# taz.de -- Debatte Hartz IV: Neofeudaler Elitedünkel
       
       > Brauchen Arbeitslose nur den richtigen Anreiz, um arbeiten zu gehen?
       > Dieser Glaube beruht auf einem zutiefst antiaufklärerischen Menschenbild
       
       Wenn wie jetzt über die Höhe der Unterstützung für erwerbslose Menschen
       gestritten wird, hat sich seit der von Gerhard Schröder verkündeten "Agenda
       2010" ein Glaubensdogma etabliert: Arbeitslose brauchten Anreize, so heißt
       es, damit sie wieder eine Arbeit annähmen.
       
       Dieses Glaubendogma geht davon aus, dass Arbeitsplätze im Prinzip angeblich
       genügend vorhanden wären, das eigentliche Problem sei vielmehr die
       Lustlosigkeit der Arbeitssuchenden. Von sich heraus habe der Mensch, so die
       Unterstellung, auf gar nichts Lust - außer regungslos auf dem Sofa zu
       liegen. Erst wenn ein finanziell messbarer Anreiz vorliege, würden
       Gehirnzellen und Gliedmaße in Bewegung gesetzt. Aber: Ginge es nach diesem
       neoliberalen "Naturgesetz", hätte die taz mit ihren anfangs absolut
       reizlosen Einheitslöhnen niemals gegründet werden dürfen.
       
       Das Menschenbild, das hinter diesem Glaubensdogma steckt, ist mit dem
       emanzipatorischen Teil unserer europäischen Werte absolut unvereinbar:
       Gemeint sind die Würde des Menschen, die Freiheit der Person und Werte wie
       Verantwortung, Selbstverwirklichung, Mündigkeit und demokratische
       Gemeinschaft. Nichts von alldem ist denkbar, wenn man den Menschen auf
       einen rein mechanischen Reiz-Reaktions-Organismus reduziert. Dieses
       Menschenbild entspricht vielmehr jener Psychologie aus dem euphorischen
       Industriezeitalter, die das naturwissenschaftliche Kausalitätsgesetz
       umstandslos auf die Erforschung menschlichen Verhaltens zu übertragen
       versuchte. Sinnbild für dieses Denken ist der pawlowsche Hund, der auf
       einen akustischen Reiz so voraussehbar reagiert wie eine Maschine: ohne
       Reiz keine Reaktion.
       
       Der maschinelle Mensch 
       
       Dieses Modell passte einst gut zum Regime der Arbeitshäuser und
       Besserungsanstalten, die für "umherziehendes Gesinde" eingerichtet wurden.
       Der Mensch sollte - mit Zuckerbrot und Peitsche - an den neuen Rhythmus der
       Maschine angepasst werden. Der Rückgriff auf den Verhaltensmodus von Tieren
       verwundert da kaum, denn die mechanische Psychologie kannte keine Seele.
       Zwischen der Wahrnehmung einer Information (Reiz) und dem darauf folgenden
       Handeln (Reaktion) fehlte die vermittelnde Persönlichkeit. Die
       neoklassische Ökonomie, auf der die Anreiz-These basiert, griff dieses
       Menschenbild auf, um zu begründen, warum der Mensch nur durch ständigen
       Wettbewerbsdruck zur Leistung bereit sei.
       
       Was diesem Homo oeconomicus fehlt, ist das typisch Menschliche: In der
       Bibel ließ Gott den Menschen die Wahl zwischen Gut und Böse. Adam und Eva
       reagierten nicht stumpf auf einen Anreiz, sondern trafen nach Gesprächen
       mit der Schlange und vernünftigen Abwägungen ihre freie Entscheidung, vom
       Baum der Erkenntnis zu kosten. Immanuel Kant nannte dies Autonomie: "Die
       Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein." In der Kritischen
       Psychologie spricht man von Handlungsfähigkeit: Sie besagt, dass jeder
       Mensch von sich heraus über die Fähigkeit verfügt, sein Leben aktiv
       schöpferisch zu gestalten, und über den Impuls, von sich heraus etwas zu
       bewegen.
       
       Pawlowsche Persönlichkeit 
       
       Äußere Anreize steuern das Verhalten nicht mechanisch. Es verhält sich
       genau umgekehrt: Der Mensch steuert sein Verhalten, indem er die Reize aus
       seiner Umgebung sortiert, nach ihrer Bedeutung gewichtet, die einen stärker
       bewertet und andere ausblendet. Er reagiert nicht nur stumpf, sondern steht
       selbst aktiv im Zentrum seiner Wahrnehmung und seines Handelns. In Artikel
       2 der Grundrechte ist dieser Gedanke der Aufklärung verankert: Die freie
       Entfaltung der Persönlichkeit gilt als unverletzbar.
       
       Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs galt diese freie Entfaltung der
       Persönlichkeit als der entscheidende Vorteil unserer "freien Welt"
       gegenüber dem "Reich des Bösen". Nachdem Letzteres verschwunden ist,
       greifen Meinungsführer aus der Wirtschaftslobby immer häufiger auf
       vorbiblische Menschenbilder zurück: Sie billigen den Menschen am Rande des
       Arbeitsmarktes eine eigene, reife Entscheidung nicht mehr zu, sondern
       meinen, sie durch Anreize direkt steuern zu müssen. Der Atomindustrie
       hingegen billigte diese Regierung einen eigenen legitimen Willen zu, den es
       zu berücksichtigen galt.
       
       Der gewöhnliche Mensch gilt in der neoliberalen Ideologie als
       "Gewohnheitstier": Er meide "von Natur aus Veränderungen" und folge seinen
       primitiven Instinkten. Nur die, die so reden, nehmen sich selbst von diesem
       Menschtypus aus. Sie sehen sich dazu berufen, Anreize zu verteilen, ohne
       selbst dazu motiviert werden zu müssen. Das ist neofeudaler Elitedünkel, in
       dem sich eine tiefe Verachtung gegenüber der Aufklärung ausdrückt - gegen
       das autonome Subjekt, das von sich heraus eigenständig fühlt, denkt und
       handelt, ohne sich im vorauseilenden Gehorsam den Geboten der Ökonomie
       unterzuordnen. Tatsächlich bedarf es ja saftiger Anreize, um die Menschen
       in Arbeitsverhältnisse und auf Lohnniveaus zu drücken, wie sie "die Märkte"
       gerade verlangen.
       
       Sind Manager ohne Boni faul? 
       
       Die Manager unserer Skandalbanken bestätigen ihr Menschenbild hingegen auf
       zynische Weise. Ohne sechsstellige Bezüge oder millionenschwere Boni hätte
       ihnen womöglich der Anreiz gefehlt, mit jenen aberwitzigen
       Finanzluftschlössern zu handeln, mit denen sie die Welt vor zwei Jahren bis
       an den Rand des wirtschaftlichen Abgrunds brachten. Heißt das, unsere
       Boni-Banker sind von Natur aus faul? Würden sie ohne Spitzengehälter nur
       träge auf dem Sofa liegen? Zumindest gesteht diese Anreizelite damit ein,
       dass sie selbst kein Konzept von Arbeit besitzt, das auf der Freiheit der
       autonomen Persönlichkeit beruht.
       
       Zwischen Mensch und Arbeit scheint es eine immer größere Kluft zu geben,
       die ruckartig durch Anreize (Armut für die einen und Boni für die anderen)
       überbrückt werden soll. Der zutiefst menschliche Wunsch, "etwas um seiner
       selbst willen gutzutun", den der US-Soziologe Richard Sennett einst im
       Handwerk erkannt hat, braucht jedoch keine Anreize, um sich auszudrücken,
       sondern eine solidarische Gesellschaft, die Sicherheit und Anerkennung
       bietet, um sich schöpferisch entfalten zu können.
       
       6 Oct 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rainer Kreuzer
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA