# taz.de -- Die Festivalsaison beginnt: Mit dem Regen leben lernen
       
       > Verfilzte Haare, verschlammte Schuhe, verlorene Kleidungsstücke: Die
       > Festivalsaison beginnt. Wie kann man sich auf einen Sommer voller Lärm
       > und nasser Schlafsäcke freuen?
       
 (IMG) Bild: Während des Beastie-Boys-Auftritts an der orangenen Bühne in Roskilde (2007).
       
       Im dänischen Roskilde kann man am Zustand der anwesenden musikbegeisterten
       WikingerInnen ablesen, wie lange die Sause schon geht. Am ersten Tag duften
       die vielen männlichen und weiblichen Hünen noch nach Rosenseife, ihre Haare
       fallen blond und lockig auf die breiten Schultern, die fast farblosen
       Stoppeln am Kinn und den Beinen sind kaum zu sehen.
       
       Am zweiten und dritten Tag ändert sich die Erscheinung. Ihre Haare
       verfilzen, die Schuhe verschlammen oder verschwinden ganz, scharfer
       Alkoholschweiß weht in immer dichteren Brisen über das Gelände, der
       naturgegebene Körperflaum wuchert aus allen Follikeln.
       
       Und am letzten Tag, wenn schwankende Nordfrauen sich nicht mal mehr einen
       Busch zum Dahinterhocken suchen, sondern, je nach Wetterlage, entweder den
       gelb-grünlich ausgedörrten oder den braunen, regenbierpissefeuchten
       Festivalplatz direkt da düngen, wo sie eben aufgewacht sind, könnte man so
       viele Special-interest-Internetseiten mit selbst fotografierten Bildern
       füllen, dass man für ein paar Jahrzehnte finanziell ausgesorgt hätte.
       
       Aber man ist ja nicht zum Meckern auf dem Festival. Man hat schließlich
       auch einiges bekommen für den Gestank: The Clash, Style Council und The
       Ramones in den Achtzigerjahren; Dead Moon, P. J. Harvey und Les Rita
       Mitsouko in den Neunzigern; Blur, The Streets und De La Soul neulich erst.
       Dazu die ganzen anderen grandiosen Bands, die gerade auf Tour sind und die
       man normalerweise nicht angucken würde. Weil man, erstens, in einem Nest
       wohnt, in dem die Melvins nun mal einfach nicht spielen, zweitens an dem
       Abend keine Zeit und kein Geld und drittens weder Lust auf verrauchte Clubs
       noch auf Stadionrockatmosphäre hat.
       
       Also darum tut man sich das an. Jedes Jahr ab Ende Mai stehen plötzlich
       Tausende von zivilisationsgewöhnten Musikfans auf wildes Camping auf Äckern
       und Parkplätzen, schlafen mit drei Promille auf hauchdünnen Isomatten ein
       und verlieren Kontaktlinsen in überschwemmten Gemeinschaftsduschen. An
       diesem Wochenende gehts los. Mit dem Donaubeben in Ulm zum Beispiel, dem
       Immergut-Festival in der mecklenburgischen Provinz oder der Metal-Party
       Burn it down! in Nussloch bei Heidelberg. Und so, das zeigt ein Blick auf
       den Festivalkalender dieses Jahres, geht das den ganzen Sommer. Wie kommts?
       
       Festivals boomen, im Gegensatz zum gemeinen Konzert einer mittelbekannten
       Band, zu dem gerade in Großstädten oft schlichtweg niemand mehr geht.
       Roskilde in Dänemark, das norddeutsche Hurricane Festival oder Rock am Ring
       am Nürburgring verzeichnen - nach Einbrüchen Ende der Achtziger- und Anfang
       der Neunzigerjahre - stetig steigende Besucherzahlen. Und auch die
       kleineren, neueren und modernistischeren Konzerte wie das Hamburger
       Dockville Festival und das erst zum fünften Mal stattfindende Berlin
       Festival, das nun auf dem Flughafen Tempelhof gelandet ist, können nicht
       klagen.
       
       Irgendwie hat sich die Bestagern zugerechnete olle Rockmusik, zumindest in
       Open-Air-Verkleidung, wieder in der undurchschaubaren, immer schneller ihre
       Regeln ändernden Jugendlichkeit angesiedelt. Zusammen mit der Etablierung
       aller Arten elektronischer und nichtrockiger Musik natürlich: Seit DJs
       Riesenhallen füllen, können sie, zusammen mit den immer noch wohlgelittenen
       "The"-Bands, auch Headliner vor Rock- und Popbands sein.
       
       Dazu kommt die fehlende Distanz zum traditionell mauen Geschmack in der
       Rockcrowd: In Frauen- und Modezeitungen gibt es seit ein paar Jahren in
       jedem Sommer Rockfestivalmodetipps, in denen meistens schlapp
       herunterhängende bedruckte T-Shirts, irgendeine Art von Ledergebimsel,
       kaputte Jeans, flache Schuhe/Gummistiefel und Sonnenbrillen eine Rolle
       spielen.
       
       Es sind die Kinder von Rocklegenden, etwa Pixie Geldof oder Kelly Osbourne,
       die sich dazu gern im zippeligen Rockchick-Outfit fotografieren lassen. Und
       auch die Bands selber, sogar die bekannten, freuen sich tatsächlich, bei
       Festivals dabei zu sein, weil sie möglicherweise selbst Konzerte sehen
       können, zu denen sie es sonst nicht schaffen würden.
       
       Eigentlich passt das Prinzip Festival doch hervorragend in die Zehnerjahre
       dieses Jahrtausends: Es ist effektiv und sparsam, die Bands sind
       komprimiert zu sehen, statt dafür das ganze Jahr über unterschiedliche
       Termine an verschiedenen Orten zu machen. Der Retro-Charme der Umgebung und
       der Lederarmbänder ist irgendwie in, und das gemeinsame
       Den-Schlafsack-Vollpupen und Im-Bierschlamm-Liegen, das Unerträgliche der
       Toiletten- und allgemeinen Hygienesituation ist vielleicht ein wichtiges
       Pendant zu einer Welt voller virtueller Erlebnisse: Immerhin riecht, fühlt,
       hört und schmeckt man hier tatsächlich, was Menschen so alles ausströmen.
       Wenn man sie lässt. Außerdem muss man in einer klimagewandelten Zukunft
       ohnehin mit dem Regen leben lernen.
       
       Wenn man dabei, wie in diesem Jahr, auch noch bei The Strokes, Deichkind,
       Bonaparte oder Them Crooked Vultures mitgrölen kann - umso besser.
       
       28 May 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jenni Zylka
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