# taz.de -- Dogan Akhanli und die türkische Justiz: Ein Mann mit zu viel Geschichte
       
       > Der Schriftsteller Dogan Akhanli lebt seit fast 20 Jahren in Deutschland.
       > Bei der ersten Reise in die alte Heimat wird er verhaftet. Am 8. Dezember
       > beginnt der Prozess.
       
 (IMG) Bild: Dogan Akhanli im Sommer 2007 in Köln.
       
       Dies ist die Geschichte eines Mannes, der nach fast 20 Jahren in das Land
       zurückging, aus dem er einst geflohen war. In das Land, in dem er gefoltert
       wurde und in dessen Sprache er danach Romane schrieb. Es ist die Geschichte
       von Dogan Akhanli, der ab 8. Dezember in Istanbul vor Gericht steht,
       angeklagt, Raubmörder und Kopf einer terroristischen Verschwörung gegen die
       Türkei gewesen zu sein.
       
       Es gab viele Gründe, warum Akhanli in die Türkei zurückkehren wollte. "Ich
       schreibe über die Türkei", sagte er bei einem Abendessen in Berlin kurz vor
       seiner Abreise. "Ich denke über die Türkei nach, ich möchte mit Menschen in
       der Türkei reden." Er erzählte von seinem neuen Buch. "Ich habe endlich
       darüber schreiben können." Er meinte die Folter. Auch sie sei ein Grund,
       warum er gehen müsse. Er hoffte, wenn er sehen könne, wie sich die Türkei
       verändert habe, könne er vielleicht damit fertigwerden.
       
       Wie viele Folteropfer ist der 53-Jährige nie über das hinweggekommen, was
       zwischen 1985 und 1987 im Militärgefängnis von Istanbul mit ihm geschah.
       Über diese Geschehnisse schrieb Akhanli 2008 in dem Text "Die Fremde und
       eine Reise im Herbst": "Derweil der Staat auf seinem Staatsein und ich auf
       meiner Widerspenstigkeit beharrte, wurde ich mit meiner Frau und unserem
       damals 16 Monate kleinen Sohn befragt. Die Befragung dauerte einen Monat.
       Als meine Frau ein Jahr später und ich drei Jahre später freigelassen
       wurden, waren wir drei unter dem Erlebten brotkrumenklein geworden."
       
       Nun hatte er daraus einen Roman gemacht. "Fazil" solle er heißen, nach der
       traditionellen türkischen Musik, deren Lieder sein Folterer immer gesungen
       habe. Das Buch erzähle, "eine Foltersituation" aus den wechselnden
       Perspektiven von Täter und Opfer. "Ich glaube", sagte der Kölner in seinem
       bis heute gebrochenen Deutsch, "die Perspektive des Folterers ist mir viel
       besser gelungen als die des Opfers."
       
       Was ihn noch zur Reise trieb: Er wollte noch einmal seinen kranken, über
       90-jährigen Vater wiedersehen. Die Vorstellung, dieser könne wie die Mutter
       sterben, ohne dass sie sich noch einmal gesehen hätten, verfolgte ihn.
       
       Doch als Akhanli am 10. August nach fast 20 Jahren wieder türkischen Boden
       betritt, wird er sogleich verhaftet. Der Istanbuler Staatsanwalt Hüseyin
       Ayar beschuldigt ihn der Teilnahme an einem Raubüberfall 1989 auf eine
       Wechselstube in Istanbul, bei dem deren Besitzer ums Leben kam. Als Beweis
       präsentiert Ayar drei Zeugen. Der eine, Hamza Kopal, soll 1992 ausgesagt
       haben, er habe einen Zettel, der seinerzeit am Tatort gefunden wurde, an
       Akhanli übergeben.
       
       Allerdings schreibt Kopal am 31. August 2010 in einem Brief an die 11.
       Strafkammer in Istanbul: "Damals sagte ich unter schwerer Folter und
       suggestivem Einfluss der Polizeibehörde aus. Die Notiz, die angeblich bei
       dem Raubüberfall gefunden wurde, habe ich weder erhalten noch Erdogan
       Akhanli übergeben."
       
       Übereifriger Staatsanwalt 
       
       Die beiden anderen Zeugen sind Mustafa und Ünay Tutum, Söhne des
       Mordopfers, die bei dem Überfall zugegen waren. Sie sollen Akhanli 1992 als
       einen der Täter identifiziert haben. Am 13. August werden die Brüder zur
       erneuten Aussage ins Istanbuler Terrorbekämpfungsamt gebracht. Dort sagen
       sie allerdings genau das Gegenteil: dass der Mann auf den vorgelegten Fotos
       keiner der Täter war. Zudem schreibt auch Mustafa Tutum am 27. August einen
       Brief an die Istanbuler Strafkammer und erklärt, dass er, entgegen dem
       Protokoll von 1992, Akhanli seinerzeit überhaupt nicht anhand eines Fotos
       identifiziert habe. "Ich tue dies kund mit der Bitte, dass alles Notwendige
       getan wird, um die wahren Schuldigen zu finden", endet Tutums Brief.
       
       Daran scheint die Staatsanwaltschaft allerdings nicht interessiert. Im
       Gegenteil: Staatsanwalt Ayar unterschlägt die entlastenden Aussagen der
       Zeugen zunächst auch dem Haftrichter. Erst nach einer Beschwerde von
       Akhanlis Anwalt Haydar Erol kommen sie zu den Gerichtsakten. Dennoch lehnt
       die Strafkammer es ab, den Schriftsteller aus der Haft zu entlassen.
       Stattdessen wird die Anklage erweitert: Akhanli soll nun Kopf einer
       Terrorgruppe gewesen sein, die den Überfall zur Geldbeschaffung unternommen
       und nichts Geringeres als den Sturz der türkischen Regierung zum Ziel
       gehabt habe.
       
       Dieser Verfolgungseifer der Behörden ist nur zu verstehen, wenn man weiter
       in der Geschichte zurückgeht. Akhanlis Auseinandersetzung mit dem Staat
       beginnt, als er 18 Jahre alt ist. 1975 kauft er an einem Kiosk eine linke
       Zeitung, wird ein erstes Mal für fünf Monate verhaftet und gefoltert. Im
       Prozess wird er zwar freigesprochen, aber sein Vertrauen in den Staat ist
       dahin. Als sich am 12. September 1980 das Militär an die Macht putscht,
       geht der Lehrersohn aus Savsat, der in Trabzon Geschichte und Pädagogik
       studiert, in den Untergrund. Er organisiert Demonstrationen, druckt
       Flugblätter und Zeitungen.
       
       Im Mai 1985 wird Akhanli erneut verhaftet. Als der schmächtige, 1,70 Meter
       große Mann nach zweieinhalb Jahren entlassen wird, sagt er sich von den
       Genossen der Revolutionären Kommunistischen Partei los. Er zieht sich
       zurück, lebt in Izmir, später in Istanbul, schlägt sich als Fischer und
       Instrumentenbauer durch. Wieder droht die Verhaftung, die Familie taucht
       unter.
       
       1991 gelingt die Flucht nach Deutschland. Akhanli und seine Frau bekommen
       politisches Asyl. Nach und nach gelingt es, in Köln ein neues Leben
       aufzubauen. Doch Akhanli plagen Schuldgefühle, weil er sein Land verlassen
       hat - und paradoxerweise auch, weil er gefoltert worden ist.
       
       Um die Schuld loszuwerden, beginnt er zu schreiben. Seine Erlebnisse und
       die politischen Ereignisse in der Türkei in den 70er- und 80er-Jahren hat
       er in den Romanen "Denizi Beklerken" ("Warten auf das Meer") und "Gelincik
       Tarlasi" ("Das Mohnblumenfeld") verarbeitet. "Kiyamet Günü Yargiclari"
       ("Die Richter des Jüngsten Gerichts"), das 1999 in der Türkei und 2007 in
       Deutschland im Kitab Verlag erschienen ist, schließt die Roman-Trilogie ab.
       
       Dieser letzte Band behandelt, sozusagen als Vorgeschichte, den Völkermord
       an den Armeniern von 1915/16. Doch die systematische Vernichtung von, je
       nach Schätzung, 500.000 bis 1,5 Millionen Menschen ist in der Türkei nach
       wie vor ein Tabu. Andere Schriftsteller wie der Nobelpreisträger Orhan
       Pamuk, die sich damit befassen, werden wegen "Beleidigung des Türkentums"
       angeklagt, auf Grundlage des berüchtigten Artikels 301 des türkischen
       Strafgesetzbuchs.
       
       Akhanli ist jedoch 1999 für die türkischen Behörden nicht greifbar. In
       seiner neuen Heimat Deutschland beginnt er, sich auch mit der Schoah und
       der deutschen Art der "Vergangenheitsbewältigung" auseinanderzusetzen. Sie
       beeindruckt ihn. Besonders beschäftigt ihn die Möglichkeit der Versöhnung
       zwischen Angehörigen von Opfer- und Tätergruppen. Er organisiert
       Studienreisen mit Menschen unterschiedlicher Herkunft, macht Stadtführungen
       zu deutsch-türkisch-armenischer Geschichte und gründet in Köln die
       Raphael-Lemkin-Bibliothek als Begegnungsort für interkulturelle
       Erinnerungsarbeit.
       
       Dass dieser überzeugte Menschenrechtler nun in der Türkei als "Terrorist"
       verfolgt wird, hat in Deutschland, dessen Staatsbürger er seit 2001 ist,
       einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Zahlreiche Politiker, Schriftsteller
       und Institutionen fordern seine Freilassung. Für den Prozess, sagt sein
       Anwalt Erol, kann man nur hoffen, dass die Richter "unvoreingenommen und
       unabhängig entscheiden können". Andernfalls droht dem Schriftsteller
       lebenslange Haft. Dennoch sei seine "Stimmung besser als die Lage", erzählt
       Akhanlis in Berlin lebende Freundin Ulla Kux, die ihn seit August dreimal
       im Gefängnis von Tekirdag besuchen durfte. Er werde anständig behandelt und
       schreibe wie ein Besessener. Mit Verzögerung kämen inzwischen auch Die Zeit
       und die taz bei ihm an. Er mache sich morgens Nescafé und lese seine
       Zeitungen, "fast wie zu Hause".
       
       Dass Akhanli seinen Humor nicht verloren hat, zeigt die Grußadresse aus dem
       Gefängnis, die kürzlich bei einer Veranstaltung im Kölner Literaturhaus
       verlesen wurde. Immer habe er davon geträumt, dort eine Veranstaltung zu
       bekommen: "Wenn ich gewusst hätte, dass es dazu einen solchen Weg gibt,
       wäre ich viel eher in die Türkei gefahren."
       
       Zwölf Tage vor Prozessbeginn erreicht Akhanli dann die traurige Nachricht:
       Sein Vater ist gestorben. Die beiden haben sich nicht mehr wiedergesehen.
       
       3 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Gannott
       
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