# taz.de -- Terroranschlag in Grosny: Von Stabilität weit entfernt
       
       > Beim Überfall islamistischer Extremisten aufs Parlament in Grosny starben
       > mehrere Menschen. Die von Russland propagierte Stabilität Tschetscheniens
       > gibt es nicht.
       
 (IMG) Bild: Sicherheit sieht anders aus: Sonderkommando in Grosny
       
       Bei dem Anschlag eines Selbstmordkommandos auf das tschetschenische
       Parlament im Zentrum Grosnys kamen nach offiziellen Angaben drei Menschen
       ums Leben und achtzehn wurden zum Teil schwer verletzt. Unter den
       Verletzten befinden sich auch elf Mitarbeiter und der Vorsitzende des
       Parlaments. Dem Kommando sollen mindestens drei Selbstmordattentäter
       angehört haben. Das tschetschenische Komitee für Antiterrorismus spricht
       unterdessen von vier Attentätern.
       
       Am Morgen drang die Todesschwadron mit einem Pkw auf den Vorhof des
       Parlaments vor. Sie folgte einem Wagen mit Abgeordneten, der gerade die
       Sicherheitsschranke passierte. Einer der Terroristen sprang vor dem
       Parlament aus dem Auto und sprengte sich noch auf dem Hof in die Luft. Die
       beiden anderen Attentäter verschanzten sich im Parlamentsgebäude.
       Tschetschenische Sicherheitskräfte sollen sofort das Feuer eröffnet haben.
       
       Die Angaben über die Dauer des Gefechts sind widersprüchlich, nach
       Darstellung der tschetschenischen Sicherheitsbehörden gelang es den
       Spezialeinheiten, die Terroristen nach zwanzig Minuten auszuschalten.
       Augenzeugen berichteten unterdessen der Website Kavkaz-uzel, dass der
       Schusswechsel mindestens zwei Stunden gedauert haben soll.
       
       Unklar ist auch, ob die Attentäter Geiseln in ihre Gewalt bringen konnten.
       Das tschetschenische Innenministerium dementierte indes anderslautende
       Informationen. Während des Gefechtes sollen sich die beiden Terroristen,
       die sich in einem Raum des Parlaments verbarrikadiert hatten, durch eine
       Sprengladung selbst getötet haben. Nach dem Überfall durchkämmten
       Minensucher das Gebäude nach verborgenen Sprengsätzen.
       
       Der Ministerpräsident Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, bedankte sich noch
       am Tatort für die schnelle und präzise Arbeit der Sicherheitskräfte. Auf
       keinen Fall sollte der Eindruck entstehen, dass ihm die Sicherheitslage
       entglitten sei. Der Anschlag war nämlich mehr als ein gewöhnlicher
       Terrorakt. Er galt nicht nur dem für unbezwingbar gehaltenen
       Parlamentsgebäude im Herzen der Hauptstadt, er fand auch während der Visite
       des russischen Innenministers Raschid Nurgalijew statt.
       
       Noch am Vorabend hatte der Minister die herausragende Arbeit der
       tschetschenischen Innenbehörde im Kampf gegen den Terrorismus und bei der
       Aufrechterhaltung der Sicherheit in ganz Tschetschenien gewürdigt. Die
       Einschätzung entspricht der offiziellen Moskauer Linie.
       
       Der Kreml hatte Ramsan Kadyrow als Statthalter Moskaus eingesetzt und ihn
       zur Befriedung der Konfliktregion bei der Wahl der Mittel freie Hand
       gelassen. Vorübergehend kehrte nach dem zweiten Krieg in Tschetschenien
       auch Ruhe ein. Der Kreml sah sich in seiner Politik bestätigt, die zunächst
       auf der Gewalt des Zentrums fußte und diese dann an den Machthaber in
       Grosny delegierte, der die Provinz wie ein Sultan drangsalierte. Jede
       Stimme des Widerspruchs wurde mundtot gemacht.
       
       In den letzten Monaten entpuppt sich die Stabilität jedoch als
       Propagandagespinst. Die Aktivitäten des terroristischen Untergrunds haben
       nicht nur zugenommen, sie haben auch die Stoßrichtung geändert und richten
       sich gezielt gegen Kadyrow und Einrichtungen seines Machtapparates.
       
       Nach einem Anschlag gegen den Autokraten im Frühjahr überfielen mehr als 50
       schwerbewaffnete Rebellen im August Kadyrows Heimatdorf. Die Schlacht in
       Tsenturoi zog sich fast über einen ganzen Tag hin. Der Angriff auf die
       hochgesicherte Burg des allmächtigen Kadyrow-Klans hatte symbolische
       Bedeutung. Ohne militärische Unterstützung aus Moskau dürfte der
       Republikschef langfristig nicht auskommen.
       
       Der Kreml hatte erst vor anderthalb Jahren auf Drängen Kadyrows die
       russischen Truppen aus der Krisenregion abgezogen. Kadyrow feierte den
       Abzug als einen Triumph seiner kompromisslosen Politik. Ist der Kreml nun
       gezwungen, erneut Einheiten nach Grosny zu schicken, wäre dies der Beleg
       dafür, dass die Strategie des Kremls und seines Statthalters gescheitert
       ist. Dies würde Kadyrow unweigerlich dazu verleiten, Willkür und Gewalt
       zuzuspitzen.
       
       In den Bergregionen Tschetscheniens kann sich der Kadyrow-Klan ohnehin
       nicht auf Rückhalt in der Bevölkerung verlassen, bislang erzwang er
       Zustimmung durch Androhung physischer Gewalt und Sippenhaft. Zudem haben
       sich die Strukturen im terroristischen Untergrund verändert.
       Tschetschenische Freischärler sagten sich im Sommer vom Oberbefehl Doku
       Umarows los. Der ehemalige tschetschenische Feldkommandeur hatte ein
       "kaukasisches Emirat" ausgerufen, das alle nordkaukasischen Republiken von
       Dagestan am Kaspischen Meer bis zu den kleinen Republiken an der Küste des
       Schwarzen Meers umfasste.
       
       Tschetscheniens Kämpfer unterstellten sich im September dem Oberbefehl des
       neuen Feldkommandeurs Hussein Gakajew. Beobachter vermuten, dass nach dem
       Zerwürfnis zwischen den tschetschenischen Feldkommandeuren und dem Kreis um
       den Chef des kaukasischen Kalifats Doku Umarow die Islamisten langfristig
       an Einfluss im tschetschenischen Widerstand verlieren.
       
       So waren es auch Gakajews Rebellen, die im August den Angriff auf Kadyrows
       Geburtsort Tsenturoi unternahmen. Und im Oktober trat der in London lebende
       Chef der tschetschenischen Exilregierung Achmed Sakajew zurück.
       Demonstrativ unterstellte sich der Expremier dem neuen Feldkommandeur
       Gakajew. Die islamistische Unterwanderung des tschetschenischen Widerstands
       war den separatistischen Kräften seit je ein Dorn im Auge, da die Forderung
       nach einem kaukasischen Kalifat das Streben nach staatlicher
       Selbständigkeit Tschetscheniens untergrabe, sagt auch Sakajew. Für die
       Unabhängigkeit der nordkaukasischen Republik stünden die Zeichen so gut wie
       nie zuvor, da nach dem Kosovo auch Abchasien und Südossetien die
       Eigenständigkeit erreicht hätten.
       
       Die Umgruppierungen innerhalb der kaukasischen Terrorszene erschweren vor
       allem die Arbeit der russischen Sicherheitsorgane. Die einzelnen Grüppchen
       arbeiten auf eigene Rechnung und unterstellen sich keinem Oberbefehl mehr.
       Das trifft auch auf islamistische Einheiten in Dagestan, Inguschetien,
       Kabardino-Balkarien und Karatschajewo-Tscherkessien zu. Die Terroranschläge
       in der Moskauer Metro im März waren von Islamisten in Dagestan verübt
       worden, die allem Anschein nach nicht mit dem Chef des kaukasischen Emirats
       Doku Umarow abgestimmt waren.
       
       Der Kampf für ein nordkaukasisches Kalifat dürfte ohnehin aussichtslos
       sein. Zwar versuchen die islamistischen Köpfe ihre Gefolgschaft auf einen
       supranationalen Gottesstaat einzuschwören. Ethnische Vielfalt und
       jahrhundertelange Feindseligkeiten der Völker untereinander erschweren
       indes das Vorhaben. Auch die unterschiedliche Ausübung und Rolle des Islams
       stehen dem im Wege. Für Moskau ist dies nur ein schwacher Trost. Die
       Destabilisierung der Region schreitet voran. Langfristig dürfte es Russland
       nicht mehr gelingen, den Kaukasus einzubinden. Die Region wird damit auch
       zu einem Risikofaktor für Europa.
       
       19 Oct 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus-Helge Donath
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Anschläge in Tschetschenien: Neun Tote in Grosny
       
       Bei drei Selbstmordattentaten in Grosny wurden neun Menschen getötet. Für
       Republikchef Ramsan Kadyrow sind die Anschläge eine persönliche Niederlage.
       
 (DIR) Prozess gegen Tschetschenen in Wien: Mord im Auftrag des Präsidenten?
       
       Ramsan Kadyrow, der Präsident Tschetscheniens, soll in Wien ein
       Terrornetzwerk unterhalten. Die Ministerien seien bislang passiv geblieben,
       kritisiert ein Grünen-Abgeordneter.
       
 (DIR) Tote bei Anschlägen in Tschetschenien: Angriff auf das Parlament
       
       Tschetschenische Rebellen haben das Parlamentsgebäude in der Hauptstadt
       Grosny angegriffen. Dabei kamen mehrere Menschen ums Leben.