# taz.de -- Ingeborg-Bachmann-Preis: Abseits des Hegemann-Wahns
       
       > Mit dem Berliner Schriftsteller Peter Wawerzinek gewinnt in Klagenfurt
       > ein Mann von Erfahrung. Ein schönes Ergebnis, den Strukturschwächen des
       > Wettbewerbs zum Trotz.
       
 (IMG) Bild: Alter Bekannter und Mann mit Erfahrung: Der Berliner Autor Peter Wawerzinek bei der Preisverleihung in Klagenfurt.
       
       Das mit dem Anspruch und der Wirklichkeit ist ja, wie hinlänglich bekannt,
       nicht selten eine fatale Sache. Für Torhüter gilt in dieser Hinsicht die
       Regel: Wenn du rausgehst, musst du ihn haben. Bei der
       Fußballweltmeisterschaft wird diese Regel gerade mit erstaunlicher
       Regelmäßigkeit unterlaufen. Wer sich neben den Spielen in Südafrika die
       Auftritte beim diesjährigen Klagenfurter Wettlesen um den Bachmannpreis
       angeschaut hat, der musste wohl oder übel zu dem Ergebnis kommen, dass
       Parallelen von sportlichen und literarischen Ereignissen durchaus möglich
       sind.
       
       Anspruch und Wirklichkeit der Texte gingen während der drei Tage am
       Wörthersee nicht immer zusammen. Immer wieder begaben sich Autoren in den
       Saal des ORF, die mehr oder weniger weit an den eigenen Ansprüchen
       vorbeisegelten. "Ein vorgeschobener Posten", hieß es am Ende des Textes von
       Aleks Scholz, "besetzt mit zwei seltsamen Figuren, die offenbar nicht
       wissen, was sie mit ihrer erdgeschichtlich exponierten Situation anfangen
       sollen." Das konnte man kaum anders deuten denn als symptomatisches Bild.
       
       Sei es, wie im Falle von Sabrina Janesch, die mit ihrem Text für die
       Shortlist der besten Sieben nominiert wurde: Sie erzählte von den
       Vertreibungen der schlesischen und galizischen Bevölkerung nach 1945, ein
       großes Sujet, das aber durch die sprachlichen Mittel, die Juror Hubert
       Winkels aus dem Setzkasten entnommen schienen, seiner eigentlichen
       Dimension beraubt wurde. Sei es, dass auch bei der 34. Ausrichtung des
       Wettbewerbs wieder einige Texte gelesen wurden, die das Attribut
       literarisch allenfalls mit größter Not beanspruchen konnten. Das ist
       deshalb so erstaunlich, weil man doch meinen sollte, dass bei insgesamt
       vierzehn Texten, die von sieben Juroren nominiert werden, solche
       Totalausfälle nicht sein müssten, wäre das andernfalls doch eine
       Bankrotterklärung an die zeitgenössische Literatur.
       
       Postapokalyptisches Setting 
       
       Um die aber, das zeigen die Auftritte von Dorothee Elmiger, Aleks Scholz,
       Peter Wawerzinek oder Verena Rossbacher, ist es eben gar nicht so schlecht
       bestellt. Scholz, promovierter Astronom und Mitglied der Zentralen
       Intelligenz Agentur (ZIA), las einen Text mit dem Titel "Google Earth", den
       man vielleicht nicht gerade, wie Teile der Jury, als Erfindung einer neuen
       Erzählperspektive feiern musste. Aber eine klug gebaute, eigenartig stille
       Szenerie, in der das Humane langsam zu einem Rest wird, entwarf er schon:
       Er erzählt von zwei benachbarten Höfen, deren Bewohner durch die wie von
       einem Satelliten herangezoomte Perspektive als mehr oder minder kontingente
       Punkte im Universium erscheinen, bis einer von ihnen sukzessive das eigene
       Kompostieren durchexerziert, um zu einer weiteren Erdschicht im Gefüge der
       urzeitlichen Gletscherlandschaften zu werden.
       
       Noch expliziter postapokalyptisch war das Setting im Text der 1985
       geborenen Dorothee Elmiger, die Versatzstücke aus den Schichten des
       menschheitsgeschichtlichen Wissensfundus mit maroden Bildern der Urbanität
       verschnitt. Elmiger bekam für ihren beeindruckenden Text den Kelag-Preis,
       Scholz wurde mit dem Ernst-Willner-Preis ausgezeichneit. Zwei Texte waren
       das, die für Dystopien im Zeitalter von Computerspielen und Digitalisierung
       eine überzeugende sprachliche Form fanden und damit eine erfreuliche
       Zeitgemäßheit besaßen.
       
       Die größte Entdeckung aber war in diesem Jahr überraschenderweise ein alter
       Bekannter und längst etablierter Autor, um den es indes in den vergangenen
       Jahren etwas still geworden ist: Peter Wawerzinek, Jahrgang 1954, der vor
       fast zwei Jahrzehnten schon einmal Kandidat beim Bachmann-Wettlesen gewesen
       war. Der Romanausschnitt, den er las, erzählt eine tragische Episode aus
       seiner eigenen Biografie. Seine Mutter gibt den kleinen Jungen in ein Heim
       in der DDR und siedelt in den Westen über. Wawerzineks Text ist eine
       behutsame, aber dennoch vor Bildern sprudelnde Rekonstruktion von
       Erinnerung, der man sich kaum entziehen konnte.
       
       Ein Kind in der Kälte 
       
       Romantisch im besten Sinne ist dieser Text, Eichendorff und Mörike klingen
       an, während es immerfort zu schneien scheint. Der Schnee meint nicht nur
       ewige Kälte, sondern wirkt zugleich als Beruhigung und Besänftigung,
       während das gerade einmal vierjährige Kind vor der riesigen Tür des Heims
       steht, in dem es fortan leben soll.
       
       Dass Wawerzinek für diesen poetisch-leisen Text mit dem Bachmann-Preis
       ausgezeichnet wurde, ist ihm zu gönnen. Man kann es in Zeiten von Jugend-
       und Hegemann-Wahn zudem als ein schönes Zeichen dafür nehmen, dass
       Literatur nicht nur gut gemacht sein muss, sondern auch auf ein wenig
       Lebenserfahrung fußen sollte. Das honorierten auch die Zuhörer, die
       Wawerzinek auch noch per Internetvoting den Publikumspreis zusprachen.
       
       Weder die oft beklagte mangelnde Welthaltigkeit noch die Sprachkraft gaben
       in diesem Jahr mithin Anlass zu Skepsis, sofern man die Quote von vier
       guten Autoren unter 14 Eingeladenen für unbedenklich hält. Gerade im Falle
       des Klagenfurter Bachmannpreises, der nicht nur im Literaturbetrieb auf
       einem Höhenkamm zu verorten ist, sondern durch seine Liveübertragung auf
       3sat auch eine beträchtliche öffentliche Wirkung hat, liegt es deshalb umso
       mehr nahe, Anspruch und Wirklichkeit des Preises selbst zu hinterfragen.
       Und das heißt Anspruch und Wirklichkeit der Jury.
       
       Bis Seite 3 gelesen 
       
       Man kann deren Diskussionen der Texte als eine - teils intellektuell
       erhellende, teils aber auch mehr oder minder amüsante und mit
       fortschreitender Zeit deshalb zwangsläufig ärgerliche - Darbietung
       verstehen, bei dem jedem Beteiligten ein bestimmtes Fach zukommt: Hildegard
       Elisabeth Keller, die bei jedem noch so schlichten Text mit Motivanklängen
       an die mittelalterliche Literatur aufwarten kann, Karin Fleischanderl, die
       größte Mühen darauf verwendet, möglichst indigniert zu schauen, darin aber
       ihr intellektuelles Potenzial auch schon erschöpft zu haben schien. Alain
       Claude Sulzer - wie man im Fußball sagt - gar nicht erst auf dem Platz.
       Freimütig bekannte er etwa, den Text von Verena Rossbacher im Vorfeld
       gerade einmal bis Seite 3 gelesen, seine Notizen verlegt zu haben oder sich
       zu einem Text so dies und jenes gedacht zu haben oder ihn gar "schön
       geschrieben" fand, ein Attribut, das doch bitte sehr auf
       Volkshochschulkreise beschränkt bleiben sollte. Glücklicherweise handelte
       es sich dabei nur um farcehafte Einsprengsel in davon abgesehen
       intellektuell beschlagenen Diskussionen.
       
       Je weiter der Wettbewerb voranschritt, desto deutlicher wurde aber auch in
       diesem Jahr seine inhärente Problematik, die eine strukturelle ist. So ist
       eben jeder Juror auch ein Pate für zwei Texte, die er an den Wörthersee
       einladen kann und dessen Interessen er verteidigt. Diese Dynamik bekam in
       diesem Jahr Verena Rossbacher zu spüren, die für ein grandioses, sprachlich
       opulentes Langgedicht, in dem die Sprache zugleich dissoziiert ist und
       schmerzlich und lustvoll um Ordnung ringt, nicht mit einem Preis gewürdigt
       wurde. Eine Entscheidung, die auf unerklärliche (oder einfach zu sehr zu
       erklärende) Weise an der Wirklichkeit dieses Textes vorbeigeht. Stattdessen
       bekam Judith Zander für einen relativ flauen Text über eine ungewohnte
       Schwangerschaft in der DDR der siebziger Jahre den 3sat-Preis.
       
       Weil man aber davon ausgehen kann, dass der Bachmannpreis nicht mehr jene
       karrierefördernde oder -bremsende Kraft ausübt, wie man ihm das einmal
       zugesprochen hat, muss man das letzten Endes möglicherweise gar nicht allzu
       tragisch nehmen. Die eigentlichen Karrieren werden, sagt man, ohnehin im
       knalltürkisen Wörthersee geschlossen, irgendwo zwischen Ufer und
       Sonnenplattform, wenn langsam die Puste ausgeht und der Verstand nachgiebig
       wird.
       
       Referenzgröße Kafka 
       
       Stattdessen waren auch in diesem Jahr wieder einige grundsätzliche,
       quasiethnologische Beobachtungen zu verzeichnen. Zum einen die, dass sich
       bei jedem Text - und mochte er noch so hanebüchen sein - die Referenzgröße
       Kafka heranziehen lässt. Da reicht es schon, wenn ein Protagonist mit K
       anfängt, eine Zeit lang auf Nahrungsaufnahme verzichtet oder alles
       irgendwie ein bisschen seltsam scheint. Wieder einmal frappierend war auch
       die krude Mischung aus österreichischer Hybris und Selbsthass. Deutsche
       Juroren und Kritiker, musste man immer wieder hören, seien ganz einfach
       nicht in der Lage, Texte von österreichischen Autoren zu beurteilen.
       
       Vor allem aber konnte man in diesem Jahr die verblüffende Beobachtung
       machen, dass es mit den Autoren und ihren Texten so ähnlich zu sein scheint
       wie mit den Hunden und ihren Besitzern. Sie haben bisweilen eine frappante
       Ähnlichkeit. Wobei noch nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden kann, ob
       der Autor sich optisch seinem Text annähert oder umgekehrt.
       
       27 Jun 2010
       
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