# taz.de -- Wer ist Wikileaks?: Die Rache der Nerds
       
       > Wikileaks sorgt mit seinen Veröffentlichungen für Furore - und
       > revolutioniert Medien und Demokratie. Wer steckt dahinter und wer
       > kontrolliert die neuen Kontrolleure?
       
 (IMG) Bild: Ein von Wikileaks veröffentlichtes Video zeigt, wie US-Soldaten wahllos Menschen abschießen. Einer davon war der Fotograf Namir Noor-Eldeen.
       
       Dreihundert Blogger, Netzaktivisten und Journalisten warten. Auf den Mann,
       der die Art, wie Öffentlichkeit im Internetzeitalter funktioniert,
       revolutioniert wie kein anderer: Der Australier Julian Assange, führender
       Kopf hinter dem weltweiten Whistleblower-Netzwerk Wikileaks.
       
       Doch Assange kommt nicht. Er hat seinen Auftritt auf der Bloggerkonferenz
       in Berlin kurzfristig abgesagt. Das passt zu Assanges Image eines Phantoms,
       das heute hier und morgen dort ist: Island, USA, Kenia. Und von dem kaum
       mehr bekannt ist, als dass er Ende 30 ist, Physik studiert hat und in
       seiner Jugend Teil der Melbourner Hackerszene war. Als das
       Technologie-Magazin Wired mit ihm in London eines der seltenen persönlichen
       Interviews führte, die er bisher gab, stand Assange mittendrin auf und
       sprang zum Zug.
       
       Die wenigen Fotos, die es von Assange gibt, zeigen ihn als einen
       schlaksigen Kerl mit halblangen, weißblonden Haaren und konzentriertem
       Blick. Er ist der Mann, der maßgeblich die Geheimnisverräter-Plattform
       Wikileaks aufgebaut hat, die seit Ostermontag weltweit bekannt ist. Er ist
       der Mann, der Staaten und Unternehmen ebenso das Fürchten lehrt wie
       etablierten Medienhäusern.
       
       Schon vor der Veröffentlichung des Bagdadvideos, das die Erschießung von
       Zivilisten am 12. Juli 2007 zeigt, hatte Wikileaks weit mehr als eine
       Million Dateien öffentlich gemacht. Doch erst das Video von der
       Menschenjagd aus einem US-Helikopter hat die Macht von Wikileaks endgültig
       verdeutlicht. Zweieinhalb Jahre waren die klassischen Medien nicht in der
       Lage, das Video zu besorgen und öffentlich zu machen. Nicht der BBC hat es
       geschafft, nicht die New York Times, nicht der Spiegel - sondern eine
       verrätselte Organisation, die nach eigenen Angaben von chinesischen
       Dissidenten, Journalisten, Mathematikern und Technikern aus den USA,
       Taiwan, Europa, Australien und Südafrika gegründet wurde. Ein selbst
       ernannter "Geheimdienst für die Menschen".
       
       Doch je mehr die Organisation enthüllt, umso drängender wird die Frage: Wer
       steckt hinter der Gruppe selbst? Und wer kontrolliert die neuen
       Kontrolleure?
       
       Den Applaus für die Veröffentlichung des Bagdadvideos holte sich vergangene
       Woche in Berlin der Deutsche Daniel Schmitt ab, der so etwas wie der
       Sprecher von Wikileaks ist. Minutenlang klatschten die Vertreter der
       Netzcommunity, nachdem Schmitt Wikileaks selbstbewusst als "aggressivste
       Presseagentur der Welt" präsentiert hatte. "Helft uns, Geschichte zu
       machen", schloss Schmitt seinen Vortrag. "Wake up, join the show."
       
       Auch Schmitt zieht es vor, nur wenig über sich selbst preiszugeben. Sein
       Alter verrät er genauso wenig wie seinen echten Nachnamen. Bevor er vor
       einem Jahr Vollzeitaktivist bei Wikileaks wurde, arbeitete er in der
       IT-Security-Branche. Ein Interview mit der taz vor 10 Tagen fand in einer
       schlecht besuchten Imbissstube statt. Schmitt erschien mit schwarzem
       Pullover, Cargohose und Doc Martens. Eine Stunde nahm er sich Zeit und
       beantwortete konzentriert und freundlich Fragen über Wikileaks und die
       Verschlüsselungstechnologie. "Wir sind idealistisch ohne Ende", sagte er.
       Doch wer außer ihm und Assange arbeitet bei Wikileaks mit? Geheim. Wo
       stehen die Server? Irgendwo in Schweden, Belgien, den USA und einer
       unklaren Zahl an weiteren Ländern.
       
       Genauer werden die Wikileaks-Leute nicht. Und genau das ist der
       unauflösbare Widerspruch: Wikileaks will radikale Öffentlichkeit - und
       bleibt selbst im Schatten. Trotzdem ist das Projekt das momentan
       spannendste, das das Internet zu bieten hat. Sergei Brinn und Larry Page
       haben mit Google revolutioniert, wie Wissen erschlossen wird. Mark
       Zuckerberg hat mit Facebook revolutioniert, wie Freundschaft und
       Kommunikation stattfindet. Ex-Hacker Julian Assange und seine Mitstreiter
       haben sich vorgenommen, die Regeln von Öffentlichkeit, Medien und
       Demokratie zu revolutionieren.
       
       Es ist ein bisschen wie in dem amerikanischen 80er-Jahre-Film "Revenge of
       the Nerds", wo sich Computerfreaks an den etablierten College-Boys rächen.
       Mit Wikileaks knöpfen sich die Nerds nun die ganze Welt vor.
       
       Erst vor etwas mehr als drei Jahren wurde die Plattform gegründet. Und doch
       sind bereits beeindruckende Dokumente durch sie öffentlich geworden,
       darunter Unterlagen zur Bankenkrise in Island, das Gefangenlager in
       Guantánamo und das Tanklaster-Bombardement von Kundus. "Wikileaks hat in
       kurzer Zeit wahrscheinlich mehr Scoops produziert als die Washington Post
       in den letzten 30 Jahren", schreibt die Zeitung The National aus Abu Dhabi.
       
       Und doch haben die etablierten Medien Wikileaks lange ignoriert, vor allem
       in Deutschland. Kaum jemand hat sich für die Schätze auf der Seite
       interessiert. Und wurden die Dokumente doch mal aufgegriffen, hieß es oft:
       "Im Internet sind Dokumente aufgetaucht …" Im Internet. Wikileaks wurde
       noch nicht mal erwähnt. Das hat sich mit dem Bagdadvideo schlagartig
       geändert: 4,5 Millionen Menschen haben allein in den ersten 72 Stunden bei
       YouTube das Video "Collateral Murder" gesehen. Es war der endgültige
       Durchbruch.
       
       Auch Hans Leyendecker, einer der bekanntesten investigativen Journalisten
       in Deutschland, hat Wikileaks lange kritisch beäugt. Das Bagdadvideo hat
       seine Einschätzung verändert. Kein Text der Welt könne den Irrsinn des
       Irakkrieges besser beschreiben als dieses Dokument. "Das große Räsonieren,
       für was man eine solche Seite überhaupt braucht, erscheint da nur noch
       kleinkariert", sagt der SZ-Journalist.
       
       Leyendeckers Pendant in Großbritannien, David Leigh, hat Wikileaks vor zwei
       Jahren noch eine "obskure Gruppe von Träumern" genannt. Heute nennt er sie
       "eine ziemlich erfolgreiche Gruppe von Träumern". Er sieht in Wikileaks nun
       so etwas wie Verbündete im Kampf um die Wahrheit.
       
       Leighs Zeitung, dem Guardian, wurde im vergangenen Jahr gerichtlich
       untersagt, über einen Bericht zu schreiben, der einen Giftmüllskandal des
       Ölmultis Trafigura in der Elfenbeinküste beschrieb. Auf Wikileaks konnte
       der Bericht erscheinen - und kein Gericht der Welt konnte es verhindern.
       
       Ein radikales Projekt 
       
       Wikileaks ist ein radikales Projekt. Das Ziel ist völlige Transparenz. Die
       Privatsphäre und die Sicherheitsinteressen einzelner Staaten sind
       nachrangig. Selbst privater Mailverkehr kann öffentlich werden. Doch genau
       dieser Kampf für radikale Transparenz macht es Kritikern leicht, die
       Geheimniskrämerei von Wikileaks anzuprangern. So kritisiert Thomas Leif,
       Vorsitzender der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche, das
       "Transparenzvakuum" von Wikileaks und dessen Machern. "Ihre
       Anonymisierungsneurose kostet sie viel Glaubwürdigkeit."
       
       So verständlich das Interesse ist, sich selbst und vor allem die Quellen zu
       schützen: Man würde doch gerne erfahren, wer alles an der Plattform
       beteiligt ist, die die Geheimnisse der Welt lüftet - und welche Interessen
       sie womöglich verfolgen. Dasselbe gilt für die Mechanismen, nach denen
       Wikileaks Dokumente freigibt. Einerseits sagt Wikileaks, sobald die
       Echtheit eines Dokuments feststehe, werde es veröffentlicht, ohne Wenn und
       Aber. Andererseits hat Wikileaks-Gründer Julian Assange einmal in einem
       Interview gesagt: "Ich treffe die letzte Entscheidung, ob das Dokument echt
       ist."
       
       Konsequent zu Ende gedacht müsste irgendwann auf Wikileaks ein Dokument
       auftauchen, das die Namen der angeblich nur fünf Hauptamtlichen und um die
       1.000 freien Mitarbeiter offenlegt. Es wäre der endgültige Beweis, dass
       Wikileaks funktioniert - und gleichzeitig womöglich das Ende des Projekts.
       
       19 Apr 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Wolf Schmidt
       
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