# taz.de -- Debatte Irland: Die Umnachtung der Eliten
> Immer mehr EU-Länder gehen pleite. Wir brauchen einen europäischen
> Währungsfonds, der die Zinspolitik verändert und die Realwirtschaft
> stärkt.
Seit Monaten verlangen "die Märkte" von Ländern wie Griechenland, Portugal
oder Irland Zinsen für Staatsanleihen von bis zu 10 Prozent. Das nominelle
Wachstum der Wirtschaft dieser Länder und damit auch ihrer Steuereinnahmen
ist aber viel niedriger. Auf Grund der Zinseszinsdynamik wird die
Staatsschuld daher weiterhin rascher wachsen als das Bruttoinlandsprodukt.
Verordneter Sparwahnsinn
Dann muss man eben die Staatsausgaben senken, fordern die Eliten. Das haben
diese Länder gemacht, mit dem Ergebnis, dass die Wachstumsrate weiter
gesunken ist und der Zinssatz also noch stärker darüber liegt. Kurz: Im
Wechselspiel von immer höheren Zinsforderungen der Märkte und einer
belämmerten Symptomkur der Politik steuern die Staatsfinanzen dieser Länder
dem Bankrott entgegen.
Dies in heller Stunde erahnend, schlug die Kanzlerin vor, die Inhaber der
Staatstitel müssten sich an den Rettungskosten beteiligen. Das mochten "die
Märkte" nicht und setzten die Zinsen nochmals hinauf. Nun geriet der Euro
wieder ins Rutschen, also Kommando zurück: Nur bei der künftigen
Neuverschuldung ab 2013 sollten die Gläubiger an den Kosten einer
Staatspleite beteiligt werden - und auch nur vielleicht, man kennt sich ja
nicht aus.
Noch kann das Spiel also weitergehen, und zwar so: Durch die "Doppelmühle"
von Spekulation mit "Credit Default Swaps" und mit Staatsanleihen treiben
Banken wie Goldman Sachs, J. P. Morgan, Deutsche Bank und viele Hedgefonds
die Zinsen in die Höhe. Diese "Finanzalchemisten" borgen sich bei der
Europäischen Zentralbank (EZB) Geld zu 1 Prozent Zinsen und kaufen damit
jene Staatsanleihen, deren Zinsen sie in die Höhe getrieben haben. Die
hohen Zinsen bezeichnen sie als "Risikoprämien", wenn aber das Risiko
angesprochen wird, dann bestehen sie auf 100-prozentiger Bezahlung, also
auf Null-Risiko.
Fazit: Was durch enorme Entbehrungen der Arbeitnehmer und Unternehmer in
den Schuldnerländern eingespart wird, fließt als Zinsertrag in die Taschen
der "Finanzalchemisten". Und die Staatsschuldenquote steigt und steigt.
Eine systemische Lösung muss beim Zinsniveau ansetzen. Dieses sollte nach
der "golden rule" der Wirtschaftstheorie der mittelfristigen (nominellen)
Wachstumsrate entsprechen, wegen des hohen Schuldenstands aber etwas
darunter liegen - also bei etwa 2 Prozent. Gleichzeitig müssten der
europäische Zusammenhalt gestärkt und national-egoistische Strategien
verhindert werden.
Beides kann erreicht werden, und zwar wie folgt: Der im Mai dieses Jahres
geschaffene Rettungsfonds, der 750 Milliarden Euro mobilisieren kann, wird
zum "Europäischen Währungsfonds" (EWF) ausgebaut - gespeist aus Mitteln der
Euro-Zentralbanken. EZB und EWF geben eine Garantie für die Staatsschuld
sämtlicher Euroländer. Damit entfällt der Grund für Risikoprämien. Außerdem
legen sie das Zinsniveau für neue Euro-Staatspapiere fest.
Europäischer Währungsfonds
Neu ausgegebene Staatspapiere, die zu diesen Konditionen keine privaten
Abnehmer finden, werden vom EWF gekauft. Doch die Staatspapiere werden
genügend Anleger finden. Denn ein enormes Volumen an Finanzkapital sucht ja
dringend einen relativ sicheren Hafen. Der Teufelskreis von
Wucherzinszahlungen, verstärkten Sparbemühungen, Dämpfung des
Wirtschaftswachstums, steigender Verschuldung und noch höheren Zinsen ließe
sich so durchbrechen. Gleichzeitig würde ein europäischer Währungsfonds den
Zusammenhalt der Euroländer stärken und das effektive Zinsniveau senken.
Genau dies bezweckt die Politik der US-Notenbank Fed, wenn sie langfristige
(Staats-)Anleihen kauft: Sie übernimmt die weniger liquiden Aktiva und gibt
dem Finanzsektor dafür hochliquide Mittel. Ihr Ziel: Sie will die
Kreditvergabe verbilligen und die Deflationsgefahr bannen.
In Europa wird diese Maßnahme vielfach als "Gelddrucken" zu bezeichnet, das
letztlich einen Inflationsschub auslösen müsse - ein Indiz, wie sehr die
Debatte auf das Niveau der 1920er Jahre zurückgefallen ist. Nur wenn das
Kreditpotenzial genützt würde, entstünde zusätzliches Geld. Genau das ist
aber bisher zu wenig der Fall! Überdies: Erst wenn die Kapazitätsgrenzen
erreicht sind, droht ein stärkerer Preisauftrieb. Davon sind wir Jahre
entfernt.
Der Markt beruhigt sich nicht
Doch lieber sehen die Eliten dem zinseszinsgetriebenem Anwachsen der
Staatsschuld zu und hoffen, "die Märkte" würden sich beruhigen, wenn Irland
oder Griechenland den Rettungsfonds in Anspruch nähmen. Dass damit das
Problem nur weitergeschoben wird, weil die von "den Märkten" geforderten
Zinsen untragbar sind, wird nicht begriffen.
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf: Nach 30-jähriger Missionsarbeit
sind die Eliten marktreligiös geworden. Sie glauben an eine "unsichtbare
Hand", die ähnlich wie die göttliche Vorsehung alles zum Besten lenkt. Die
manisch-depressiven Schwankungen von Zinssätzen, Wechselkursen,
Rohstoffpreisen und Aktienkursen wurden so als unveränderlich, letztlich
aber nicht schlimm hingenommen.
Dabei gibt es eine Lösung: Man nehme die Fundamentalwerte der
Wirtschaftstheorie als Richtgröße für eine Stabilisierung von Zinssätzen,
Wechselkursen und Rohstoffpreisen durch das "System Politik". Der Zinssatz
müsste der Wachstumsrate entsprechen, der Wechselkurs der Kaufkraftparität.
In einer solchen Welt gäbe es - wie früher in den 1950er und 1960er Jahren
- wieder mehr Sicherheit für Investitionen, Finanzierung und Außenhandel.
Es käme zu einem Wirtschaftswunder in der Realwirtschaft.
Heute jedoch findet das "Wirtschaftswunder" in der Finanzwelt statt. Mit
dem Segen der "unsichtbaren Hand" gelingt den Alchemisten das Doppelwunder:
Durch immer schnellere Spekulation bringen sie die wichtigsten Preise wie
Wechselkurse, Zinssätze, Aktienkurse und Rohstoffpreise in kleine und große
Schwingungen, und zur Absicherung gegen diese Turbulenzen verkaufen sie
Derivate aller Art. Beides mit hohem Gewinn. Hut ab zum Gebet. STEPHAN
SCHULMEISTER
24 Nov 2010
## AUTOREN
(DIR) Stephan Schulmeister
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