# taz.de -- Debatte Deutschsein: Ärger mit der Identität
       
       > Warum verfängt die Muslimenschelte? Offenbar weiß man nicht, was
       > Deutschsein im Kern ausmachen soll - und braucht einen neuen Feind.
       
       In den Zeitungen der vergangenen Tage schienen wieder einmal Chimären der
       kulturellen Reinheit auf. Da erklärt das Feuilleton, was und wie der Islam
       wirklich ist, anstatt innermuslimische Dispute und Realitäten in ihrer
       Vielfalt zur Kenntnis zu nehmen. Wieder werden Idealtypen des "Deutschen"
       und des "Islams" gegeneinandergestellt. In einem Mantra der
       Selbstvergewisserung dient der Islam erneut als Projektionsfläche für die
       nationale Identität.
       
       Von welcher Kultur redet ihr? 
       
       Wenn der Bundespräsident "Islam" sagt, versteht mit dem Automatismus eines
       Pawlowschen Reflexes die FAZ "Kultur" und die Kanzlerin "Gesetz". Welcher
       Kulturbegriff wird hier eigentlich bemüht? Ein fester unbeweglicher, der
       Kultur als Rahmen aus Stahl und Beton, als Korsett und nicht selten als
       Rechtsauffassung versteht. Kultur wird hier mit Geschichte gleichgesetzt,
       nicht selten verpackt in der biologistischen Metapher der Verwurzelung. Ein
       Kulturbegriff, der alles zu erklären vorgibt und damit soziale Ungleichheit
       und strukturelle Diskriminierung verschleiert.
       
       Die Kulturdebatte zielt auf Exklusion ab und entblößt, dass die Rede vom
       jüdisch-christlichen Europa nicht viel mehr als ein Euphemismus ist. Ein
       Euphemismus, der sich auf die weit zurückliegende Vergangenheit bezieht,
       nicht auf das Zusammenleben in der Gegenwart, wenn der jüdische Anteil
       deutscher Kultur in Diskussionen um die Rede des Bundespräsidenten auf die
       jüdischen Wurzeln des Christlichen verkürzt wird.
       
       Die christliche Tradition sei ohne ihre jüdischen Wurzeln schließlich nicht
       denkbar, wurde ein bayerischer Bundestagsabgeordneter in den vergangenen
       Tagen nicht müde zu betonen. Hier entblößt die Rede von der
       christlich-jüdischen Geschichte eine perfide Doppelbödigkeit. Unter dem
       Vorwand, es in das deutsche Nationenkonzept einzubeziehen und anzuerkennen,
       wird das deutsche Judentum schlichtweg negiert.
       
       Doch liegt sein Anteil nicht im jüdischen Leben und dem
       geistesgeschichtlichen Beitrag jüdischer Intellektueller, Musiker und
       Schriftsteller zu nationalen Kulturschätzen? In der Gegenwart schaffen nun
       auch Musliminnen und Muslime in Deutschland deutsche Kultur, die
       mittlerweile nationale und internationale Anerkennung erfährt. Sie prägen
       damit neben der Kultur auch das deutsche Selbstverständnis. Nicht zuletzt
       geschieht dies vor dem Hintergrund von kontroversen Auseinandersetzungen
       mit islamisch-theologischen Konzepten.
       
       Das Wesen der Scharia, die dieser Tage als so eindeutig vorgestellt wird,
       ist dabei Gegenstand einer Auseinandersetzung. Anstatt dies wahrzunehmen,
       wird erneut eine extremistische Begriffsdeutung von Scharia aufgegriffen
       und zur Norm erklärt. Denn wenn die Kanzlerin Grundgesetz gegen Scharia
       setzt, bezieht sie sich auf ein Konzept der Scharia als positives Recht,
       auf Körperstrafen der Taliban, und ignoriert dabei, dass die Scharia von
       der Mehrheit der Muslime in Deutschland als Richtlinie für religiöses Leben
       vom Gebet über das Fasten bis hin zur Fürsorge für Nachbarn, Alte und
       Gebrechliche im Einklang mit der deutschen Verfassung gelebt wird.
       
       Wenn Scharia als Schlagwort für Tyranneien genutzt und gegen die deutsche
       Verfassung gestellt wird, werden andere Schariakonzepte über den Kamm des
       islamischen Rechts geschert und erhalten eine ebenso heftige Absage. Wenn
       aber Musliminnen und Muslime in Deutschland willkommen sind, dann gehören
       dazu auch solche Debatten über die Auslegung der Scharia und den Islam in
       Deutschland.
       
       Projektionsfläche Islam 
       
       Warum entbrennt der derzeitige Streit um die Zugehörigkeit des Islams
       gerade jetzt? Einen äußeren aktuellen Anlass gab es nicht. Keine Gewalttat.
       Keine Forderung nach der Einführung islamischen Rechts von muslimischer
       Seite. Er ist vielmehr Symptom für die akute Krise des nationalen
       Selbstverständnisses.
       
       In den vergangenen Dekaden haben sich die Grenzen der deutschen Identität
       mehrfach verschoben: mit der deutsch-deutschen Einheit, der Öffnung der
       Staatsangehörigkeit für Migranten und schließlich der Integration
       Deutschlands in ein größeres Ganzes, die Europäische Union, die nicht nur
       die Durchlässigkeit der Landesgrenzen nach sich zog.
       
       Nachdem verstärkt durch die Globalisierung ethnische sowie religiöse
       Pluralität im Alltag sichtbar und erlebbar geworden sind, stellt sich die
       Frage danach, was Deutschland im Kern ausmacht, neu. Und der Islam bildet
       derzeit die schillerndste Folie vom konträr "Anderen", vor dessen
       Hintergrund das "Wir" als entwickelt, aufgeklärt und geschlechtergerecht
       gezeichnet werden kann. Je brutaler, verbohrter und rückständiger die
       "fremde Religion" dabei gezeichnet werden kann, desto größer der Effekt für
       die Positionierung des eigenen Selbstverständnisses.
       
       Wir definieren euch 
       
       Wenn Politik und Feuilleton nur um sich selbst kreisen, ist diese Debatte
       dann überhaupt einen Kommentar wert? Leider ja, denn sie erhält einen
       prominenten Platz in den deutschen Medien und wirkt sich machtvoll auf die
       Lebenswirklichkeiten von Menschen mit südländischem Aussehen und
       Hintergrund in mehrheitlich muslimischen Ländern aus. Denn Aussagen über
       die Monstrosität des Islams zwingen sie in religiöse Identitäten hinein und
       beschwören solidarische Betroffenheitsgefühle herauf.
       
       Seit Jahren stehen Islam und Muslime in Deutschland im Zentrum öffentlicher
       Debatten, die die religiöse Identität insbesondere im Bezug auf
       Zugewanderte betonen. Inzwischen wurde der Muslim zum Inbegriff des
       Migranten. Dabei sind längst nicht alle Muslime Migranten und nicht einmal
       die Hälfte der Zugewanderten in Deutschland Muslime. Die von Sarrazin,
       Seehofer und auch der Zeit befeuerten Debatten aber machen sie zu Muslimen.
       
       Sie lassen sich als Teil eines neuen "Wir" sehen, das sie vorher nicht
       gedacht haben - und das keineswegs nur angenehm ist. Diese Muslimisierung
       platziert Eingebürgerte und geborene Deutsche muslimischen Glaubens oder
       Abstammung außerhalb des deutschen Nationalverständnisses. Sie entfremdet
       deutsche Muslime, weil sie als Subtext die Botschaft trägt: "Ihr gehört
       nicht dazu." Wir können euch und euren Glauben definieren, aber ihr habt
       keine Aktien, über das Wesen des Deutschen mitzureden.
       
       Schließlich rufen unqualifizierte normative Äußerungen über den Islam nach
       einer Gegenrede, weil sie extremistisches Gedankengut kultivieren - und
       zwar mithilfe einer Sprache der Ausgrenzung. Es sind immer die fremdesten,
       häufig das ehemals Eigene und damit als Überwundene spiegelnde
       Vorstellungen, die gebetsmühlenartig von der ostdeutschen Atheistin bis zum
       katholischen Politiker als typisch islamisch mit normativem Anspruch
       vorgetragen werden. Und auch diese Gegenrede fühlt sich wie ein Mantra an.
       Die Autorin ist nicht die erste, die es vorträgt, und hofft doch, dass dies
       das letzte Mal sein kann.
       
       14 Oct 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Riem Spielhaus
       
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