# taz.de -- Debatte Missbrauch: Fliegende Bischofsmütze
       
       > Die öffentliche Meinung richtet selbstgewiss über den Klerus und
       > entledigt sich darüber der Aufgabe, ihre Mitverantwortung zu diskutieren.
       
 (IMG) Bild: "Mixas Bischofshut darf ruhig fliegen."
       
       Es ist kein Witz, aber man möchte trotzdem lachen. Nun fegen also "ein paar
       Watschn" und finanzielle Unregelmäßigkeiten dem Walter Mixa die
       Bischofsmütze vom Kopf. Unglaublich, was alles möglich ist zurzeit.
       
       Der sogenannte Missbrauchsskandal scheint kein Ende nehmen zu wollen, und
       auch wenn man es schon nicht mehr hören oder lesen will, wird der highest
       score der schmutzigen Enthüllungen aus dem verklemmt-katholischen wie aus
       dem freizügig-reformerischen Lager immer weiter nach oben korrigiert. Dass
       es so viele Schandtaten sind, die ans Licht kommen, liegt einerseits ganz
       klar an den lange Zeit beschwiegenen Verbrechen kirchlicher wie weltlicher
       Einrichtungen. Andererseits entsteht die hohe Zahl aber auch, weil der
       Topf, in den die Opfer gesteckt werden, verdammt groß ist: "Missbrauch"
       heißt in der gegenwärtigen Debatte alles und jedes, von der Ohrfeige bis
       zum Rohrstockgebrauch, vom zarten Streicheln bis zur Penetration. Es ist
       erstaunlich, warum jenseits der dümmlichen Abwehr, es handele sich nur um
       "Einzelfälle" und finde meist außerhalb der Kirchen statt, kaum jemand auf
       die Idee kommen will, doch einmal genauer zu fragen, wieso hier so
       einhellig von Missbrauch geredet werden kann, und vor allem, warum der
       Begriff so gut als Marker taugt.
       
       Die Sicherheit, mit der nun alle wissen, dass wir es mit einem einzigen
       großen Delikt zu tun haben, ist beunruhigend. Um die Opfer, so steht zu
       befürchten, geht es nur in zweiter Linie, die Skandale scheinen eher ein
       Anlass, Dampf abzulassen und mit den Institutionen abzurechnen.
       
       Entnervend ist die eifrige Einseitigkeit, mit der sich die FAZ an der
       Odenwaldschule abarbeitet, noch lächerlicher aber wirkt das gespannte
       Lauern aller medialen Berichterstatter auf Bekenntnisse hoher kirchlicher
       Würdenträger. Da werden Hirtenbriefe und die Osterbotschaft einer
       akribischen Hermeneutik unterzogen, und wehe, wenn der Papst nicht auf die
       Missbrauchsfälle eingeht. Unter der Hand hat sich die öffentliche Meinung
       zur über den Klerus richtenden Instanz aufgeschwungen und imitiert dabei
       perfekt die kirchliche Gier nach bußfertigen Schuldbekenntnissen. Als ob
       die etwas helfen würden. Der empörte Aufschrei über das Verhalten der
       Kirche ist mittlerweile so scheinheilig wie jeder normale Gang zum
       Beichtstuhl.
       
       Auch in anderer Hinsicht übernimmt die öffentliche Meinung eine
       Kirchenlogik, denn dass das Opfer rein und unschuldig ist, ist ebenfalls
       ein Paradigma christlichen Denkens. Gut und Böse, Himmel und Hölle, man
       möchte sich hübsch an eine Ordnung halten, von der man doch eigentlich
       weiß, dass es sie so ganz genau nicht gibt. Es wird in den jetzt bekannt
       gewordenen Missbrauchsfällen einiges an Unentscheidbarem und Ambivalentem
       vorkommen, es wird Opfer geben, die selber Täter wurden, und Täter, die
       Opfer waren. Das aber interessiert noch niemanden.
       
       Der Begriff "Missbrauchsopfer" hatte immer etwas bedrohlich Schlüpfriges,
       im Moment jedoch mutiert er zum frisch gewaschenen Haustierchen im
       heimischen Wortschatz. Bezeichnungen wie "Missbrauchsbeauftragter" oder
       "Missbrauchshotline" gehen mittlerweile so locker über die Lippen, als
       handele es sich dabei um so etwas wie einen Kundenservice.
       
       Warum versucht niemand, eine andere Sprache für die Situation zu finden?
       Die Kirche braucht nicht einmal ein neues Vokabular, "Buße, Umkehr und
       Erneuerung" hat sie ehedem der Gemeinde gepredigt, jetzt predigt sie es
       eben auch sich selbst.
       
       Und die Öffentlichkeit redet von Opfern und von Tätern. Keine Frage, es
       gibt sie. Doch sich in dieser Logik einzurichten ist gefährlich. Kirche und
       Odenwaldschule, schuldig wie sie sind, haben nun die vakante Position des
       Kinderschänders übernommen. Sie entlasten damit die Gesellschaft von ihrer
       Scham darüber, dass sie so lange weggeschaut hat und überdies immer
       irgendeinen Machtmissbrauch toleriert. Ein Weiteres kommt hinzu, denn indem
       die öffentliche Meinung Prügel und sexuelle Gewalt so einhellig als
       "Missbrauch" verdammt, vergewissert sie sich eines neuen Paradigmas: der
       absoluten Liebe zum spärlich gewordenen Nachwuchs.
       
       Kinder haben heute einen ganz anderen Stellenwert als vor 30 Jahren. Sie
       sind das Tabu, das unberührt rein gehalten werden muss, daher wird jetzt
       nachträglich verurteilt. Diese unbedingte Liebe zum Kind spiegelt auf
       eigenartige Weise die "Pädophilie" der Täter und ist ihr vielleicht nicht
       ganz so fremd, wie der Sündenbockmechanismus glauben machen soll.
       Jedenfalls bleibt in jeder allzu eindeutigen Empörung unsichtbar, was man
       Abhängigen heute auf dieselbe und auf andere Weise antut. Gewalt ändert in
       der Regel nur ihre Form, nicht ihr Ausmaß.
       
       Aus den Diskussionen über sexuellen Missbrauch in den 1990er-Jahren hatte
       man gelernt, sich nicht auf die Opfer und Täter zu konzentrieren, sondern
       auf die unterliegende Struktur gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse.
       Darüber hinaus wusste man um die Nachteile des Wortes "Missbrauch", unter
       anderem, weil es nahelegt, es gebe einen richtigen "Gebrauch" des Kindes,
       oder auch weil der Satz "Ich bin missbraucht worden" keine Position der
       Handlungsfähigkeit erlaubt, sondern nur den Opferstatus zementiert.
       Zeitweise galt "sexuelle Gewalt" als der bessere Begriff.
       
       Von solchen Differenzierungen ist heute keine Rede mehr. Manchmal ist es
       wichtig, auch unklare Dinge klar zu benennen, und die Skandalisierung unter
       dem Schlagwort "Missbrauch" hat ihre gute Funktion. Mixas Bischofshut darf
       ruhig fliegen. Doch es bedarf eines komplexeren Denkens, nicht zuletzt,
       weil die binäre Logik allzu schnell kippt. Es ist nur eine Frage der Zeit,
       dass die Stimmung umschlägt, und auf eine Debatte über sexuellen Missbrauch
       folgt eine über den "Missbrauch des Missbrauchs" fast so sicher wie das
       Amen in der Kirche. Dagegen hilft nur vorbeugen und klar sehen, dass
       "Missbrauch" immer etwas mit Strukturen zu tun hat, und dass der Begriff,
       unkritisch verwendet, genauso viel versteckt, wie er enthüllen möchte.
       
       29 Apr 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andrea Rödig
       
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