
       auf ihren Auslandskonten. Hauptsache sie melden es, sobald sie erwischt
       werden. Das erkläre mal einem Normalbürger!
       
       Das nächste Mal habe ich selbst einen Termin gemacht mit meiner
       Arbeitsberaterin. Es ging um mein Weiterkommen, damit ich mich bald
       selbstständig machen kann als Raumausstatter. Das muss ja alles
       fristgerecht beantragt werden und dauert ewig. Der Termin sollte neun
       Wochen später sein. Ich habe gedacht, ich werde da noch mal benachrichtigt,
       dem war aber nicht so. Ich habe ihn versäumt. Um einen Tag! Wieder 150 Euro
       Abzug!
       
       Zum neu anberaumten Termin war dann aber meine Sachbearbeiterin nicht da.
       Darüber wurde ich natürlich nicht informiert! Ich saß da, habe gewartet,
       war sauer, bin kurz laut geworden und habe verlangt, jemand von der
       Teamleitung zu sprechen. Nach insgesamt vier Stunden Wartezeit hatte ich
       den Termin. Ich durfte vorsprechen.
       
       Zwei Teamleiter vom Arbeitsamt in Armani-Anzügen haben mich von oben herab
       abgefertigt, wollten keine Einzelfallprüfung akzeptieren und sagten: Es
       bleibt bei der Sanktion. 150 Euro! Ich habe gesagt: Also Sie brauchen sich
       nicht zu wundern über den Unmut in der Bevölkerung. Es kann passieren, dass
       eines Tages Leute draußen auf der Straße stehen, mit Knüppeln in der Hand,
       die ihrer Wut freien Lauf lassen. Dann möchte ich nicht in Ihrer Haut
       strecken! Danach bin ich raus. Mir wurde dann vom Arbeitsamt schriftlich
       mitgeteilt, dass ich ein halbes Jahr Hausverbot habe. Sie haben behauptet,
       ich hätte sie bedroht.
       
       Und 150 Euro, das ist für so einen Teamleiter vielleicht kein Geld, aber
       für mich ist das absolut einschneidend, denn ich komme überhaupt nicht mehr
       rum und muss mir was borgen. Ich kann euch das mal vorrechnen: Ich bekommen
       vom Amt als Regelsatz 359 Euro monatlich zum Lebensunterhalt, davon muss
       man auch die Stromkosten zahlen und Warmwasser. 330 Euro bekommt man für
       Heizung und Unterkunft - das reicht aber nie, schon gar nicht nach einem so
       kalten Winter, deshalb muss man sich das auch vom Lebensunterhalt abknapsen
       - und dann kriege ich noch 87 Euro, befristeter Zuschlag nach § 24 SGB II,
       weil ich ja gearbeitet habe vorher.
       
       Meine Wohnung hier, die ich mir damals genommen habe, weil ich ja sicher
       war, dass ich im Theater fest angestellt werde, die hat 10 Quadratmeter
       mehr als erlaubt. Eine angemessene Wohnung darf maximal 50 Quadratmeter
       groß sein.
       
       Die Mehrkosten muss ich selber tragen, die gehen auch vom Lebensunterhalt
       ab. Abziehen muss ich auch noch monatlich 75 Euro Schuldentilgung für einen
       Kredit über 2.000 Euro, den ich damals für Renovierung und Einrichtung der
       Wohnung aufgenommen habe. Da werde ich noch ein Jahr dran sitzen. Und geht
       mal der Kühlschrank kaputt oder der Computer oder was, dann ist das eine
       Katastrophe, da ist kein Geld für da. Ich hatte zum Beispiel eine
       Wurzelbehandlung am Backenzahn. 250 Euro! Das übernimmt die Kasse nicht,
       auch nicht das Amt. Das musst du selber zahlen. Übernommen wird nur noch
       Ziehenlassen! Vorne, die Schneidezähne, damit es keine Probleme gibt bei
       der Arbeitssuche. Oder du musst die Schmerzen aushalten und warten, ob sie
       von selber weggehen.
       
       Was da normalerweise vom Regelsatz zum Leben übrig bleibt, das könnt ihr
       euch leicht ausrechnen. Meist so gut wie nichts!
       
       Zum Glück kann ich auch mal bei der Mutter mitessen. Die lebt alleine, mein
       Vater ist schon gestorben. Sie hat Leukämie und hatte auch noch einen
       Oberschenkelhalsbruch, nun kann sie kaum gehen. Ich bin täglich dort, helfe
       ihr, mach bisschen sauber, kaufe ein, damit sie nicht ins Heim muss. Ich
       gehe auch mit zu den Arztbesuchen, sonst fällt sie vielleicht wieder. Also
       wenn ich meine Freundin und meine Freunde nicht hätte und meine Musik, mir
       würde die Decke auf den Kopf fallen.
       
       Ich habe Fernsehen, Radio, Internet, aber es ist so, dass alles in den
       eigenen vier Wänden stattfindet. Anfang der 90er-Jahre gab es in
       Brandenburg noch einen Kulturbeitrag für Arbeitslose, den hat die SPD
       abgeschafft, wie so vieles hier. Jedenfalls, Kneipe, Kino, Café, Theater,
       Schwimmbad sind nicht drin bei mir, Zeitung und Bücher auch nicht. Auto
       habe ich sowieso keins, auch keine Monatskarte, ich mache alle Wege mit dem
       Fahrrad, oder wie jetzt, bei Schnee, gehe ich zu Fuß. Und, das ist doch
       komisch, ich habe wieder keine Reisefreiheit." Er lacht. "Nicht ohne Kohle!
       Außerdem muss ich jederzeit dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.
       
       Also ich sehe schwarz, auch wie sie das ausnutzen mit der Wirtschaftskrise.
       Man zwingt die Leute in sinnlose Beschäftigungsgesellschaften - das habe
       ich auch hinter mir - in 1-Euro-Jobs und höhlt einfach den ersten
       Arbeitsmarkt aus. Mindestlöhne wollen sie nicht und die Firmen werden doch
       geradezu eingeladen zum Betrug mit Kurzarbeitergeld und Qualifizierung.
       Oder andere Leute, die arbeiten 40 Stunden voll für einen Hungerlohn und
       müssen unterstützt werden. Dem Absinken nach unten sind alle Türen und Tore
       geöffnet worden. Hier geht doch alles zu Ende! So ähnlich war es auch
       damals 89 beim Untergang der DDR."
       
       Eben rief Mario an: "Ich war heute bei der Fallmanagerin, die krank war,
       und sie war überraschend kooperativ. Das hat mir wieder etwas Hoffnung
       gemacht."
       
       29 Mar 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriele Goettle
       
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