# taz.de -- Sundermeier im Zug durch NRW: Biertrinken und Schweigen
       
       > Der Schriftsteller Jörg Sundermeier reiste für die taz mit der
       > Regionalbahn durch Nordrhein-Westfalen, um herauszufinden: Wie sieht's
       > dort aus vor der Wahl am 9. Mai?
       
 (IMG) Bild: Kioske gibt's in NRW zuhauf, der Nordrhein-Westfale bevorzugt dort allerdings Bier statt Süßigkeiten.
       
       Was ist Nordrhein-Westfalen? Zunächst einmal ist das Bundesland ein
       Völkergefängnis - auf ganz andere Weise als Bayern. Über Bayern wusste
       Edmund Stoiber zu sagen, dass es dort "fünf Stämme" gäbe: "Die Juden sind
       neben den Altbaiern, Schwaben und Franken und den heimatvertriebenen
       Sudetendeutschen in Bayern ein eigener Stamm." Aber der Franke als solcher
       ist, auch wenn er nicht Bayer genannt werden mag, doch mit diesem verwandt
       und eben nicht mit den Schwaben oder gar den Thüringern.
       
       Den Nordrhein-Westfalen hingegen gibt es nicht als solchen. Er ist entweder
       Rheinländer oder aus dem Pott, ist Sauerländer, Lipper oder Westfale.
       Einzig die Westfalen, die Pottbewohner und die Sauerländer einen ihre
       Charakterzüge, der Lipper bereits neigt dem Niedersächsischen zu, der
       Rheinländer hingegen ist ein halber Südländer.
       
       Das Land, das bereits im Namen zwiegespalten ist, teilt sich scharf in zwei
       Landschaftsverbände: in den Landschaftsverband Rheinland und den
       Landschaftsverband Westfalen-Lippe.
       
       Ich habe, um das Land, in dem ich selbst aufgewachsen bin - geboren bin ich
       in Gütersloh -, zu erkunden, die Regionalbahn genommen. In Minden wechselte
       ich um 17 Uhr aus dem IC in einen RE und war sofort begeistert. Die
       Gesichter der Menschen wurden breiter, die Worte wurden breit gezogen, und
       das typische "ne?" wurde an jeden Satz angehängt. Das hörte sich so an:
       "Willstn Bier, ne?" So sprach auf dem Bahnsteig neben mir der recht
       gepflegte Bürotyp zu einem Kollegen. Dann angelte er zwei Bierdosen aus
       seiner Tasche und reichte dem anderen eine. Der andere hatte geschwiegen
       und sich somit richtig verhalten. "Willstn Bier, ne?" ist keine Frage, es
       ist eine Feststellung, Einwände sind nicht möglich. Im Westfälischen sind -
       gerade unter Einheimischen - Einwände sowieso nicht vorgesehen.
       
       Harmlose Alternativkultur 
       
       Das gilt selbst für Münster, in dem die Menschen so glücklich sind, dass es
       zu den meistgeliebten Städten der Welt zählt. Allerdings ist Münster gar
       keine Stadt - es ist ein großes Dorf mit viel Geschichte. Rund um den Dom
       radeln Studenten und Exstudenten, wer innehält, wird überfahren. Münster
       ist, obschon politisch eher schwarz, sehr grün, und die Grünen sind in
       Münster sehr aktiv. Daher ist Münster auch voller harmloser
       Alternativkultur. Selbstredend widerspricht man nicht in Münster. Noch
       immer hängen die Käfige, in denen man einst die Leichen der Wiedertäufer
       öffentlich zur Schau stellte, am düsteren Turm der Kirche St. Lamberti. So
       wird verdeutlicht, was den Anführern von Revolten droht.
       
       Immerhin jedoch beleidigt der Bahnhofsvorplatz das Auge, hier wird Münster
       auf ein paar hundert Quadratmetern ungemütlich und erscheint fast urban.
       Hier darf wohl auch gestritten werden.
       
       Köln dagegen ist ganz anders - in Köln ist man nicht nur mit der Stadt,
       sondern gleich mit sich selbst zufrieden. Weist man freundlich darauf hin,
       dass Köln laut Einwohnerstatistik keine Millionenstadt ist, wird man
       geschmäht, auch der Kölner duldet keine Einwände. Er ist gastfreundlich,
       der Fremde muss aber so tun, als sei er Kölner, damit ihm gastfreundlich
       begegnet wird. Er liebt nur den Humor, den er selbst hat.
       
       Düsseldorf ist Kölns einziger Link zur Außenwelt. Diese andere rheinische
       Stadt, so scheint es, wurde von Kölnern nur erschaffen, um darin "das
       Andere" hassen zu können. Der Rest der Welt hat in Köln keinen Raum. Bonn
       etwa gilt als Vorort. Dass in Düsseldorf eine Landesregierung residiert,
       deren Entscheidungen ihn betreffen, ficht den Kölner nicht an. Dass der
       Katholizismus hier mächtig ist, merkt man am Bahnhof sofort, der fast
       ganztägig im Schatten des mächtigen Domes liegt.
       
       Münster und Köln sind extreme Pole in Nordrhein-Westfalen, der, wenn man so
       will, Nordpol und Südpol der Selbstgenügsamkeit. In Warendorf, Porta
       Westfalica, Höxter, Paderborn, Wuppertal, Aachen oder Remscheid duckt man
       sich eher weg. Der Nordrhein-Westfale kann keine eigene Identität
       herausbilden, immer ist er zugleich Teil einer längst überwundenen
       Tradition und eines Landes, das nicht zu sich selbst findet.
       
       Aus diesem Grund reiste ich durch die weitgehend flache, von Bauernhöfen,
       Dörfern und kleinen Städten durchbrochenen Landschaft hindurch nach
       Detmold. In Detmold ist der gespaltene NRW-Mensch in Reinform anzutreffen.
       Die lippische Residenzstadt ist Sitz der Bezirksregierung. Detmold verfügt
       über Schloss und Theater, die Musikhochschule ist berühmt, die Museen sind
       es ebenso. Dennoch ist es seltsam ruhig.
       
       Das Hertie, an dem ein Teil der Fußgängerzone endet, ist aufgegeben, in der
       leeren Halle findet ein Benetton-Lager-Ausverkauf statt. Tote Kaufhäuser
       finden sich, nicht erst seit der Hertie-Pleite, überall in den Innenstädten
       von Nordrhein-Westfalen. Als höchstens teilweise genutzte Gebäude weisen
       sie die Bevölkerung darauf hin, dass es nicht geklappt hat mit der
       Urbanisierung der Provinz.
       
       In Detmold lebte Brahms, Grabbe, an den permanent erinnert wird, wurde hier
       geboren, die weniger beliebten, weil frühsozialistischen Klassiker
       Freiligrath und Weerth ebenso. Doch an Freiligrath wird kaum erinnert, an
       Weerth offiziell gleich gar nicht. In der Mitte der Stadt liegt der
       Schlosspark, ein malerischer Graben schließt die Innenstadt ein, die Häuser
       sind alt und älter, nahe der Innenstadt liegt das Bundeswehrkrankenhaus.
       Beobachtet man die von Gott ziemlich lieblos geschaffenen Menschen,
       verwundert es kaum noch, dass der prominenteste lebende Sohn der Stadt der
       Exvizekanzler Frank-Walter Steinmeier ist, der in Sachen Grobschlächtigkeit
       stets hinter dem Lipper Gerhard Schröder zurückstehen musste.
       
       Intellekt wird versteckt 
       
       Dass Steinmeier eher heimlich ein großer Freund der Literatur ist,
       verwundert dagegen nicht - Bürgerkinder aus Nordrhein-Westfalen verstecken
       ihren Intellekt gut. Man will nicht auffallen. Selbst die Stadtvillen, in
       denen die Professorenfamilien wohnen, demonstrieren in Detmold keinen
       Reichtum nach außen.
       
       Zwar hat der Nordrhein-Westfale gern Geld, doch er weiß nicht, wozu er es
       benutzen soll. Es fällt auf, dass nicht nur auf dem Land jede und jeder am
       liebsten zwei Automobile besitzt. Das hängt weniger damit zusammen, dass
       man den Nachbarn beeindrucken will - auf dem Land fahren alle einen großen
       Mercedes -, als vielmehr damit, dass man sich der Fluchtmöglichkeit
       versichern will. Der Nordrhein-Westfale fährt gern herum und weg.
       Allerdings weiß er nicht, wohin er soll, daher kehrt er immer wieder
       zurück.
       
       In ein Haus, das selbst dann aussieht wie ein Reihenhaus, wenn es keines
       ist. Die in den 60ern und 70ern übliche Fassadenverkleidung mit
       Eternitplatten hat in Nordrhein-Westfalen, ganz besonders im Sauerland,
       jedes Gefühl für Stil vernichtet.
       
       Die Leute in Detmold tragen - es ist ein kalter Tag - Mäntel und Jacken in
       gedeckten Farben, neu, sicher auch teuer, aber an allen Moden vorbei.
       "Sachen", wie man hier zu Textilien sagt, "müssen halten." Die Innenstadt
       ist pragmatisch und schlicht, man soll nicht innehalten, man soll "zu Potte
       kommen". Müßiggang ist dem Nordrhein-Westfalen nicht gegeben. Er ist nicht
       lebensfroh wie die Hessen, selbst der Kölner mit seiner unbändigen
       Lebenswut ist es nicht. Dieser ist nur lebenswütig, damit der Düsseldorfer
       neidisch ist. Der Nordrhein-Westfale lässt es kommen, wies kommt, denn es
       muss, wies muss. Man träumt nicht, man macht weiter. In Hagen, in Soest und
       in Bielefeld.
       
       Nur kann der Mensch auf die Dauer nicht ohne Ausweg sein. Daher, das ist in
       der Regionalbahn sehr gut zu beobachten, muss der Nordrhein-Westfale
       trinken. Suff ist Einkehr des hiesigen Menschen in sich selbst; wenn er
       dann ganz bei sich ist, darf er sogar singen, und morgen ist man für seinen
       Ausbruch entschuldigt. Daher ist es mitnichten so, dass auf der Strecke der
       einstigen Cöln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft nur zwischen Duisburg und
       Dortmund, und nur nach Feierabend gesoffen wird. Nein, überall in NRW
       kreist in den S-Bahnen und Regional-Expressen die Pulle.
       
       Lediglich in Köln, Düsseldorf und im Bochumer "Bermuda-Dreieck" trinkt man
       sich auf der Straße nieder, im Rest des Landes trinkt man in geschlossenen
       Räumen, im Schützenzelt, in der Großraumdisco und im Zug. Dann, für kurze
       Zeit, kann man vielleicht von etwas wie Liebe träumen. Danach ist der
       Alltag wieder grau, und der Herr lässt es regnen auf seine Schäfchen in
       Arnsberg und Kleve.
       
       Oder in Detmold. Dort wird daher bereits am Frühabend auf den öden
       Bahnhofsvorplatz gekotzt. Was lehrt uns das? Das lehrt uns: Rüttgers ist zu
       hektisch für die Leute hier. Er mag noch mal gewinnen, weil man in
       Nordrhein-Westfalen außerhalb der Städte Schwarz wählen muss, auf die Dauer
       aber "wird das nix" mit ihm. Es wird ihm ergehen wie Clement, dem kalten
       Technokraten. Nordrhein-Westfalen braucht Landesväter wie Johannes Rau,
       bedächtige Leute, die "vernünftig" sind, Traditionen kennen und deren Nase
       nach 18 Uhr schon mal rot leuchtet. Leute, mit denen man Bier trinken kann.
       Und schweigen.
       
       29 Apr 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jörg Sundermeier
       
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