# taz.de -- Suizide junger Türkinnen: "Ich habe mir den Kopf erkältet"
       
       > Die Suizidrate bei jungen türkischstämmigen Frauen ist hoch. Ein
       > Forschungsprojekt der Berliner Charité untersucht die Ursachen, will aber
       > auch aufklären - und Hilfe leisten.
       
 (IMG) Bild: Trauer und Scham: Die Selbstmordrate bei jungen türkischen Frauen ist doppelt so hoch wie bei Einheimischen.
       
       taz.de: Letzte Woche startete die Charité die Kampagne "Beende dein
       Schweigen, nicht dein Leben". Wen wollen Sie damit erreichen?
       
       Meryam Schouler-Ocak: Wir möchten türkischstämmige Frauen, also Berliner
       Frauen mit türkischem Migrationshintergrund, erreichen und hier
       insbesondere die jüngeren türkischstämmigen Frauen. Daten zeigen, dass sich
       türkische Frauen doppelt so häufig selbst töten wie Einheimische. Wir
       wollen mit unserer Aktion verzweifelten Mädchen und Frauen sagen: Holt euch
       Hilfe! Ruft an! Sprecht über eure Probleme!
       
       Gibt es gesicherte Zahlen? 
       
       Meryam Schouler-Ocak: Es gibt eine regionale Studie aus Frankfurt am Main,
       die besagt, dass 30 Prozent aller Patienten, die dort nach einem
       Suizidversuch in die Akutpsychiatrie kamen, junge Frauen mit türkischen
       Wurzeln waren. Dies belegen auch Daten der WHO-Multicenterstudie aus dem
       Raum Würzburg von Professor Schmidtke: Die Suizidversuchsraten bei
       türkischstämmigen, insbesondere jüngeren Frauen, ist um ein Vielfaches
       höher als unter einheimischen Frauen.
       
       Wie oft werden in Ihrer Klinik türkischstämmige Frauen nach einem akuten
       Suizidversuch behandelt? 
       
       Meryam Schouler-Ocak: Manchmal sind es zwei bis drei Frauen in einer Woche,
       dann wieder über Wochen keine. Sie kommen aus allen Schichten. Die meisten
       stecken in einer akuten Krise.
       
       Ihre Kampagne in Berlin ist Teil eines Forschungsprojekts. Was erforschen
       Sie? 
       
       Andreas Heinz: Man schaut erst mal nach der Zahl von Suizidversuchen und
       dann gibt es die Interventionskampagne. Dann prüft man, ob sich danach was
       verändert hat. Damit man nicht einfach einem Zeittrend aufsitzt, gibt es
       eine Paralleluntersuchung in Hamburg ohne Intervention. Und man würde dann
       hinterher ein Argument haben, dass sich solche Interventionen lohnen. Das
       Problem bei Präventionen ist oft, es wird was Tolles gemacht, aber man hat
       keine Kontrolle, keine Vergleichsgruppe. Und dann landen neue Ansätze auf
       dem Beispielhaufen für gute präventive Versuche. Und kein Mensch finanziert
       das Projekt weiter.
       
       Polemiker und Rassisten reden gerne über die kriminellen, halbwilden Jungs
       aus der türkischen Community, die es nicht schaffen, einen Arbeitsplatz zu
       finden oder den Hauptschulabschluss zu machen. Ist das Gegenstück zu diesem
       aggressiven Kerl das suizidgefährdete Mädchen? Medialer Zündstoff also? 
       
       Andreas Heinz: Diese ganze Diskussion ist stigmatisierend und falsch, weil
       man übersieht, dass die meisten Menschen, die mit Drogen handeln, das auf
       kleiner Ebene tun, um ihren privaten Konsum zu finanzieren. Wir versuchen
       seit über zehn Jahren eine Öffnung des Gesundheitssystems zu bewirken, weil
       Drogengebrauch, Drogenhandel häufig den Migranten angehängt wird. Und wenn
       Sie schauen, dann gibt es für Migranten riesige Zugangsbarrieren zum
       Suchthilfesystem. Migranten kriegen keine Hilfe für ihre Abhängigkeit oder
       Erkrankung.
       
       Wie die gefährdeten Mädchen, die nicht wissen, wohin mit ihren Problemen? 
       
       Andreas Heinz: Ja. Zum Teil, weil sie nicht informiert werden, weil es
       keine muttersprachlichen Angebote gibt, weil eben diese Ungleichbehandlung
       bei den Jungs mit Angst vor Abschiebung verbunden ist, weil sie häufig
       schlechte Erfahrungen gemacht haben und denken, das Gesundheitssystem wird
       mich genauso behandeln. Und wir wissen auch: Zwischen psychischer
       Gesundheit und sozioökonomischem Index gibt es einen Zusammenhang. Da wird
       zu wenig getan und auch zu wenig darauf hingewiesen.
       
       Meryam Schouler-Ocak: Wir sind hier in Berlin-Mitte, dem Bezirk mit den
       meisten Menschen mit Migrationshintergrund neben Kreuzberg und Neukölln.
       Wir haben sehr viele Patienten, die am Existenzminimum leben müssen. Die
       sich schämen zum Sozialamt zu gehen, weil es ihnen unangenehm ist.
       
       Also ist die Gefahr des Suizids nicht nur ein migrantisches Problem,
       sondern auch ein sozioökonomisches Problem? 
       
       Andreas Heinz: Also die Gefahr psychischer Erkrankungen, zu denen leider
       häufig auch Suizidfolgen gehören, absolut! Sie können in jeder sozialen
       Stellung erkranken, aber man ist sehr viel bedrohter, wenn man arm ist.
       
       Welche Beweggründe könnten eine türkischstämmige Frau dazu bringen, sich
       das Leben nehmen zu wollen? 
       
       Meryam Schouler-Ocak: Wir haben in sogenannten Fokusgruppen, das sind
       Diskussionsgruppen in unserem Forschungsprojekt, mit Frauen in
       verschiedenen Altersgruppen und auch mit Experten diskutiert. Jüngere
       Frauen haben ganz andere Beweggründe angegeben als Heiratsmigrantinnen oder
       ältere Frauen. Wir haben jetzt in einer Fokusgruppe mit türkischen Frauen,
       die einen Suizidversuch gemacht haben, häufiger gehört, dass die Partner
       sich deutsche Freundinnen gesucht haben und von den Ehefrauen erwartet
       haben, dass die treu bleiben.
       
       Bei der Gruppe der 16- bis 24-Jährigen, die Sie jetzt verstärkt mit Ihrer
       Kampagne ansprechen wollen, was sind da die Hauptgründe der Krise? 
       
       Meryam Schouler-Ocak: Verbote. Die Reglementierungen der Familie. Dass man
       zum Beispiel nicht rausgehen darf, dass man keinen Freund haben darf, dass
       man sich nicht so kleiden oder sich so entwickeln darf, wie man das möchte.
       Oder dass man jemanden heiraten soll, den man nicht möchte.
       
       Auch in Südostanatolien gibt es sehr viele Selbstmorde. Aus den gleichen
       Verzweiflungen? 
       
       Meryam Schouler-Ocak: Es gibt eine Untersuchung von Professor Sayil aus dem
       Raum Ankara zur WHO-Multicenterstudie. Die Suzidraten in der Türkei sind
       niedriger als zum Beispiel in Deutschland. Aber in Südostanatolien ist die
       Rate wohl ziemlich hoch. Dort hat sich das Konzept von Ehre, Ruf, Scham so
       eng gehalten, dass sich die Frauen nicht rausbewegen können. Auch dort gibt
       es Ehrenmorde, Reglementierungen, Bestrafungen. Diese Mädchen haben keine
       Hilfsmöglichkeiten. Sie können sich nirgendwo hinwenden
       
       Welche Rolle spielt die Religion. Suizid ist im Islam verboten. 
       
       Meryam Schouler-Ocak: Ich kenne das von traumatisierten Patienten oder von
       schwerstdepressiven Patienten aus meiner klinischen Arbeit. Zum Beispiel
       1999 nach diesem großen Erdbeben bei Istanbul. Damals gab es viele
       schwersttraumatisierte Patienten: Sie hatten viele Angehörige verloren und
       waren akut suizidal. Da sagten viele, meine Religion erlaubt es mir nicht.
       
       Haben die jungen Frauen, die hier aufgewachsen sind, diese religiöse
       Verbundenheit verloren? 
       
       Meryam Schouler-Ocak: Bei den jungen Frauen ist die peer group
       entscheidender, sie rückt die Religion in den Hintergrund.
       
       Ist es wichtig, dass ein Therapeut den kulturellen Hintergrund eines
       Patienten versteht? 
       
       Andreas Heinz: Die Verhaltenstherapie, die sehr übend vorgeht, kann man
       leichter kulturell übertragen. Aber auch da kann man schnell auf Tabus
       stoßen. Wenn sie tiefenpsychologisch arbeiten, dann ist es wichtiger, dass
       man versteht, was in der Interaktion passiert. Man muss Therapeuten dafür
       sensibilisieren, dass sie auf kulturelle Unterschiede achten.
       
       Gibt es einen Unterschied, wie sich eine Depression in Berlin äußert oder
       in Istanbul? 
       
       Meryam Schouler-Ocak: Die depressiven Symptome sind nach meiner Erfahrung
       sehr ähnlich. Hier vielleicht etwas intensiver vorgetragen, weil die
       betroffenen Frauen sich nicht ernst genommen fühlen, weil sie sich nicht
       verstanden fühlen. Es gibt auch lokaltypische Symptommuster in Bezug auf
       Depressionen oder andere Krankheitsbilder. Im türkischen Kontext redet man
       von "sikinti". Oft wird das mit Depressionen in Zusammenhang gebracht oder
       Langeweile, Engegefühl, Druckgefühl, Beklemmungsgefühle.
       
       Andreas Heinz: Es gibt auch Organchiffren. Im Deutschen sagt man auch "Mir
       ist eine Laus über die Leber gelaufen". Ein Beispiel aus dem Türkischen
       ist: "Ich habe mir den Kopf erkältet" (Kafami üsüttüm). Das heißt nicht,
       dass man sich den Kopf erkältet hat, sondern "Ich drehe durch, ich werde
       verrückt". Und jetzt stellen Sie sich vor, eine im Wesentlichen
       türkischsprachige Frau kommt in eine nicht sprachkompetente Praxis und
       sagt: "Ich habe mir den Kopf erkältet."
       
       Meryam Schouler-Ocak: Die Leute wissen oft nicht ihre Krankheit
       einzuschätzen, aber sie wissen auch nicht, welche Möglichkeiten, welche
       Beratungsstellen, Anlaufstellen existieren. Wir haben in unseren
       Fokusgruppen erfahren, dass sich Frauen, wenn überhaupt, an den Hausarzt
       wenden. Er ist quasi die Schlüsselfigur im System. Wir wollen nun für die
       Beratung gefährdeter Mädchen knapp 200 Multiplikatoren ausbilden:
       Erwachsene Frauen mit türkischem Migrationshintergrund und Mitarbeiter aus
       Medizin, Pflege, Psychologie und Sozialpädagogik.
       
       Es gibt prozentual sehr viel mehr türkischstämmige Bevölkerung als
       türkischstämmige Psychologen. Gibt es Ansätze, diese Lücke zu füllen? 
       
       Meryam Schouler-Ocak: In Berlin gibt es drei niedergelassene
       türkischsprachige Psychiater, die eine Zulassung haben, was die
       Psychotherapie angeht, aber die haben ganz begrenzte Möglichkeiten - und
       Sonderbedarfszulassungen sind nicht möglich. Nun wurde eine Petition
       eingebracht mit dem Ziel, dass mehr muttersprachlich therapeutisch
       arbeitende Kollegen und Kolleginnen im System zugelassen werden.
       
       Haben Sie Rückmeldungen auf die letzte Woche in Berlin gestartete Kampagne? 
       
       Meryam Schouler-Ocak: Ja, es waren schon Anrufe da. Wir erheben seit April
       letzten Jahres in allen Rettungsstellen in Berlin und Hamburg die Zahlen
       zum Suizidversuch und haben gesehen, dass letztes Jahr vor den Sommerferien
       die Zahlen stiegen. Deswegen startet wir die Kampagne jetzt vor den Ferien.
       Die Ferienzeit ist angstmachend, weil man in die alte Heimat fährt, die
       Familien zusammenkommen. Dann wird geguckt und erzählt. Für junge Frauen
       ist das angstbesetzt.
       
       Andreas Heinz: Ein bisschen wie bei uns an Weihnachten.
       
       2 Jul 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) E. Tasdemir
 (DIR) E. Kresta
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA