# taz.de -- Seitenblicke auf einen Exzentriker: Leben zwischen den Stühlen
       
       > Gespräche mit Krähen, Leben zwischen Eiben: In Berlin-Dahlem lebt der
       > Exzentriker Juergen Jonas. Im Freien zwischen Villen, ohne Konto. Unsere
       > Autorin hat ihn dort besucht.
       
 (IMG) Bild: In Berlin Dahlem, Leben zwischen Eiben: Juergen Jonas.
       
       Abwärts senkt der Weg sich, von düsteren Eiben gesäumet, führt er durch
       Schweigen stumm zu den unterirdischen Sitzen. Ovid
       
       Dahlem ist ein ruhiges und gediegenes Villenviertel im Südwesten Berlins.
       1910 entstanden, ist es heute mit seinen Museen, Archiven,
       Forschungsinstituten und der Freien Universität eine immer noch beschaulich
       wirkende Mischung aus Villen- und Wissenschaftskolonie. Mitten in dieser
       gutbürgerlichen Umgebung, direkt an der Königin-Luise-Straße, hat sich ein
       Mann niedergelassen. Aber nicht in einer Villa oder einer Wohnung, sondern
       draußen im Freien. Er lebt unter einem alten blauen Sonnenschirm, zwischen
       zwei übermannshohen weiblichen Eiben, in einer winzigen öffentlichen
       Grünanlage. In Indien wäre er ein heiliger Mann, ein Sadhu. Hier ist er nur
       ein "Schandfleck".
       
       Auf den ersten Blick kaum zu sehen, sitzt er meist im Schneidersitz auf dem
       blanken Boden, raucht, werkelt oder liest. Er nimmt weit weniger Platz ein
       als die Parkfläche eines Pkws.
       
       Vis-à-vis befindet sich die katholische St.Bernhard-Kirche aus den
       30er-Jahren, mit wuchtigem Backsteinturm, grünem Kupferdach und lauten,
       scheppernden Glocken. Daneben liegt ein leer stehendes pompöses
       Postgebäude, das vor Kurzem, nach 92 Jahren Dienst am Bürger, kommentarlos
       seine Pforten schloss. Ein paar Schritte entfernt residiert eine Botschaft.
       Direkt in Sichtweite neben der Grünanlage steht der umfangreiche gläserne
       Kubus des Campus Hotels. Das First-Class-Hotel ist unlängst erst auf einem
       verwilderten Grundstück aus dem Boden gewachsen und hat nichts mit der Uni
       zu tun. Es bedient lediglich den Kon-gress-, Seminar- und Tagungsmarkt in
       Berlin. Im Internet präsentiert sich die Hotelkette mit dem Motto: "Es sind
       die Begegnungen mit den Menschen, die das Leben lebenswert machen."
       
       An einem kühlen Samstagmorgen im April 2010 beschließe ich, den obdachlosen
       Mann aufzusuchen und ihn zu fragen, weshalb er im Gebüsch lebt. Ich trete
       so diskret wie möglich näher. Er sitzt auf dem Boden und liest. Mich für
       die Störung entschuldigend, stelle ich mich vor und formuliere kurz mein
       Anliegen. Unwirsch blickt er mich mit klaren blauen Augen an und sagt
       höflich auf Hochdeutsch: "Gespräche interessieren mich nicht, ich
       interessiere mich nicht für Obdachlose - und auch nicht für Leute mit
       Obdach."
       
       Ratlos biete ich ihm etwas Geld für ein Gespräch. Er mustert mich und sagt
       höhnisch: "Geld interessiert mich auch nicht!" Dieser Satz bringt mich zum
       Lachen und begeistert mich so, dass sich daraus eine Unterhaltung ergibt.
       Es dauert eine Weile, bis er dann doch seufzend zustimmt.
       
       Angesichts des beginnenden Nieselregens bitte ich ihn zum Gespräch in
       unseren Bus, der direkt neben seinem Platz parkt. Ein großer Rottweiler
       hinter dem Zaun des Eckgrundstücks bellt halbherzig, als wir einsteigen.
       "Artos ist ein Hund, den ich schon seit vielen Jahren kenne, im Guten wie
       im Bösen", sagt unser Gast, "er bellt immer. Aus Pflichtbewusstsein. Er ist
       nachts im Haus, aber wenn irgendwas ist, bellt er laut und beschützt mich
       so eigentlich mit."
       
       Elisabeth holt vom Chinesen etwas Essen nebst Getränken, und damit setzen
       wir uns nieder. Das schützende Dach unseres Autos erscheint mir so angenehm
       wie nie zuvor. "Sie können mich Juergen Jonas nennen, Jonas, der im Bauch
       des Walfisches sitzt." Er lacht etwas befangen, die unteren Vorderzähne
       fehlen. Vorsichtig streckt er ein Bein aus: "Probleme mit dem Knie. Bin im
       Winter hingestürzt, bei diesem Glatteis, das wir hatten." Er reibt es
       flüchtig und blickt versonnen auf seine zwei verschiedenen Turnschuhe
       nieder. "Da sollte ich mal einen passenden finden, jeweils. Aber so geht es
       ja auch." Er schweigt ein Weilchen. Ganz allmählich gewöhne ich mich an
       seinen starken Geruch, an seine verschmutzte Kleidung und an die alte
       Strickmütze, die er weit in die Stirn gezogen hat. Er deutet in die Runde
       und sagt: "Ich habe keinen Motor. Für nichts!" Und schweigt ein Weilchen.
       
       "Ich würde gerne mit den Händen essen, wenn Sie nichts dagegen haben?
       Danke, ich habe mir das so angewöhnt, Besteck wird ja nur schmutzig." Er
       isst sehr zierlich mit seinen schmutzigen Fingern und entschuldigt sich
       jedes Mal, wenn ihm etwas auf den Anorak fällt oder sich in den
       Bartstoppeln verfängt. Für die Cola hingegen erbittet er einen Becher, er
       trinkt nicht aus der Flasche. So grotesk es klingen mag, aber die
       Atmosphäre ist sehr kultiviert. Er sagt ruhig: "Das mache ich jetzt schon
       fast den 10. Winter. Bei minus 22 Grad. Hier in dieser Gegend, um die FU
       herum, vorn an der Kirche oder anderswo. Ich habe meine drei Schlafsäcke,
       den arktischen, den grünen englischen und einen anderen englischen, bei dem
       ist aber der Reißverschluss kaputt. Erfrierungen hatte ich eigentlich
       keine, bis auf die Stelle seitlich am Fuß, die ganz schwarz war. Inzwischen
       ist sie wieder hell, und es ist auch wieder Gefühl drin. Aber ich will
       nicht klagen, es sind weltweit so viele Menschen obdachlos, unfreiwillig,
       die sitzen da, ohne Zelt, haben nicht mal ein Radio. Nicht mal einen
       Schlafsack, keine Habseligkeiten, nichts!
       
       1993 z. B. habe ich noch gearbeitet. Im Hotel Interrast in Hamburg auf der
       Reeperbahn, das war so ein Flüchtlingshotel, eine Massenunterkunft für etwa
       800 Asylanten, mit eigenem Sozialamt und Kindergarten. Also, man wird nicht
       von jetzt auf gleich obdachlos. Step by step. So geht das! Und es ist dann
       die Frage: Kannst du das, willst du das? Wie lange wirst du durchhalten,
       oder musst du gar nicht durchhalten? Hast du Talent dazu? Es ist ja nicht
       nur eine Frage der Hygiene und der Unbequemlichkeit, es ist auch ein
       richtiger Kampf. Das Überleben draußen im Freien ist eine Kunst, die man
       erst mal hart erlernen muss. Es ist lebenswichtig, wo man seine Plätze
       sucht. Was und wie viel man trinkt. Ich bin kein Alkoholiker, trinke aber
       gern österreichischen Weißwein. Man muss wissen, wo man sein ,Bedürfnis',
       seine ,Notdurft' verrichtet", er lacht, "wo man Essen findet, was man
       anzieht, wie man sich bei Frost, Schnee, Regen und Sturm schützt, oder vor
       Überfällen.
       
       Ich will hier aber nicht als Obdachloser bezeichnet werden. Die Sprache ist
       ja in vielen Dingen nicht mehr identisch zum Leben, deshalb muss man
       aufpassen. Und zudem habe ich als Obdachloser schlechte Erfahrungen
       gemacht, mit Kirchen und Behörden, mit ihren sogenannten Hilfsangeboten.
       Das interessiert mich nicht. Also ich bin nicht obdachlos, ich bin
       Nichtsesshaft, ohne festen Wohnsitz. Und ich bin auch nicht arm, ich bin
       mittellos …, bin sie los, die Mittel!" Er lacht sehr über diesen
       zugeflogenen Wortwitz. "Und wie gesagt, Geld interessiert mich überhaupt
       nicht. Kein Geld, keine Geldsorgen. Geld ist was, womit der meiste Unsinn
       überhaupt getrieben wird. Arbeit interessiert mich auch nicht. Ich biete
       keine Leistungen und nehme auch keine in Anspruch. Möbel interessieren mich
       nicht - ich lebe hier gut zwischen den Stühlen", er lacht sehr. "Politik,
       also Parteipolitik, Religion, Gesellschaft, Konsum, das alles interessiert
       mich nicht mehr. Ich weiß nicht, ob man das radikal nennen kann,
       konsequent, ja. Ich habe meine Konsequenzen gezogen.
       
       Ja richtig, ganz ohne Geld kann nicht mal ich leben. Ein bisschen davon
       brauche ich, um Blättchen und Tabak zu kaufen und auch mal einen Wein. Aber
       ich bettle grundsätzlich nicht. Fremde Menschen schenken mir was, gar nicht
       mal so selten. Aber für mich ist das Geld an sich nichts wert. Wenn ich
       welches bekomme, gebe ich es gleich wieder aus. Alles andere ist da oder
       nicht. Drüben im Backshop geben sie mir schon mal heißes Wasser in meine
       Thermoskanne, für einen Kaffee. Im Sommer ist weiter hinten ein Wasserhahn
       mit sauberem Trinkwasser, und es gibt bis zum späten Herbst überall in der
       Umgebung Obstbäume, die Leute heben es nicht mal auf. Nussbäume gibt es,
       Brombeeren und wilde Trauben. Nur einmal am Tag brauche ich was zum Essen.
       Das ist eigentlich selten ein Problem. Ich esse Brot, das man nicht mehr
       haben will. Vom Chinesen bekomme ich ab und zu Reis geschenkt, oder ich
       besorge mir was, aus der Ökotonne am Supermarkt vorne. Ich esse die
       abgelaufenen Sachen, und mir ist längst nicht jedes Mal schlecht geworden
       danach."
       
       Er fragt, ob er eine Zigarette rauchen darf, wischt die Hände ab und dreht
       sich mit Tabak aus einem mageren Päckchen eine dünne Zigarette. Ich öffne
       das Fenster. Er inhaliert und sagt: "Ich bin jetzt über fünfzig. 1958
       geboren. In Mannheim. Da war das Schlimmste schon vorbei, da waren die
       Nazis schon wieder alle in Amt und Würden." Er lacht. "Ich bin bei
       Adoptiveltern aufgewachsen. Früher war ich mal in der Kirche, bin aber 86
       ausgetreten. Ich habe an fast alles mal geglaubt. Habe mich auch politisch
       engagiert, und das war genau so ein Reinfall. War auch mal kriminell, habe
       Autos geklaut usw., war im Gefängnis 1989, das will ich gar nicht
       unterschlagen. Ich habe die ganze Palette durchprobiert, eigentlich. Ging
       ins Staatliche Aufbaugymnasium Alzey, das ist bei Worms. Habe die Schule
       dann aber abgebrochen. Andere Dinge waren interessanter damals. Später habe
       ich Interesse an der sogenannten Sozialarbeit bekommen und in Karlsruhe
       angefangen mit einem Praktikum, bei einem Zigeunerprojekt vom
       Stadtjugendausschuss. Das war 79/80. Nebenher habe ich in einer Musikkneipe
       gejobbt und mich sogar hochgearbeitet, bis zum stellvertretenden
       Geschäftsführer." Er lacht.
       
       "Abgeschlossen habe ich meine Ausbildung dann in Paderborn, am
       Edith-von-Stein-Kolleg, bei den Karmeliterinnen - sie war ja Karmeliterin,
       die Edith von Stein, eine konvertierte Jüdin. Philosophin war sie davor,
       war sogar bei Husserl Assistentin. Das ist kaum bekannt. Und 1942 ist sie
       in Auschwitz vergast worden. 1983 jedenfalls habe ich die Prüfung abgelegt
       zum staatlich anerkannten Erzieher. Ich war vorübergehend bei den Grünen in
       Paderborn, sie haben mich sogar auf die Bundesdelegiertenversammlung
       geschickt nach Karlsruhe, wo sie sich ja auch gegründet hatten, 1980. Jeder
       hat da Karriere gemacht. Dazu muss man nichts weiter sagen." Er lacht. "Und
       ich habe in verschiedenen Jobs gearbeitet, auch mal beim Drogeriemarkt
       Schlecker in Alzey. Die haben ja bis heute üble Arbeitsbedingungen. Da
       haben sie mich zweimal entlassen, weil ich einen der ersten Betriebsräte
       gegründet hatte. Sie mussten mich aber wieder einstellen, aufgrund eines
       Urteils vom Arbeitsgericht. Ich war ein rotes Tuch. Dann habe ich aber doch
       lieber die Abfindung genommen. Und zusammen mit dem Geld, das ich
       anschließend als Bademeistergehilfe verdient habe - ich hatte ja den
       DLRG-Schein gemacht -, bekam ich dann genug zusammen, um meine ersten
       beiden großen Europareisen zu machen. Zwei Interrail-Reisen, mit Rucksack,
       Schlafsack und allem. Die erste in die nordischen Länder bis hoch nach
       Lappland, dort lag Schnee. Die zweite war dann die westlich-südliche Tour,
       bis zu den Kykladen/Peloponnes. Und dann waren auch schon die schönen
       Monate vorbei. Ich war aber zwischenzeitlich immer wieder weg, noch mal in
       Griechenland, dann mal in Dänemark, Schweden oder auch viel in England.
       Alles immer mit dem Zug. Ich bin noch nie in meinem Leben mit dem Flugzeug
       geflogen. Möchte ich auch nicht. Momentan, durch den Vulkanausbruch in
       Island, ist ja keinerlei Flugverkehr mehr. Ich schaue gern abends in den
       Himmel, und da ist nichts, was da nicht hingehört.
       
       Ich habe mich früher, ohne jetzt was durcheinanderwirbeln zu wollen, viel
       mit Verschiedenem beschäftigt, auch mit dem Holocaust. Habe in den
       70er-Jahren von Gerhard Schoenberger diese Dokumentation gelesen: ,Der
       gelbe Stern'. Auch Bücher von Alois Prinz, das ist ein Altersgenosse von
       mir, kennen Sie den? Schade! Oder von Klaus Wagenbach, der viel geschrieben
       hat über Kafka.
       
       Den kennen Sie ja. Mit Marx und Engels und dem Kapital habe ich mich auch
       befasst, kann mich noch an ein Buch erinnern von Iring Fetscher darüber.
       Und mit dem Anarchismus habe ich mich natürlich auseinandergesetzt. Habe
       auch viel englische Literatur gelesen, ich kann gut Englisch. Und ich habe
       mich auch etwas mit Religionen beschäftigt, mit Judentum, Christentum,
       Islam. Dann auch mit Buddhismus vor allen Dingen. Die Hauptfrage ist doch
       immer nur: Wie kannst du leben, ohne über Leichen zu gehen?
       
       Ich frage: "Und wie kam es dann zum Absturz?" Er schaut mich entgeistert
       an. "Absturz? Welcher Absturz? Das ist mein Aufstieg!" Wir lachen sehr, er
       am heftigsten. "Ich habe doch etwas erreicht. Ich bin in keinem System mehr
       drin, auch nicht im Geldsystem. Konto habe ich seit Jahren keins. Ich habe
       überall gar nichts mehr. Es sind schon viele Jahre, dass ich gar nichts
       mehr in Anspruch nehme, von Deutschland nicht und nicht von Great Britain,
       wo ich mehrere Jahre, mit Unterbrechungen gelebt habe. Ich habe mich
       entzogen. Habe auch keine Papiere mehr, nur meinen Ersatzausweis von der
       Botschaft in London, aber der ist auch schon ein bisschen drüber. Ein
       biometrischer Pass für 59 Euro ist jetzt in Deutschland vorgeschrieben,
       habe ich gehört. Das ist doch eine Frechheit, Fingerabdrücke sollen
       demnächst auch noch rein. Diese legalisierte Verbrecherbande von Politikern
       erklärt einfach unbescholtene Bürger zu potenziellen Kriminellen, die im
       Voraus erkennungsdienstlich behandelt werden müssen. Da muss sich doch
       jeder verweigern!
       
       Ich mache nicht mit! Ich bin ohne alles. Ich besitze kaum noch was, außer
       ein paar für mich wertvolle Erinnerungsstücke. Und mein kleines englisches
       Radio, das ist mir sehr wichtig. Ein Buch von Klaus Wagenbach, eine
       Schlafsackhülle und ein englisches Amulettchen mit blauen Teilen, haben sie
       mir gestohlen im letzten Sommer. Das vergesse ich nicht so schnell! Und,
       leider, mein Fahrrad macht mir große Sorgen. Der Hinterreifen ist kaputt,
       auch die Speichen und die Gangschaltung. Es gehörte mal früher einer
       Freundin, und aus Anhänglichkeit habe ich es noch behalten, aber fahren
       kann ich damit nicht mehr. Ich vermisse das Fahrradfahren sehr. Also das
       ist das, was ich unbedingt brauche, ein funktionstüchtiges, stabiles
       Fahrrad. Aber sonst? Gut, ich hätte gern auch wieder einen Ball, meinen
       alten hat die BSR einfach mitgenommen.
       
       ## Die Stadtreinigung lauert
       
       Bei denen muss ich übrigens unheimlich aufpassen, die lauern nur darauf,
       dass ich mal nicht an meinem Platz bin, und schon fahren sie meine Sachen
       hier ab. Ich muss buchstäblich auf meinem bisschen Besitz sitzen bleiben.
       Sobald ich weggehe, ist er herrenlos. Für die ist das Müll. Ich bin auch
       Müll. Heute morgen sagte einer von diesen Orangefarbenen: ,Mach doch
       endlich deinen Abgang!' Das kann ich nicht verstehen. Die haben ihre
       Arbeit, ihr Geld und alles und nehmen sich dann noch das Unrecht heraus,
       mir mein Recht auf Leben abzusprechen?! Aufpassen muss ich auch auf
       Ordnungsamt und Polizei. Die haben mich schon öfter verscheucht.* Ich habe
       hier schon über 20 Plätze ausprobiert. Von drüben, vom Insektenzentrum, wo
       sie tausende von Insekten umbringen bei Tierversuchen - für mich sind
       Insekten auch vollwertige Lebewesen -, da haben sie mich vertrieben. Und
       auch vom Friedhof, wo ich mich sehr sicher und wohlgefühlt habe, denn
       nachts wird das Tor zugesperrt.
       
       Der St.-Annen-Kirchhof und Friedhof Dahlem, das ist ja praktisch ein
       gemeinsamer Friedhof. Winter und Sommer war ich dort, über Jahre. Da wurden
       zwar im Winter die WCs geschlossen von den guten Christen - im Sommer sind
       sie offen -, man muss aber zeitig aufstehen, denn frühmorgens kommen schon
       die Totengräber. Ich habe da immer wunderbar geschlafen, neben den Gräbern
       von hervorragenden Leuten." Er lacht herzlich. "Dort liegt auch Rudi
       Dutschke, auf der Nordseite der Kirche. Er hat sogar ein Ehrengrab, es
       kommen oft Leute. Einmal kamen welche von Sat1, die das Grab suchten, sie
       wollten eine Reportage machen. Ich habe sie hin geführt und auch einiges
       erzählt. Manchmal habe ich auch Touristen Auskunft gegeben. Wie so eine Art
       Friedhofsführer." Er lacht. "Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis. Auf der
       Südseite der Kirche liegt der Theologe Helmut Gollwitzer, der Sozialist war
       und ein Freund von Dutschke und Ulrike Meinhof. Auf seinem Grab vertrocknet
       alles schneller. Ossip K. Flechtheim liegt dort, er war Politologe an der
       FU, und auch die Philosophin Margherita von Brentano. Der RAF-Anwalt Claus
       Croissant ist da auch begraben und sehr viele Künstler, besonders
       Bildhauer. Einer, Waldemar Grzimek, hat sogar einen großen Frauenakt in
       Bronze als Grabmal. Ja, ich war sehr gern auf diesem Friedhof.
       
       Kann ich noch eine rauchen? Danke. Hier an der Ecke habe ich abends zwar
       eine eigene Peitschenlampe zum Lesen, dafür ist es aber sehr laut, vom
       Autoverkehr her, und im Sommer ist das Nachtleben hier wie in Brighton. Im
       Biergarten der Luise spielen Blaskapellen, die Leute gehen herum. Ich habe
       ja eine ganz andere Perspektive und Wahrnehmung als irgend so ein
       Autofahrer oder Fußgänger, wenn ich dort unten auf dem Boden sitze. Morgens
       und abends kommen die Studenten vorbei, die höre ich kaum. Was ich absolut
       hasse, sind diese Geräuschattacken mit Schuhen, solche Schlurfattacken.
       Oder auch dieses Geklacker von den hohen Schuhen. Die Jogger, schnaufen oft
       oder keuchen schrecklich, und die mit den Skistöcken, die schaben so laut
       auf dem Boden, dass man sie noch hört, wenn sie schon vorbei sind. Oder
       dieses sehr hässliche Geräusch, das oft ältere Männer von sich geben,
       dieses Hu-tchä, wenn sie sich räuspern.
       
       Nein, Hunde sind überhaupt kein Problem, die benehmen sich mir gegenüber
       sehr diskret. Pinkeln hier nicht hin. Das Problem sind Menschen. Die Ecke
       ist teilweise sicher und teilweise nicht. Ich bin ja mehrfach überfallen
       worden, auch nachts schon, im Schlafsack. Der letzte Überfall war 2007 in
       der Spanischen Allee, es war Januar und schon dunkel. Ich saß mit Ohrhörern
       auf meinem Rucksack, habe Musik gehört, und da kamen zwei Typen. Einer
       hatte eine interessante Brille auf. Dann hat mich plötzlich ohne
       Ankündigung ein großer Stein am Kopf getroffen. Und weg waren sie. Es hat
       stark geblutet, und ich habe mich zu einem italienischen Lokal dort
       geschleppt. Der Besitzer hat sofort Polizei und Krankenwagen gerufen, mir
       sogar einen großen Eisbeutel aufgelegt. Ich musste ins Krankenhaus, in den
       OP, genäht werden und alles. Ich hatte noch Glück, sagten die Ärzte.
       Seitdem trage ich keine Kopfhörer mehr und deshalb habe ich ständig meine
       irische Wollmütze auf, weil die Stelle immer noch nicht ganz gut ist.
       
       ## Gespräche mit Krähen
       
       Auch wenn es so aussieht, Einzelgänger bin ich nun auch nicht. Ich bin ja
       hier draußen nicht alleine. Habe Freunde.
       
       Meine größten Freunde sind Tiere, solche, die nicht unbedingt verkauft oder
       gekauft sind. Neben mir schläft jede Nacht ein schwarzer Vogel. Ein
       Amselmännchen, das auch Futter bekommt, wenn ich was habe. Und jetzt finden
       sie ja auch wieder diese Würmchen und Insekten. Krähen, Raben sind auch
       nicht ohne! Abends suchen sie ihre Schlafplätze. Einmal waren bestimmt 350
       hier. Eine saß immer an der Kirche, so eine Schauspielerkrähe. Machte
       Faxen. Sehr lustig. Die können ja nicht nur ihr Kraah-kraah, die können
       noch ganz anders, ganz leise, oder fast wie Sprechen, so ein Glucksen. Die
       eine Krähe ist mir sehr befreundet, sie rief die anderen richtig, wenn ich
       im Winter für sie Fleisch und Käse hatte aus der Tonne. Und es gibt auch
       eine einzelne, wilde, freie Katze hier draußen, mit schwarzem Fell. Die ist
       überall zu Hause, lebt für sich allein und schlägt sich durch mit Mäusen.
       Die gibt es hier viel.
       
       Und dann gibt es hier auch noch Alphons. Der hat mir im letzten Winter, als
       es so brutal kalt wurde, da mein Zelt, diesen großen Gartenschirm,
       geschenkt. Er wohnt gleich hier um die Ecke, hat ein Privathaus mit Garten
       und auch was zu sagen in dieser Gegend. Öfters im Winter ist er mal morgens
       und auch spätabends gekommen, mit einer Thermoskanne voll Kaffee und
       englischem Eiertoast. Er hat mich auch versorgt mit seinem griechischen
       Landhund Lotti. Alphons ist sehr nett. Aber es gibt hier auch böse,
       übelwollende Leute, die mich lieber heute als morgen weghaben möchten. Auch
       die vom Seminarhotel, die ihre Gästen in gläsernen Aufzügen rauf- und und
       runterfahren. Die wollen denen so einen Ausblick nicht zumuten. Und auch
       die Kirche drüben hat mich am heiligen Ostersonntag von ihrer Tür
       verwiesen! Ich habe vor dem Gottesdienst einen Einmanndemonstrationszug
       gemacht, gegen den Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche." Er lacht
       schallend.
       
       "Zusammenfassend sage ich: In diesen über 50 Jahren - in den letzten 35
       Jahren besonders - habe ich vieles ausprobiert, im Guten und Schlechten.
       Die Enttäuschungen sind nicht immer gegenwärtig, sonst würde man ja zu
       einer Bahnschiene laufen und sich vom nächsten Zug überfahren lassen. So
       weit muss es nicht kommen. Das alles ausprobiert und Wiederholungsfehler
       ausgeschlossen zu haben, das ist es, was ich erreichen wollte. Gesegnete
       Zeiten gab es auch, auch mit anderen Menschen. Und das Gegenteil. Aber
       müssen Menschen immer sein? Tag und Nacht? Da habe ich mir dann gesagt,
       wenn du schon keine richtigen Chancen gekriegt hast, dann willst du auch
       keine falschen. Willst auch diese mittelfalschen nicht! Und auch diese halb
       gutherzigen Nimmerleinstagchancen nicht, die du kriegst, wenn du die
       Wiederholungsfehler immer wieder machst. Irgendwann wirst du dann
       konsequent. Oder auch nicht."
       
       * Im "Berliner Grünanlagengesetz" (1987 von Diepgen unterzeichnet), gibt es
       kein Verbot der nächtlichen Lagerung. Sie ist keine Ordnungswidrigkeit.
       Platzverweis ist nur bei Ordnungsstörungen zulässig. Dazu gehört aber nicht
       ein ungepflegtes Äußeres von Personen. Auch nicht öffentlicher
       Alkoholkonsum
       
       25 Apr 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriele Goettle
       
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