# taz.de -- Ex-Bahnchef Heinz Dürr über Stuttgart 21: "Die wollen an die Futterkrippe"
       
       > Der Vater des Großprojekts Stuttgart 21, Heinz Dürr, wirft den Gegnern
       > des Bahnhofs vor, dass es ihnen nicht um den Neubau gehen würde: "Die
       > wollen an die Macht."
       
 (IMG) Bild: "Es ist alles längst beschlossen, nach allen demokratischen Regeln."
       
       taz: Herr Dürr, Sie haben als Bahnchef 1994 "Stuttgart 21" auf den Weg
       gebracht. 16 Jahre später gibt es eine deutliche Mehrheit gegen das
       Projekt. 
       
       Heinz Dürr: Ich weiß nicht, ob das eine Mehrheit ist und ob die wissen, was
       eigentlich gewollt ist.
       
       In Umfragen sind zwei Drittel der Stuttgarter gegen die Verlegung des
       Bahnhofs unter die Erde. Das ist keine Mehrheit? 
       
       Glauben Sie allen Umfragen? Umfragen sind Momentaufnahmen medialer
       Ereignisse. Haben Sie zum Beispiel die Ulmer gefragt?
       
       Aber dass die Stimmung sehr aufgeheizt ist, das werden Sie nicht
       bestreiten. 
       
       Stimmt. Und die Medien haben ihren Spaß daran.
       
       Ihr alter Freund, Ex-Daimler-Chef Edzard Reuter, plädiert für einen
       Baustopp, um die verfahrene Situation zu lösen. Schließen Sie sich seinem
       Appell an? 
       
       Nein. Es ist alles längst beschlossen, nach allen demokratischen Regeln.
       Alle Genehmigungen liegen vor. Stuttgart 21 kann so gemacht werden.
       
       Kann, muss aber nicht. 
       
       Natürlich können die Politik und die Bahn einen Rückzieher machen. Das wird
       aber sehr teuer. Man spricht von zwei Milliarden Euro. Aber die
       Bundesregierung und die Landesregierung stehen nach wie vor zu dem Projekt.
       Im Übrigen: Als wir das Projekt 1994 vorgestellt haben, war die Stimmung
       eine völlig andere. Die Leute wollten Stuttgart 21.
       
       Damals wussten sie ja auch noch nicht, wie viel das Projekt wirklich
       kostet. Umgerechnet 2,4 Milliarden Euro hieß es am Anfang, heute sind es
       4,1 Milliarden Euro. Mindestens. 
       
       Kostensteigerungen hat es bei vielen Großprojekten gegeben, aber natürlich
       auch bei der Bahn, denken Sie nur an den Hauptbahnhof in Berlin und den
       Tunnel unter dem Tiergarten. Das hat am Ende auch wesentlich mehr gekostet.
       Heute sind die Leute froh, dass so gebaut wurde.
       
       Bei Stuttgart 21 gibt es Unwägbarkeiten. Geologen sehen als großes Problem
       Gesteinsschichten mit Anhydrid, die bei Tunnelarbeiten unkontrollierbar
       aufquellen könnten. 
       
       Es gibt schon heute kaum eine Stadt, die so untertunnelt ist wie Stuttgart.
       Das ist alles bestens untersucht. Das sind für mich vorgeschobene
       Argumente.
       
       Es geht tatsächlich nicht nur um die explodierenden Kosten. Die Menschen
       haben das Gefühl, Stuttgart 21 sei von Anfang an intransparent abgelaufen. 
       
       Das stimmt doch nicht. Alle Projektschritte wurden der Öffentlichkeit im
       Detail vorgestellt.
       
       Vier Schwaben haben dem Schwabenland 1994 einen Megabahnhof beschert: Sie,
       der damalige Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel,
       Ministerpräsident Erwin Teufel und Bundesverkehrsminister Matthias
       Wissmann. Diese "Maultaschenconnection" hat doch bis heute ein Gschmäckle! 
       
       Das ist doch völliger Quatsch. Dass der Oberbürgermeister ein Stuttgarter
       ist, ist wohl normal. Und dass der Landesvater auch ein Schwabe ist, war
       bisher in Baden-Württemberg auch normal. Dass ich als Bahnchef auch Schwabe
       war, finden Sie ungewöhnlich?
       
       Und der damalige Bundesverkehrsminister Wissmann? 
       
       Okay, der war auch aus dem Ländle.
       
       Deshalb sprechen manche von einer "Maultaschenconnection" oder gar einer
       schwäbischen "Bahnhofsmafia". 
       
       Ich wiederhole: Quatsch. Worum ging es denn damals? Stuttgart bekommt im
       Zentrum 150 Hektar Land für einen neuen Stadtteil. Und die Bahn verbessert
       ihre Verbindungen nicht nur für Stuttgart, sondern für Baden-Württemberg.
       Im Übrigen waren die Bürger die ganze Zeit einbezogen. Wir haben damals
       gesagt, dass Stuttgart dieses Projekt braucht, und die Menschen waren auch
       davon überzeugt. Es gab 1997 eine Bürgerbeteiligung zur städtebaulichen
       Entwicklung, Tausende waren im Rathaus und haben sich die Pläne angeschaut.
       Große Proteste gab es damals nicht.
       
       Dafür haben andere Städte Pläne für einen unterirdischen Bahnhof rasch
       wieder beerdigt. Frankfurt zum Beispiel. 
       
       In Frankfurt war es zu schwierig, es gab schon zwei Ebenen U-Bahn und
       S-Bahn übereinander - und da noch einen Tunnel für die Bahn unten
       durchzubohren, das ging nicht. Frankfurt löst das Problem heute übrigens
       ganz anders. 50 Prozent des Verkehrs fließen nun über den Flughafen und gar
       nicht mehr in die Stadt rein.
       
       Hätte man das in Stuttgart nicht auch machen können? 
       
       Alternativen wurden geprüft und verworfen. Aber wissen Sie, was mich
       ärgert: Wir haben bisher kein einziges Mal über das geredet, um was es bei
       Stuttgart 21 wirklich geht. Die Chancen, die das Projekt für die Stadt
       eröffnet.
       
       Und die wären? 
       
       Die hässlichen oberirdischen Gleisanlagen, die jegliche Stadtentwicklung
       unmöglich machen, fallen weg. Warum redet heute niemand mehr über die
       Möglichkeiten dieses neuen Stadtteils, der im Zentrum entstehen könnte? Das
       muss man den Menschen erklären!
       
       Vielleicht weil viele Bürger glauben, dass hier nicht die Stadt der Zukunft
       entsteht, sondern ein seelenloses Viertel, in dem abends die Bürgersteige
       hochgeklappt werden. 
       
       Muss doch nicht sein. Ich hätte mir hier allerdings auch mehr Mut
       gewünscht. Es gab ja bei dem Wettbewerb um den neuen Stadtteil wirklich
       spannende Entwürfe. Da waren Weltklassearchitekten beteiligt. Renzo Piano
       etwa, der hatte einen grünen Stadtteil entworfen, ohne Autos. Das war der
       Stadt Stuttgart aber dann doch zu modern.
       
       Heute sagen die Stuttgarter: Wir wollen nicht zehn Jahre lang eine
       Baustelle am Bahnhof. 
       
       Aller Schrott und Abraum könnte mit dem Zug abtransportiert werden. So wie
       in Berlin beim Potsdamer Platz.
       
       In Stuttgart fahren nun jahrelang Lastwagen den Dreck weg. Und doch sagen
       Sie: Ein Baustopp oder gar ein Volksentscheid ist der falsche Weg. Man soll
       also alle Widerstände ignorieren? 
       
       Nein, natürlich muss man mit den Leuten reden. Es sind schließlich
       Steuergelder, die hier eingesetzt werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat
       die Landtagswahl im Frühjahr nächsten Jahres zur Abstimmung über Stuttgart
       21 ausgerufen. Das ist ja dann wohl faktisch der Volksentscheid. Wenn
       allerdings die Gegner mit Walter Sittler einen Schauspieler in ihren Reihen
       haben, brauchte man vielleicht auf der anderen Seite auch einen
       Schauspieler.
       
       Außer Scherzen fällt Ihnen nichts ein? 
       
       Ein bisschen Humor muss doch erlaubt sein. Schauen Sie: Es geht doch für
       viele Gegner des Projekts gar nicht um den Bahnhof oder die Zukunft der
       Stadt. Es geht ihnen um etwas ganz anderes.
       
       Worum denn? 
       
       Die Grünen zum Beispiel, die sagen, es gehe ihnen um den Bahnhof. Aber was
       die wollen, ist: an die Macht. Die wollen an die Futterkrippe! Oder nehmen
       Sie einen der Fähnleinführer des Protests, der anscheinend früher bei der
       DKP und bei der PDS gewesen ist.
       
       Sie meinen Gangolf Stocker. 
       
       Natürlich freut sich so einer, wenn er die etablierten Parteien ärgern
       kann. Manfred Rommel hat einmal gesagt, zur Demokratie gehört auch, dass
       nicht jeder Interessenhaufen zum Volk erklärt wird.
       
       Da machen Sie es sich aber sehr einfach. Selbst in Stuttgarter Behörden
       liegen bei den Mitarbeitern inzwischen Gegen-Stuttgart-21-Sticker auf dem
       Schreibtisch. Der Protest hat doch längst andere Schichten erreicht: Ärzte,
       Architekten oder Anwälte. 
       
       Auch manche meiner Freunde sind skeptisch.
       
       Ach. Und was sagen Sie denen? 
       
       Ich erkläre ihnen, was die Idee von dem ganzen Projekt ist, die Vision
       dahinter. Das ist vielen gar nicht bewusst. Klar ist doch: Die Bahn
       überlebt, wenn Stuttgart 21 nicht gebaut wird. Aber Stuttgart bleibt dann
       eben eine Provinzstadt ohne Potenzial.
       
       Es gibt eine Liste von 48 Bahnprojekten in Deutschland, die als notwendig
       eingestuft werden, für die aber das Geld fehlt. Im Interesse aller müsste
       man die Milliarden für Stuttgart 21 anderswo investieren. 
       
       So kann man denken. Aber im Interesse von Baden-Württemberg sollte man das
       Projekt durchziehen. Im Übrigen scheint mir das Hauptproblem ein ganz
       anderes zu sein: In Deutschland haben wir eine grundsätzliche Angst vor
       Neuem. Man kann aber nicht immer nur dagegen sein. Um noch einmal Manfred
       Rommel zu zitieren: Die Forderung, dass nichts geschehen darf, mit dem
       nicht alle einverstanden sind, ist ein beweisbarer Unsinn.
       
       27 Sep 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) I. Arzt
 (DIR) W. Schmidt
       
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