# taz.de -- Steinbrück über die Lehren aus der Krise: "Die Privilegierten sind das Problem"
       
       > Heute erscheint Peer Steinbrücks Buch "Unterm Strich". Seine These: Weder
       > "Rechts- noch Linksausleger" gefährden die Gesellschaft, "sondern die
       > Protagonisten des Systems selbst".
       
 (IMG) Bild: Mangelndes Empfinden für Solidarität in der Oberschicht: Semperopernball in Dresden.
       
       taz: Herr Steinbrück, Ihr Buch "Unterm Strich" ist eine 500-Seiten-Analyse
       über die Politik, die Deutschland eigentlich bräuchte. Streben Sie noch
       einmal ein öffentliches Amt an? 
       
       Peer Steinbrück: Nein. Trotz aller Spekulationen, die es gibt.
       
       "Der Spiegel" hat Sie als möglichen Kanzlerkandidaten der SPD für 2013 ins
       Gespräch gebracht. Ist das kompletter Unfug? 
       
       Der Artikel folgt der Tendenz Ihrer Branche, dass Politik ständig einer
       personellen Zuspitzung und Spekulation unterliegt.
       
       Sie entwerfen in Ihrem Buch, welche Eigenschaften Politiker heute
       bräuchten, um die Menschen anzusprechen. Sie sollten atypisch sein, kantig,
       überparteilich und distanziert, am besten auch gegenüber ihrer eigenen
       Person. Trifft diese Beschreibung auf Sie selbst zu? 
       
       Sie locken meine Eitelkeit. Aber es wäre verwunderlich, wenn ich mich nicht
       selbst so dargestellt wissen wollte. Ich habe mich lange gefragt, warum
       Persönlichkeiten wie Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt und Joachim
       Gauck so große Anerkennung erfahren. Die Menschen entwickeln nur noch wenig
       Sympathie für Politiker, die parteipolitisch als sehr selbstbezogen
       wahrgenommen werden und darüber ihre Realitätswahrnehmung einschränken. Die
       politische Klasse wird teilweise als dumpfbackig wahrgenommen.
       
       Sie teilen diese Wahrnehmung, wie man Ihren Beschreibungen des Innenlebens
       der SPD entnehmen kann. 
       
       Ich habe dort manchmal gelitten. Aber die auch an mir. Vieles ist sehr
       ritualisiert.
       
       Was würden Sie zur Wiederbelebung Ihrer Partei als Erstes unternehmen, wenn
       Sie noch einmal die Position dazu hätten? 
       
       Der Ernstfall der Politik ist die Begegnung mit den Wählern. Politiker
       sollten ihre wesentliche Legitimation nicht in Parteigremien, sondern bei
       den Bürgern erwerben.
       
       Sie machen den hübschen Vorschlag, dass SPD-Abgeordnete ihr Mandat
       verlieren sollten, wenn sie im eigenen Wahlkreis mehrmals weniger Zuspruch
       erhalten, als die Partei insgesamt. 
       
       Ja, ich habe Abgeordnete erlebt, deren Erststimmenergebnis regelmäßig viel
       schlechter ausfiel als das Zweitstimmenergebnis der Partei. Das hinderte
       sie aber nicht, im selbstreferentiellen System der SPD die lauteste Stimme
       zu führen. Mir würde dieser Widerspruch zu denken geben.
       
       Kennen Ihre Kollegen diese Idee schon? 
       
       Nein. Sie wird für einen Aufschrei sorgen. Ein anderes Beispiel: die Jusos.
       Deren jetziger Vorsitzender plädiert dafür, die Rente mit 67 abzuschaffen.
       Damit vertritt er die Interessenlage der 60-Jährigen. Das ist grotesk! Ich
       dachte, das sei eine Jugendorganisation, die für Zukunftsinteressen
       einsteht. Für wen machen die Jungsozialisten denn Politik?
       
       Bis Herbst 2009 waren Sie Vizevorsitzender der SPD. Warum haben Sie eine
       entsprechende Parteireform damals nicht eingefordert? 
       
       Ich habe nicht hinter dem Berg gehalten. Aber solche Vorstellungen treffen
       nicht auf die ungeteilte Zustimmung aller Beteiligten.
       
       Kann man mit diesen Positionen Kanzlerkandidat werden? 
       
       Damit wird man in der SPD wohl eher nicht Kandidat.
       
       Jetzt warnen Sie, dass die Demokratie und der gesellschaftliche
       Zusammenhalt gefährdet seien. Wodurch gerät der Sozialstaat unter Stress? 
       
       Die Einkommen der Beschäftigten driften auseinander. Ein zunehmender Spagat
       entsteht zwischen Arm und Reich. Heute segmentiert sich die Gesellschaft
       außerdem in bildungsferne und bildungsnahe Schichten. Und nicht zu
       unterschätzen ist die demografische Herausforderung: Die Interessen der
       Rentner finden heute oft mehr Gehör als die Anliegen der 20- bis
       40-Jährigen.
       
       In den elf Jahren Ihrer Regierungsverantwortung hat die SPD die
       Sozialleistungen gekürzt und die Steuern für die wohlhabenden
       Bevölkerungsschichten gesenkt. Bestreiten Sie eine Mitverantwortung für die
       Missstände, die Sie nun beklagen? 
       
       Die Hartz-Reformen und rechtzeitige Steuersenkungen für alle, nicht nur die
       Oberen, waren notwendig, damit der Sozialstaat nicht unter den Kosten
       kollabierte und Deutschland auf einen Wachstumspfad zurückkehren konnte,
       statt im Steuersenkungswettbewerb das Rückgrat gebrochen zu bekommen. Vor
       dem Hintergrund der Finanzkrise allerdings ist der Beitrag zu niedrig, den
       die prosperierenden Schichten heute für den Zusammenhalt der Gesellschaft
       leisten. Parallelgesellschaften existieren nicht nur am unteren Ende,
       sondern auch an der Spitze der Einkommenspyramide.
       
       Wie würden Sie dieses Paralleluniversum der Reichen beschreiben? 
       
       Dort leben diejenigen, die sagen: Wir brauchen den Staat nicht, jeder Euro
       Steuerzahlung ist zu viel. Öffentliche Dienstleistungen benötigen wir
       nicht, wir können sie privat kaufen. Deren Wahrnehmung ist abgehoben von
       den Fliehkräften in der Gesellschaft. Diese ist nicht gefährdet durch
       Rechts- oder Linksausleger, sondern durch die Protagonisten des Systems
       selbst. Es sind die Privilegierten, die durch Maßlosigkeit, den mangelnden
       Sinn für Balance und Proportionen, durch eine Bereicherungsmentalität an
       dem Ast sägen, auf dem sie sitzen. Ihnen fehlt der Sinn für soziale
       Bündnisse nach unten, um Verlierer zu integrieren.
       
       Was soll man dagegen tun? 
       
       Diese Leute müssen erkennen, dass ihre übersteigerten Gewinnerwartungen zur
       Zerstörung der Marktwirtschaft führen. Und dass ihre persönliche
       Einkommensentwicklung so nicht weiterlaufen kann. Ich mahne eine sehr viel
       stärkere Gemeinwohlorientierung an. Die kann man nicht durch Gesetze
       verordnen. Das geht nur durch eine breite Debatte. Diejenigen, die sich
       zivilisiert verhalten, sollten mehr öffentliche Anerkennung erfahren.
       
       Hat die Finanzkrise dazu beigetragen, diese Fehlentwicklungen deutlich zu
       machen? 
       
       Ja, die Krise hat als Beschleuniger gewirkt. Viele Menschen haben den
       Eindruck, dass sie anonymen Kräften ausgesetzt sind, auf die sie keinen
       Einfluss haben. Sie fragen sich, ob sie jetzt die Dummen sind, die den
       Preis zahlen müssen.
       
       Liegen sie damit nicht richtig? 
       
       Auf die Steuerzahler kommt in der Tat einiges zu. Deshalb ist es dringend
       angezeigt, den Finanzsektor mit einer Art Umsatzsteuer auf alle
       Finanzgeschäfte an den Kosten der Krise zu beteiligen. Das ist mehr als
       eine ökonomische, sondern auch eine gesellschaftliche Frage.
       
       Als Finanzminister haben Sie sich selbst erst relativ spät für dieses
       Vorhaben ausgesprochen. Da war die Krise schon lange im Gange, und die
       Bundestagswahl 2009 stand vor der Türe. Warum haben Sie diese Idee nicht
       früher propagiert? 
       
       Es war ein gedanklicher Prozess, und es gab gewichtige Gegenargumente.
       Eines davon: Es macht keinen Sinn, eine solche Steuer national zu
       etablieren, weil Finanzgeschäfte dann auswandern. Aber schließlich war ich
       relativ ehrgeizig, das Projekt auf die internationale Tagesordnung zu
       setzen.
       
       Im Buch beschreiben Sie, wie die Bürger den Glauben an die Politik
       verlieren. Wegen der Internationalisierung der Wirtschaft sind den
       nationalen Regierungen oft die Hände gebunden. Und zusammen mit anderen
       Staaten fällt es ungeheuer schwer, Lösungen zu verabreden und umzusetzen.
       Kann die Politik da überhaupt noch gesellschaftlichen Zusammenhalt
       organisieren? 
       
       Wenn sie es nicht immer wieder aufs Neue versucht, verliert sie ihre
       Gestaltungshoheit.
       
       Und wie würden Sie die Finanzsteuer konkret durchsetzen? 
       
       Indem ich schrittweise versuche, voranzukommen. Es gibt ja ein paar Länder
       um uns herum, die diese Umsatzsteuer mittragen würden - Österreich,
       Frankreich, Holland und andere. Die Hälfte der Euroländer könnte man
       wahrscheinlich gewinnen. Damit muss man anfangen.
       
       Ist das jetzt Theorie, oder haben Sie es als Bundesfinanzminister selbst
       ausprobiert? 
       
       Als ich noch im Amt war, habe ich versucht, die internationale
       Meinungsbildung voranzutreiben. Und ich bin enttäuscht, dass die Regierung
       aus Union und FDP jetzt nicht das gesamte Gewicht Deutschlands in die
       Waagschale wirft. Das wäre ein wichtiger Beitrag, um Legitimation für unser
       Gesellschaftsmodell zu organisieren. Die Bürger wollen nicht, dass sie die
       Gelackmeierten einer Krise sind, die andere zu verantworten haben. Das ist
       eine Frage des Fairnessgebotes.
       
       Sie ziehen ein düsteres Fazit der Finanzkrise: Die Regulierung der Märkte,
       die die Regierungen der wichtigsten Industriestaaten ihren Bürgern
       versprochen haben, sei zumindest teilweise gescheitert. 
       
       Es gibt Fortschritte. Aber einige Ursachen dieser Krise sind nach wie vor
       nicht beseitigt. Die Ankündigung des ersten Finanzgipfels von Washington
       2008, dass jedes Produkt, jeder Teilnehmer und jeder Markt einer Aufsicht
       unterworfen werden sollte, ist auch nach vier Finanzgipfeln noch nicht
       umgesetzt.
       
       16 Sep 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hannes Koch
       
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