# taz.de -- Interview mit Leiter von türkisch-arabischer Vätergruppe: "Integration muss man wie ein Baby pflegen"
       
       > Kazim Erdogan leitet Berlins erste türkisch-arabische Vätergruppe. Die
       > Thesen Horst Seehofers findet er beleidigend.
       
 (IMG) Bild: Der Psychologe Kazim Erdogan wird mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
       
       taz: Herr Erdogan, Sie sind türkisch-kurdischer Alevit, gehören also zu der
       Gruppe von Migranten, für die der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer einen
       Zuwanderungsstopp fordert. Wie fühlen Sie sich, wenn sie so etwas hören? 
       
       Kazim Erdogan: Auch wenn ich eine Zuwanderungsgeschichte habe, habe ich
       mich bisher nie als Migrant gefühlt. Es ist beleidigend, was Herr Seehofer
       sagt. Aber vor allem tut es mir weh für meine beiden Töchter, die hier in
       Berlin geboren wurden. Sie haben bisher nie ihre Heimat Deutschland
       hinterfragt, aber genau das tun sie nun. Sie wissen nicht, ob sie hier
       angst- und vorurteilsfrei leben können.
       
       Andererseits sind Sie gut integriert: sprechen Deutsch, fallen dem
       Steuerzahler nicht zur Last, Ihre Töchter sind auf dem Gymnasium, Sie und
       Ihre Frau arbeiten im sozialen Bereich. Fühlen Sie sich trotzdem
       angesprochen? 
       
       Natürlich, vor allem werde ich in eine Situation katapultiert, die ich mir
       nie ausgesucht habe. Ich muss alle Islamisten, Fundamentalisten und
       Integrationsverweigerer verteidigen - weil alle über einen Kamm geschert
       werden. Außerdem werde ich ständig von Fremden gefragt, ob und was für ein
       Muslim ich denn sei. Ich bin gar nicht gläubig, muss mich aber ständig
       verteidigen.
       
       Sie müssen sich rechtfertigen, weil Sie gut integriert sind? 
       
       Ja, weil nicht mehr unterschieden wird. Es gibt viele Migranten wie mich,
       die aber nicht gesehen und deren Bemühungen nicht geschätzt werden. In die
       Talkshows werden nur die Kritiker oder scharfen Verteidiger mit Kopftuch
       oder langem Bart eingeladen. Der normale Migrant kommt in den Medien nicht
       vor.
       
       Sie arbeiten als Psychologe im "A-Bezirk" Neukölln ("A" für Alte,
       Arbeitslose, Ausländer, Alleinerziehende) überwiegend mit muslimischen
       Migranten. "Es ist doch klar, dass sich Zuwanderer aus anderen
       Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern insgesamt schwerer
       tun", sagt Seehofer. Beobachten Sie das auch? 
       
       Integration ist wie ein Baby und muss jeden Tag gepflegt werden. Und das
       von allen Seiten und Schichten unserer Gesellschaft. Nur mit Gesetzen von
       oben kann man keine Verständigung verordnen. Dass nicht alle Menschen im
       Gleichschritt marschieren, nicht alle die gleichen Perspektiven haben, ist
       doch normal. Übrigens geht es meinen deutschen Landsleuten da auch nicht
       anders. Natürlich bekomme ich mit, dass sich immer mehr Migranten abkapseln
       und Zuflucht in ihrem Glauben suchen. Ich sehe auch die zunehmende Anzahl
       verschleierter Frauen, die in Neukölln hinter ihrem Mann laufen.
       
       Sie leiten Deutschlands einzige türkische Vätergruppe. Haben die Männer die
       Thilo-Sarrazin-Welle mitbekommen? 
       
       Wir haben in unserer Männergruppe ausführlich über das Phänomen gesprochen,
       gemeinsam das Buch gelesen und analysiert. Denn er hat ja über uns
       geschrieben, obwohl er uns gar nicht kennt. Deswegen haben wir Herrn
       Sarrazin ein Buch über unsere Männergruppe mit einer Widmung und einer
       Einladung geschickt. Bis heute haben wir keine Antwort erhalten.
       
       Was haben die Menschen in Neukölln zu Ihnen gesagt? 
       
       Mich erreichen jeden Tag Briefe, Mails und Telefonate von geschockten
       Migranten. Die Menschen erzählen mir, sie würden nun auf der Straße
       häufiger diskriminiert als früher. Sie sagen, sie fühlen sich beobachtet,
       sie werden angeschielt.
       
       Früher haben die meisten Muslime hier so normal gelebt, dass sie lange Zeit
       von der Mehrheitsgesellschaft nicht wahr- oder ernstgenommen wurden. Seit
       dem 11. September 2001 sieht die Welt anders aus, seit Thilo Sarrazin hat
       sich Deutschland verändert. Warum kann ein Einzelner diese Debatte so stark
       entfachen? 
       
       Wir leben in einer im Innersten zutiefst verunsicherten Gesellschaft. Beide
       Seiten leiden unter großen Angstzuständen. Deswegen hat ein Großteil der
       Migranten momentan das Gefühl, dass die Deutschen Ausländerfeinde sind. Sie
       verstehen nicht, dass nicht unterschieden wird. Die Islamisten werden mit
       den durchschnittlichen Muslimen zusammengetan, die normalen Arbeiter mit
       den Integrationsverweigerern. Die Deutschen haben seit Erscheinen dieses
       Buchs Angst, die Migranten - insbesondere die Muslime - würden Deutschland
       demnächst erobern.
       
       Schürt Sarrazin Hass gegen Ausländer - oder spricht er unangenehme
       Wahrheiten aus? 
       
       Er macht beides. Aus Sicht meiner deutschen Landsleute ist die Debatte
       übrigens nicht unangenehm. Sie fühlen sich jetzt dazu berechtigt, sagen zu
       können, was sie schon immer mal loswerden wollten - heute halt unter dem
       Deckmantel Sarrazins. Aus meiner persönlichen Sicht sind seine Thesen
       menschenverachtend und rassistisch - ich schäme mich für ihn. Natürlich
       haben wir Probleme, aber zu einem besseren Miteinander trägt Sarrazin
       nichts bei, er bietet keine Lösungen an. Seitdem sein Buch erschienen ist,
       nimmt die Debatte zulasten der Migranten beängstigende Formen an.
       Ressentiments werden mehrheitsfähig werden, weil sie nicht von "rechts"
       daherkommen, sondern aus der "Mitte". Ich halte die mittelbaren Folgen für
       gravierend. Denn wir schaden der Integration, indem wir Leute verunsichern
       und Grenzen hochziehen. Was wir hier in Neukölln erreicht haben, hat
       Sarrazin wieder zunichte gemacht. Deswegen müssen wir schnell wieder
       zueinander finden. Sonst entsteht eine zu große Lücke, die wir nicht wieder
       schließen können.
       
       Bundespräsident Wulff hat in seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutsche
       Einheit gesagt: "Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland." 
       
       Wenn er sich schon des Islams annimmt, dann hätte Wulff sagen müssen,
       welchen Islam er meint. "Der Islam, der mit unserer Verfassung vereinbar
       ist", hätte es heißen müssen.
       
       Es wird gerade so getan, als habe sich in den vergangenen Jahren niemand
       vernünftig mit dem Thema Integration auseinandergesetzt. Stimmt das? 
       
       Das macht mich rasend. Wir von der Basis machen schon seit langem auf die
       Schwierigkeiten aufmerksam. Aber erst seit der Weltwirtschaftskrise
       beschäftigt man sich wieder mehr mit diesem Thema, weil man einen
       Sündenbock braucht. Periodisch taucht das Thema eigentlich immer wieder
       auf, das geschieht in Wellen und ist ganz normal. Die momentane Dauer aber
       nicht. Dieser Punkt zeigt, unter welchen Problem die Gesellschaft hier
       leidet: Wir kommunizieren zu wenig miteinander. Es wird lediglich in
       Talkshows oder Parlamenten debattiert. Wenn die Politiker und sogenannten
       Experten ihre Redezeiten unterstützend in den migrantischen Familien
       verbringen würden, hätten wir in drei Monaten ein neues Deutschland.
       
       Die Islamfeindlichkeit ist weit verbreitet, aber wie schaut es mit der
       Deutschenfeindlichkeit aus? 
       
       Natürlich gibt es Türkenfeinde, Russenfeinde und auch Deutschenfeinde. Wenn
       Migranten andere diskriminieren, dann ist das keinesfalls zu akzeptieren.
       Dann müssen Pädogogen dagegen vorgehen, Ali und Hasan müssen lernen, dass
       es für so etwas Konsequenzen gibt.
       
       Man hört gerade von Neuköllner Schulhöfen, dass türkisch- oder
       arabischstämmige Jugendliche ihre deutschen Mitschüler diskriminieren.
       Woher kommt dieses Mobbing? 
       
       Die Menschen sind hier geboren, sind also Produkte dieser Gesellschaft. Der
       Verteilungskampf in unserer Gesellschaft wird ja immer härter, was
       Vorurteile und Eifersüchteleien noch verstärkt. Wenn die Jugendlichen das
       Gefühl erhalten, sie und ihre Familien seien nicht willkommen, dann
       entwickeln sich solche Aggressionen. Aber es darf nicht der Eindruck
       entstehen, als sei das überall in Deutschland so.
       
       Sie sind Psychologe. Was würde Seehofer und Sarrazin guttun? 
       
       Sie beide brauchen Gesprächspartner mit einem Migrationshintergrund. Wir
       laden beide herzlich in unsere türkische Vätergruppe ein.
       
       16 Oct 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cigdem Akyol
 (DIR) Mahmut Hamsici
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Ehrenamt
       
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