# taz.de -- Angriff aufs Gymnasium: Viel heiße Luft
       
       > Im Gymnasium lerne man am qualifiziertesten, heißt es allenthalben.
       > Falsch, meint Ursula Leppert. Gymnasiasten sind am ehesten bereit, sich
       > dem Bulimielernen zu unterwerfen.
       
 (IMG) Bild: Unterricht am Gymnasium. Effizienz, Leistungserbringung und Leistungsüberprüfung mit neuen Test- und Evaluationsmethoden sind angesagt.
       
       Das Gymnasium sei die beliebteste Schulart in Deutschland, heißt es immer.
       Dort werde qualifizierter und vertiefter Unterricht gehalten. Die
       Traditionsschule Gymnasium anzugreifen, sei politischer Selbstmord. Der
       Andrang aufs Gymnasium ist in der Tat groß. Was geschieht dort, dass es vor
       allem von Politikern, aber auch von Eltern verteidigt wird?
       
       Die Schüler selbst denken anders. Gymnasiasten gehen eher auf die Straße,
       um für eine andere Schule zu demonstrieren. Denn sie wissen, dass am
       Gymnasium das getan wird, was an allen anderen Schularten, einschließlich
       Förder-/Sonderschule geschieht: Es wird gepaukt und geprüft und ausgesiebt.
       
       Nun könnte man dem gegenhalten, dass dieser Vorgang am Gymnasium auf einem
       höheren Niveau geschieht. Also schwierigere Inhalte intensiver gelernt
       werden.
       
       Lernen, noch dazu vertieftes, bedarf verschiedener Umstände. Zuerst, eine
       Selbstverständlichkeit, die so selbstverständlich nicht ist: Es lernt der
       Schüler. Lernen braucht Zeit und Raum.
       
       Stoff durchpeitschen 
       
       Das verkürzte achtjährige Gymnasium, auch als G 8 bekannt, hat diese Zeit
       nicht. Lehrer, die die Freude und den Erfolg des selbständigen Lernens
       erlebt haben, kritisieren sehr den Zeitmangel am G 8. Er zwingt sie,
       vorgeschriebenen Stoff durchzupeitschen und alle schülerorientierten
       Tätigkeiten einzuschränken. Sie ärgern sich, dass sie wieder die alte Rolle
       des Paukers annehmen müssen.
       
       Fast tragisch zu nennen ist die Wiederauferstehung dieses Relikts aus der
       gymnasialen Tradition. Humanistische Weltsicht, verbunden mit
       naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, Menschen- und Persönlichkeitsbildung
       und die Reflexion großer Zusammenhänge schimmern noch heute in der
       Vorstellung vieler Anhänger dieser alten Eliteeinrichtung. Aber nicht nur
       der Zeitmangel, auch der Mangel an Raum im wörtlichen und übertragenen Sinn
       machen solche Bildungsaktivitäten zur Fiktion. Effizienz,
       Leistungserbringung und Leistungsüberprüfung mit neuen Test- und
       Evaluationsmethoden sind angesagt. Auch wenn die Leistung - was immer das
       ist - mit den alten Klassenarbeiten überprüft wird.
       
       Alles Gerede von der Individualisierung des Unterrichts wird zum Nonsens,
       wenn die individuellen Denkprozesse laufend unterbrochen werden durch
       gerade nicht individuelle Prüfungen, wie es Klassenarbeiten sind. Hier wird
       normiertes Wissen abgefragt.
       
       In einer Leistungsgesellschaft lassen sich allgemein verbindliche
       Wissensnormen nicht vermeiden. Für einen Arbeitsplatz, für den Führerschein
       und so weiter hat sich der Einzelne bestimmten Kompetenzstandards zu
       unterwerfen. Auch diese Prüfungen sind angreifbar und willkürlich - jeder
       kennt solche "ungerechten" Situationen -, aber wir haben nichts anderes als
       diese genormten Prüfungen, weil wir letztlich nicht wissen, wie geistige
       Leistung zu messen ist.
       
       Auch in der Schule werden sich Abschlussprüfungen, so unzulänglich sie sein
       mögen, nicht vermeiden lassen. Aber Prüfungen dieser Art am laufenden Band?
       In einem Alter, in dem Kinder und Jugendliche ihr Denkvermögen erst
       entdecken, es entwickeln, Perspektiven konstruieren, ihre Stärken und
       Schwächen und den Umgang mit ihnen kennenlernen und ihre Persönlichkeit
       aufbauen? In einer Phase, in der es um sie geht, tritt ständig eine
       Prüfungsinstanz mit dem Anspruch der Richtigkeit auf und sagt: "Das und das
       an dir ist falsch!"
       
       Hirn frei 
       
       Auch Schüler, an denen weniger Falschheit gemessen wird, und das sind vor
       allem Gymnasiasten, sehen sich in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt.
       "Ich lerne nur auf Klassenarbeiten, um alles wieder zu vergessen, weil ich
       auf die nächste Klassenarbeit lernen muss. Immer vergessen, damit ich das
       Hirn frei hab für das Nächste, das ich wieder vergessen muss, und so
       weiter", sagt der Schüler eines Gymnasiums. Gymnasiasten sind jedoch eher
       bereit, sich dieser Prozedur zu unterwerfen, weil am Ende eine Belohnung
       winkt, das Abitur. Hauptschülern winkt keine Belohnung. Es ist gerade diese
       klare Einsicht, die sie häufig dazu bringt, die Prüfungsprozeduren der
       Hauptschule zu verweigern.
       
       Prüfungen verletzen die Individualität der Heranwachsenden, konfrontieren
       sie ständig mit Dingen, die allenfalls zufällig mit ihren eigenen
       Denkaktionen zu tun haben. Prüfungen halten als unumstößliches Resultat
       fest, was ständig im Fluss ist. Denken aber als individueller Vorgang
       interessiert in der Schule nicht. Denken überhaupt interessiert nicht.
       
       Es geht nicht. Da ist den Lehrern kein Vorwurf zu machen. Im Gegenteil,
       auch ihr Denken wird auf falsche Pfade gelenkt. Nach einer Phase
       produktiven Unterrichts droht auch ihnen die Prüfung. Die sie nicht
       bestehen, die sie aber entwerfen müssen. Sie haben mit den Schülern
       intensiv gearbeitet, mit welchen Methoden, ist zweitrangig. Selbst der
       jetzt so geschmähte Frontalunterricht kann als Phase produktiv sein. Wenn
       es dem Lehrer gelingt, das Interesse der Schüler so zu wecken, dass sie "an
       den Lippen des Lehrers" hängen und gebannt zuhören, was er ihnen als
       Neuigkeit, als Denkanstöße zu vermitteln hat. Entscheidend ist, dass sie
       dann die Möglichkeit haben, selbständig weiterzuarbeiten. Diese Möglichkeit
       aber wird unterbrochen durch die nächste Prüfung. Schüler sagen es uns
       klar, aber wir nehmen sie nicht ernst: "Jetzt, wenn wir verstanden haben,
       um was es geht, wird ein neues Thema begonnen - und wir stehen wieder blöd
       da."
       
       In der Klassenarbeit geht es nicht mehr um individuelle Denkprozesse,
       sondern um Sachverhalte, die der Lehrer nun als allgemein verbindlich
       vorlegen muss. Da geht es dann um Durchschnittswissen, um kanonisch
       festgelegte Wissensinhalte, die der Lehrplan vorschreibt. Wissensinhalte,
       die kleinschrittig aufbereitet sind, eindeutig in der Zielrichtung, fern
       von Problemerwägungen und Grenzen des Wissens. Sollten sich doch Probleme
       einschleichen, werden Betrachtungen derselben aufgezählt und festgelegt.
       Sogenannte Selbstverständlichkeiten korrekturfreundlicher Art.
       Alternativen, subjektive Erwägungen sind Störfaktoren.
       
       Oft sind Prüfungsfragen von einer Einfachheit, die gerade bei Nichtlehrern
       Verwunderung hervorruft. Aber: Einfachheit ist eindeutiger als Komplexität
       und sie ist einfacher und eindeutiger zu korrigieren. Dass die Ergebnisse
       zufällig oder falsch sind, interessiert in unserem Schulsystem nicht. Wer
       was wie kann - nicht wer wo steht -, lässt sich in Gesprächen viel besser
       und richtiger feststellen. In Gesprächen, in denen Lehrer und Schüler über
       Kompetenzen nachdenken.
       
       Die vielen Prüfungen haben mit der Qualität des Unterrichts nichts zu tun.
       Im Gegenteil, sie stören persönlichkeitsbildendes Lernen. Prüfungen, gleich
       welcher Art, stören den Unterricht. Sie dienen ausschließlich der
       Einordnung in unserem gegliederten Schulsystem. Auch dem Gymnasium dienen
       sie nicht.
       
       Der Ort der abendländischen Bildung mutiert zu einem Ort der Paukerei von
       Banalitäten. Das Gymnasium lebt von seinem Ruf, von den Projektionen seiner
       Anhänger, vielleicht auch von Bildungssehnsucht - und von dem Schein, den
       es nach acht Jahren Paukerei verleiht, dem höchsten Schulabschluss Abitur.
       
       Es ist viel heiße Luft, die den Ballon "Gymnasium" in Höhen treibt. Die
       vielen Beteiligten, Schüler, Lehrer, Eltern und Bildungspolitiker, können
       ihre persönlichen Ziele, die gesellschaftlichen Realitäten und die
       bildungspolitischen Reformnotwendigkeiten kaum mehr erkennen. Vielleicht
       ist es einfach höchste Zeit, dass dieser Ballon platzt - und den Weg frei
       macht für einen neue offene Lernkultur für alle.
       
       13 Oct 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ursula Leppert
       
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