# taz.de -- Als Jean-Luc Godard in der taz drehte: Lemmy Caution steigt nicht ein
       
       > 1991 entstand Godards "Solitudes". Der Film handelt von der Einsamkeit
       > der ehemaligen DDR. Schauplätze waren Stralsund und die taz. Ein
       > Drehprotokoll.
       
 (IMG) Bild: Februar 1990: Jean-Luc Godard, hier nicht im Bild, dreht "Allemagne Neuf Zero" unter anderem in der taz-Redaktion in Berlin. Im fertigen Film fehlen die Szenen allerdings.
       
       Christian, unser stets freundlich gesinnter Fotograf, ist ganz rot
       angelaufen. Er schnaubt vor Wut. So haben wir ihn noch nicht kennengelernt.
       "Scheiße!", schreit er die Filmredakteurin Christiane an, "dann macht doch
       euern Kram alleine!" Er knallt einen Packen mit Fotos auf den Computertisch
       und macht sich wild gestikulierend davon. Christiane hatte ihn allerdings
       auch ziemlich schnöde abgefertigt. Jetzt tippt sie an die Glasscheibe, die
       ihr Terminal vom Redaktionsraum trennt, und dann tippt sie sich an die
       Stirn, um der Literaturredakteurin Elke zu verstehen zu geben, was sie von
       Christians Auftritt hält. Elke guckt kaum hin, sie telefoniert gerade mit
       einer Londoner Autorin: "Du schickst mir einen Artikel über Südafrika und
       Fotos aus Indien. Da kann doch was nicht stimmen!" Ich selbst beuge mich
       derweil über den Nachbarschreibtisch und nerve die Kulturredakteurin
       Regine, die im Mittelpunkt der Szene steht und versucht, sich mit einem
       französischen Journalisten über Gefühl-Leidenschaft-Josef
       Conrad-Deutschland zu unterhalten. "Das ist der Artikel über die
       Retrospektive", sage ich ziemlich hektisch, "da müssen mindestens fünfzig
       Zeilen 'raus, das Layout macht totalen Druck." "Mach' doch, darum kann ich
       mich jetzt wirklich nicht kümmern", zischt Regine. "Thierry!", unterbricht
       die immer noch telefonierende Elke, "der Typ vom 'Guardian' hat schon
       dreimal angerufen, kannst du da nicht endlich mal etwas machen?" "Jajajaja!
       Ich kann mich ja auch nicht zerreißen." Ich sauge an meiner Zigarette und
       gehe ab. Annette, die zum Computer muß, kreuzt meinen Weg.
       
       Ein ziemlich kompliziertes Ballett für eine Einstellung von vielleicht
       zwanzig oder dreißig Sekunden. Eine Einstellung in dem Film, den Jean-Luc
       Godard gerade in der ehemaligen DDR und Berlin dreht. Die Einstellung
       spielt in einer Zeitungsredaktion, und diese Zeitungsredaktion ist die taz,
       vierte Etage, Kulturredaktion überregional. Und wir spielen mit, richtige
       Sprechrollen - winzige, zugegeben.
       
       Das hatten wir nicht geahnt, als wir am Sonntag zuvor zu unserer großen
       Begeisterung erfuhren, daß Godard bei uns drehen wolle und als er uns in
       der taz besuchte, um den Drehort in Augenschein zu nehmen. Godard sah ganz
       genau aus wie Jean- Luc Godard: Hut in der Hand, Zigarre im Mund,
       stoppelige Wangen, schwere Hornbrille, ein etwas altmodischer, taillierter
       Mantel. Ein freundlicher, kleiner Mann, der sich im Hintergrund hielt,
       während sein Aufnahmeleiter Romain Goupil die Gespräche führte. Aber er
       warf diese ein bißchen verstohlenen, aufmerksamen Blicke, die nichts von
       dem verraten, was sich im Gehirn dahinter abspielt. Wenn wir gewußt hätten,
       daß das ein Casting ist, wären wir bei den Dreharbeiten um einiges
       aufgeregter gewesen.
       
       Jetzt, am Donnerstag abend, bei den Dreharbeiten, ist Godard gar nicht da.
       Er mußte dringend in die Schweiz. Goupil leitet die Aufnahmen. Wir sind
       zuerst sehr enttäuscht, dann vergessen wir über den konzentrierten und
       euphorisierenden Aufnahmen selbst das. Drei Proben, sechs oder sieben
       Takes, dann ein paar kleinere Einstellungen und Szenen, in denen wir als
       Komparsen nicht gebraucht werden. Tonaufnahmen. Um sechs Uhr nachmittags
       hatte der Kameramann begonnen, das Licht zu setzen - kein zusätzliches, nur
       die vorgefundenen Schreibtisch- und Deckenlampen. Um zwei Uhr morgens ist
       alles zu Ende. Nur Elke ist sehr traurig. Godard, so erzählt der
       Kameramann, hätte ihr gerne eine richtige kleine Rolle gegeben. Sie hätte
       nur ein bißchen besser französisch sprechen müssen. Das hätte sich doch
       arrangieren lassen! Jean Seberg, Anna Karina, Brigitte Bardot, Juliet
       Berto, Jane Fonda, Isabelle Huppert, Elke Schmitter. Immerhin - ich meine -
       keine schlechte Tradition.
       
       Die Einsamkeit der DDR 
       
       Solitudes ist der Arbeitstitel des Films, "Einsamkeiten" - ein Film in
       einer Reihe von 50-Minuten-Filmen, die der französische Fernsehsender
       Antenne 2 bei mehreren Regisseuren in Auftrag gegeben hat, unter anderen
       Kubrick, Wenders, Bergman und eben Godard.
       
       Godards Film handelt von der Einsamkeit der DDR, nachdem sich das
       Medieninteresse längst an den Golf verflüchtigt hat und nachdem es die DDR
       gar nicht mehr gibt, sondern nurmehr so etwas wie den Abdruck eines Steins,
       der darauf lastete und nun fortgewälzt ist. Eddie Constantine spielt - 25
       Jahre nach Alphaville - einen CIA-Spion namens Lemmy Caution, der seinen
       Einsatzort ganz weit im Osten der DDR hatte. Graf Zelten (Hanns Zischler)
       besucht ihn und teilt ihm mit, daß er nun nicht mehr gebraucht werde. Lemmy
       Caution macht sich auf den Weg nach Westen. Madame de Staäl spielt auch
       mit, Tacitus wird zitiert, Sancho Pansa fährt einen hellblauen Trabant, und
       Lotte, Milena, Liebelei, Brecht, Weill und Webern kommen vor: "Sie haben
       die Musik totgemacht, das ist Amerika." "Meinst du den betrunkenen
       amerikanischen Soldaten, der auf Webern geschossen hat?" "Jetzt taugt sie
       nur noch für Aufzüge und Kaufhäuser" (Zitat aus dem Exposé).
       
       Der Film wird kein Happy-End haben. Lemmy Caution findet den Westen. Es ist
       kurz vor Weihnachten, eine böse Konsumwelt. Die Mörder von Webern oder Hans
       und Sophie Scholl könnten hier gerade einkaufen. Der Film soll ziemlich
       hart sein mit Deutschland. Bei Godard ist zu hoffen, daß die
       Schonungslosigkeit dieser Auseinandersetzung nicht selbstgerecht ist wie in
       manchen französischen Filmen, die nur auf Deutschland zeigten, um von der
       französischen Mitschuld abzulenken.
       
       Stralsund 
       
       Solitudes wurde nicht in chronologischer Reihenfolge gedreht. Begonnen
       wurde mit dem Schluß, der in München spielt. Die anderen Stationen waren
       Leipzig, Bitterfeld, Weimar, das DEFA-Gelände in Babelsberg, Potsdam,
       Berlin und Stralsund, wo Anfang März die letzten Dreharbeiten stattfanden.
       
       Ein größerer Gegensatz zum Tumult der Zeitungsszenen läßt sich kaum denken.
       In Stralsund ist atmosphärischer Stillstand. Der Stein der vierzig Jahre
       mag fortgewälzt sein, aber der Muff, der sich darunter breitmachte, ist
       längst nicht weggezogen. Stralsund liegt unter einer Dunstglocke. Es ist
       feuchtkalt, das Licht diesig. Die Sonne hat Schwierigkeiten, sich einen Weg
       durch die Braunkohlepartikel zu bahnen. Die Ostsee ist schlapp und hat
       vergessen, wie ein Meer riecht.
       
       Es ist, als wäre die Abschaffung der DDR bisher nur ein formeller
       juristischer Akt. Als Wirklichkeit existiert sie fort. Bezahlt wird in
       Westmark, aber die Preise sind nach wie vor krumm. Hilflos versuchen sie zu
       kaschieren, daß nunmehr auf Profit kalkuliert werden muß. Die Tasse Kaffee
       kostet 2,35 Mark. Das "Mehrfruchtgetränk" für 3,10 Mark, das im Hotel am
       Bahnhof statt des im Westen üblichen Orangensafts zum Frühstück gereicht
       wird, scheint weniger dazu bestimmt, den morgendlichen Vitaminbedarf zu
       decken, als ihn in Erinnerung zu bringen. Gruppen von zehn Personen werden
       in Restaurants nicht von eilfertigen Wirten empfangen, sondern von
       freundlich-betrübten Kellnerinnen, die bezweifeln, daß ihre Küche eine
       derartige Kapazität aufbieten könne. Auf der Karte steht fast nur
       Schweinefleisch, das Rinderfilet "ist heute nicht da", der Fisch - eine
       einzige Nummer auf der Speisekarte - sieht aus, als wäre er unter Umgehung
       des Meeres gleich in der Tiefkühltruhe gezogen worden.
       
       Land's End. Lemmy Caution lehnt sich auf dem Bahnhof Stralsund-Rügendamm an
       einen Laternenpfahl und liest in einem Buch von Sigmund Freud. Der Zug
       hinter ihm fährt ab und gibt den Blick frei auf ein großes Schiff im Hafen.
       Lemmy Caution nimmt weder Zug noch Schiff. Er betrachtet sie höchstens und
       geht zu Fuß. Godard scheint der Geschwindigkeit der Medien und der nunmehr
       grenzenlosen Verkehrsmittel zu mißtrauen. Lemmy Caution meditiert, liest,
       wandert, konstatiert nebenbei, "was bleibt". Die Perspektiven, denen er
       sich ausgesetzt sieht und die das Team einfängt, der Verfall und die
       Tristesse, sind malerisch und bestürzend zugleich.
       
       In jedem Fall aber dürsten sie förmlich danach, endlich in Bilder gesetzt
       zu werden, als könnten sie dadurch erst begriffen und vielleicht verändert
       werden. Solitudes ist schon der richtige Titel - selten wirkt ein Land so
       im Stich gelassen wie heute die DDR. Es ist seltsam und beunruhigend, daß
       erst Leute wie Marcel Ophüls mit November Days und Jean-Luc Godard mit
       Solitudes kommen müssen, um die Bilder tatsächlich auch zu machen, während
       sich deutsche Filmemacher - von ein paar Dokumentarfilmern abgesehen -
       lieber in die Verfilmung alter Romane verkriechen.
       
       Die Muster von Solitudes, so berichtet die kleine Crew von vier oder fünf
       Technikern und Assistenten, mit der Godard seine Expedition unternahm,
       seien beeindruckend - ruhig und präzise. Selten sei Godard in den letzten
       Jahren so begeistert gewesen bei Dreharbeiten. Drei Monate lang war das
       Team in der DDR unterwegs - eine extrem lange Drehzeit für einen Film von
       fünfzig Minuten. Material gäbe es inzwischen wohl schon für mehrere
       Stunden. Man überlegt, ob man neben der Fernsehversion nicht noch eine
       längere Fassung daraus machen soll. Wir würden das begrüßen.
       
       1 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thierry Chervel
       
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