# taz.de -- Cem Özdemir über den Grünen-Höhenflug: "Wir sind keine Dagegen-Partei"
       
       > Eine Koalition mit der Union nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg
       > sieht Grünen-Chef Özdemir nicht. Zu verhärtet seien die Fronten - auch
       > beim Projekt "Stuttgart 21".
       
 (IMG) Bild: Für eine Modernisierung der Bahn-Strecken anstatt "Stuttgart 21": Grünen-Chef Özdemir.
       
       taz: Herr Özdemir, der momentane Höhenflug der Grünen erinnert an die FDP
       vor der jüngsten Bundestagswahl. Kann Ihre Partei diese irrationalen
       Hoffnungen überhaupt erfüllen? 
       
       Cem Özdemir: Irrational war das Steuersenkungsversprechen der FDP. Wir
       verfallen nicht in einen Höhenrausch, weil wir auf die Gesamtheit der
       Probleme schauen und an unseren Konzepten arbeiten. Das ist doch gerade der
       Grund für die Unterstützung.
       
       Die extreme Steigerung Ihrer Umfragewerte hat doch nichts damit zu tun,
       dass alle auf einmal grüne Inhalte toll finden. Eher sind Sie zu einer
       Projektionsfläche geworden. 
       
       Die Umfragewerte haben auch mit Schwarz-Gelb zu tun. Diese Lobbypolitik der
       Kanzlerin und ihres Kabinetts wäre selbst in der Ära Kohl kaum vorstellbar
       gewesen: für die Pharmalobby, für Privatversicherte, für die vier großen
       Stromkonzerne et cetera. All das ärgert offensichtlich auch die
       Wählerschaft von CDU, CSU und FDP. Das merken wir, wenn selbst Handwerker
       zu uns kommen und sagen, sie wehren sich dagegen, wie sie die Union für
       blöd verkauft.
       
       Sie haben so viel Zustimmung, dass die Nachfrage nach Grünen das Angebot
       übersteigt. Wie wollen Sie die Landtage personell besetzen? 
       
       Wir haben dieses Problem. Aber unsere Leute sind sehr gut, so dass ich mir
       wenig Sorgen machen muss. Außerdem hängen Angebot und Nachfrage bekanntlich
       zusammen, wir haben so viel Nachwuchs wie noch nie. Ich will aber nicht
       verhehlen, dass wir eine Menge Baustellen haben und dass das
       Umfragewachstum das der Mitglieder übersteigt. Vor allem arbeiten wir mit
       demselben Apparat wie bei 10,7 Prozent nach der Bundestagswahl, aber bei
       extrem steigenden Anforderungen.
       
       Sie profitieren von der Wut auf Stuttgart 21. Surfen die Grünen auf dem
       Protest gegen den Bahnhof einfach mit? 
       
       Der Versuch der Befürworter, den Stuttgart-21-Protest als Anti-Bahn-Protest
       zu brandmarken, ist gescheitert. Stuttgart 21 ist kein Bahnprojekt, sondern
       eines von großmännischen Politikern, die die Bahn zuvor systematisch
       kaputtgemacht haben. Die Leute sagen zu Recht: Dann kann man doch mit einem
       Bruchteil des Geldes den bestehenden Bahnhof modernisieren, und die Strecke
       nach Ulm kann man ausbauen, ohne dass man dafür eine Neubaustrecke baut mit
       einer Steigung, die aufgrund der Steigung für den Güterverkehr nutzlos ist.
       Das Problem ist, dass man so tut, als hätte man es mit einer dummen
       Bevölkerung zu tun.
       
       Also doch: Die Partei der Grünen stellt sich populistisch gegen "die
       Politik". 
       
       Wir sind doch keine Dagegen-Partei, bloß weil wir auf die Kostenexplosion
       und die massiven geologischen Risiken von Stuttgart 21 hinweisen. Ich bin
       für eine Modernisierung des Kopfbahnhofs, für einen viergleisigen Ausbau
       der Rheintalbahn, den Ausbau der Strecke Mannheim-Frankfurt. Ich bin für
       Netze, die wir zum Ausbau regenerativer Energien brauchen, damit der Strom
       von der Nord- und Ostsee zu den Verbrauchszentren kommt. Wir sind nicht
       technikfeindlich, wir sind nur gegen Projekte auf Betonfüßen, die sich als
       schwachsinnig erwiesen haben.
       
       Bislang ist die Alternative zu S 21, Kopfbahnhof 21 oder K 21, nur eine
       Projektidee. 
       
       Dafür können Sie die Gegner von Stuttgart 21 nicht verantwortlich machen.
       Die Bahn hat auf Druck der Politik einseitig auf eine Karte gesetzt und
       Alternativen nicht ernsthaft erwogen.
       
       Aber man kann Ihnen den Vorwurf machen, dass Sie, sobald es konkret wird,
       für etwas sind, das man nicht einfach so umsetzen kann. 
       
       Das stimmt nicht. Man könnte ohne Weiteres für eine Modernisierung der
       bestehenden Strecke sein. Die Franzosen haben vor Straßburg auf ihrer
       TGV-Strecke bereits modernisiert. Wie sieht es auf der anderen Seite aus?
       Da kann man, wenn man über die Magistrale spricht, noch viel tun.
       
       Schön, aber wie wollen Sie denn Stuttgart 21 verhindern? 
       
       Lassen Sie uns die Schlichtungsgespräche und die Landtagswahl abwarten.
       Wenn wir eine Mehrheit haben, dann werden wir die Bevölkerung fragen. Wenn
       die Mehrheit Stuttgart 21 ablehnt, dann kommt es nicht. Wenn sie dafür ist,
       dann kommt es eben.
       
       Läuft es in Baden-Württemberg wie in Hamburg beim umstrittenen
       Kohlekraftwerk Moorburg? Nach der Wahl bemerken Sie plötzlich, dass sich
       das Projekt nicht mehr stoppen lässt? 
       
       Wenn die Mehrheit der Bevölkerung Nein sagt, dann ist das Projekt tot und
       begraben. Bis dahin setzen wir auf den Schlichter Heiner Geißler.
       
       Wenn die Bahn weitermacht, dann werden die Kosten für einen Ausstieg zu
       hoch sein. 
       
       Die Strategie des Bahnchefs ist klar: so viele Aufträge vergeben wie
       möglich und dann sagen, ein Ausstieg sei zu teuer. Heute geht das noch. Das
       Szenario, es würde 1,4 Milliarden Euro kosten, hat sich als falsch
       erwiesen. Es sind maximal 500 Millionen Euro, die Rückabwicklung des
       Grundstücksverkaufs zwischen Bahn und Stadt Stuttgart sind ja keine echten
       Kosten, sondern eine Umbuchung öffentlicher Gelder. 500 Millionen sind eine
       Summe, die ärgerlich ist, aber angesichts der Kosten für den Tiefbahnhof
       und die Neubaustrecke von bis zu 18 Milliarden Euro, wie sie unabhängige
       Gutachter prognostizieren, mehr als vertretbar. Zumal dadurch viele andere
       Projekte verhindert werden. Stuttgart 21 ist ein Kannibale.
       
       Ihr Grünen-Spitzenkandidat in Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, war
       immer für Schwarz-Grün. Kann er auch Rot-Grün? 
       
       Auch er entscheidet nach Inhalten. Wenn rechnerisch eine
       Regierungsbeteiligung möglich sein sollte, dann mit der Partei, mit der wir
       die meiste grüne Politik umsetzen können. Das ist ganz klar die SPD. Die
       CDU hingegen verhärtet und radikalisiert sich. Das erklärt, warum sich
       gerade wertkonservative Wähler in Scharen von der Union abwenden und sagen:
       Die Grünen kann man wählen. Das haben wir auch Winfried Kretschmann zu
       verdanken, der diesen Acker seit Jahren pflügt und unser Profil maßgeblich
       geprägt hat.
       
       Mit der CDU regieren Sie in Stuttgart also auf keinen Fall? 
       
       Ich sehe nicht, wie das gehen soll, so schnell, wie die Union sich von
       unserer Politik entfernt.
       
       Falls Sie in Stuttgart bald mitregieren, erben Sie die Neuverschuldung von
       4,5 Milliarden Euro. Laut Schuldenbremse in der Landesverfassung müssen die
       wieder abgebaut werden. Wie soll das gehen? 
       
       Es wird beinhart werden. Die Politik muss sich auf Investitionen in wenigen
       Hauptfeldern konzentrieren: beim Klimaschutz und bei der
       Bildungsgerechtigkeit. Auch die Länderhaushalte werden aber nicht zu
       sanieren sein, wenn wir die Einnahmeseite nicht verbessern. Wir werden den
       Spitzensteuersatz erhöhen müssen, eine Vermögensabgabe zeitlich befristet
       einführen, die Erbschaftssteuer reformieren und ökologisch schädliche
       Subventionen in Milliardenhöhe streichen.
       
       Die Grünen sind in der Integrationsdebatte merkwürdig still. Haben Sie
       nichts zu sagen? 
       
       Natürlich, aber meine Meinung ist einigen offenbar nicht schwarz-weiß
       genug. Diese Debatte kann man aber auf intellektuell redliche Art nur mit
       Grautönen führen. Ich kann nicht sagen: Hier ist der arme Migrant und dort
       die böse deutsche Mehrheitsgesellschaft. Andererseits weiß ich zu gut, was
       Diskriminierung und Benachteiligung sind, als dass ich wie manche sagen
       könnte: Die bösen Migranten sind an ihrer Lage allein schuld.
       
       Seehofer verlangt den Einwanderungsstopp für Menschen aus "fremden
       Kulturkreisen". 
       
       Während sein Gesundheitsminister Söder in die Vereinigten Arabischen
       Emirate reist und für den Medizinstandort München wirbt, wo sich reiche
       Araber operieren lassen, während ihre verschleierten Frauen zum Shoppen
       begleitet werden. Da passt es dann mit dem Kulturkreis und der Burka
       offenbar. Es geht Seehofer nicht um Inhalte, sondern nur darum, Stimmungen
       zu bedienen oder zu schaffen.
       
       Gilt das auch für Familienministerin Schröder, die über
       "Deutschenfeindlichkeit" unter Jugendlichen klagt? 
       
       Natürlich muss man diese Dinge ansprechen. Es gibt ja keinen Rassismus
       erster und zweiter Klasse. Wir dürfen auch nicht wegschauen, wenn
       Angehörige von Minderheiten selbst andere diskriminieren. Wir müssen in der
       Lage sein, im Notfall gegen die Familie und gegen ein sozial und kulturell
       isoliertes Milieu zu erziehen. Wir müssen die Schulpflicht durchsetzen und
       ein flächendeckendes Angebot von Kita-Plätzen schaffen. Mit mir kann man
       über eine Kindergarten-Pflicht reden. Helfen würde auch ein Ende der
       Kettenduldungen. Wer Menschen einen gesicherten rechtlichen Status gibt,
       ihnen die Möglichkeit eröffnet zu arbeiten, der hilft den Lehrern,
       Sozialpädagogen, Erziehern und überforderten Eltern.
       
       Bringt ein Punktesystem etwas, das die berufliche Eignung von Einwanderern
       messen soll? 
       
       Wir fordern schon lange ein Punktesystem. Es ist ein guter Weg, um die
       notwendige Einwanderung von Fachkräften so zu gestalten, dass sie mit
       klaren Kriterien transparent und nachvollziehbar verläuft, auch für
       diejenigen, die dafür gewonnen werden sollen. Die FDP bewegt sich hier ja
       offenbar etwas, bei der Union sehe ich das aber nicht.
       
       18 Oct 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ingo Arzt
 (DIR) Matthias Lohre
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Stuttgart 21
 (DIR) Schwerpunkt Stuttgart 21
 (DIR) Schwerpunkt Stuttgart 21
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Schüler-Proteste gegen "Stuttgart 21": Innenminister knöpft sich Eltern vor
       
       Bundesinnenminister de Maizière hat einen "Missbrauch des
       Demonstrationsrechts" beim Bahnprojekt "Stuttgart 21" kritisiert. Der
       Grünen-Chef bezeichnete die Äußerung als "Offenbarungseid".
       
 (DIR) SPD zu "Stuttgart 21": Die schärfste Waffe
       
       Nach dem Polizeieinsatz fordert die Basis der Südwest-SPD einen
       Untersuchungsausschuss. Die Sozialdemokraten kündigen einen neuen
       Politikstil an.
       
 (DIR) Schlichtungsgespräche Stuttgart 21: Der heilige Widerstand
       
       Einige Gegner verabschieden sich von den Schlichtungsgesprächen. Droht die
       Spaltung? Die Aktivisten sagen, dies sei Strategie. Geißler hebt das
       Demonstrationsrecht hervor.
       
 (DIR) Kommentar Suttgart 21: Geißler braucht einen Fahrplan
       
       Die SPD in Baden-Württemberg fordert einen Volksentscheid und damit das
       Richtige. Sie macht es sich aber zu einfach, indem sie jede weitere
       Festlegung meidet.