# taz.de -- Kolumne Reisenotizen: Hochsommerliche 35 Grad
> Reisenotizen aus Israel und dem Westjordanland. Kibbuz, Holocaust,
> Islamisten, Zwei-Staaten-Lösung. Unstrittig ist: Das Wetter da unten ist
> besser.
12. 11., 4 Uhr früh: Nach Flug und beschwerlicher Busreise durchs
nächtliche Israel ist unser Seminar "Jüdische Jugendbewegung im 20.
Jahrhundert/Demokratie- und Friedenspädagogik in Israel" (15 Studierende, 2
Dozenten) am Zielort Kibbuz Hasorea angekommen. Später Archivarbeit und
ZeitzeugInnen.
13. 11.: Alisa Kamun, Hana Oppenheim und Ilana Michaeli sind zwischen 94
und 97 Jahre alt, leben seit den dreißiger Jahren hier – alle politisch
links, im Friedenslager, ihren Überzeugungen treu geblieben; der Geist der
"Werkleute", einer linken Abspaltung des "Deutsch-jüdischen Wanderbundes
,Kameraden'", wirkt nach. Die "Werkleute" wollten 1932 im Berliner
Scheunenviertel "Jüdische Volksarbeit" leisten, wurden aber aus
Realitätssinn zu Zionisten. Ihre Leitsterne damals: Martin Buber und Stefan
George. Kein Widerspruch: Der anarchistische Dialogiker, der für einen
binationalen jüdisch-arabischen Staat eintrat, und der männerbündische
Geistesaristokrat, der einem höheren Deutschland nachsann, waren sich
einig: Verachtung der Politik!
Nachmittags beim Ehepaar B. – beide in Hasorea geboren, die Eltern stammen
aus Deutschland, vor Jahren in halbdiplomatischem Dienst in Europa, nie
nach Deutschland gefahren. Jetzt auf Drängen ihrer Tochter Inhaber eines
deutschen EU-Passes: Man könne ja nie wissen! Aber: Noch immer nicht in
Deutschland gewesen.
14. 11.: Der Leiter des Centers for Humanistic Education im Kibbuz der
Ghettokämpfer erklärt, dass man – anders als in Jad Vaschem – den Holocaust
aus einer universalistischen Perspektive betrachte und versuche, ihn auch
arabischen Jugendlichen plausibel zu machen; dass man also in Dialoggruppen
jüdische und arabische Traumata bearbeiten wolle: Holocaust und Nakba!
Indes: Kurse, in denen der Begriff "Nakba" auch nur erwähnt wird, erhalten
keine staatlichen Gelder und stehen unter Verbotsdrohung.
15. 11.: Hochsommerliche Temperaturen von 35 Grad. Lydia Aisenberg vom
Kibbuz Givat Chaviva führt uns per Bus durchs nördliche Westjordanland.
Keine Markierungen der 67er Grenze zu sehen. Aber überall der
Sicherheitszaun. Präzise Karte des Westjordanlands unübersichtlicher als
jeder Flickenteppich: Nach Oslo drei Regionen: "A" (palästinensisch, von
der Autonomiebehörde kontrolliert) "B" (palästinensisch, von Israel
kontrolliert) sowie "C" (macht den Löwenanteil aus, von Israel
kontrolliert, Status ungeklärt). Überall größere oder kleinere israelische
Siedlungen. Meine politische Vernunft sagt mir: Man muss auch weiterhin für
eine Zwei-Staaten-Lösung eintreten, mein politischer Realitätssinn: Dazu
wird es der Veränderungen "on the ground" wegen nie kommen! Und das
israelische Kernland?
Die Stadt Umm al-Fahm auf israelischem Territorium ist eine ausschließlich
von Arabern bewohnte Schlafstadt. Bis 1989 regierten hier Kommunisten,
seither Islamisten. Zu Deutsch bedeutet der Name der Stadt "Mutter der
Holzkohle". Der israelische Unabhängigkeitstag beschert der einheimischen
Industrie eine jährliche Hochkonjunktur: Die jüdischen Israelis lieben es,
am Jom Haazmaut, dem Unabhängigkeitstag, zu grillen. Nachmittags erklärt
uns der Ethnologe Mendelsohn – er erforscht die israelischen Araber –, dass
diese sich zwar mit der israelischen Flagge, nicht aber mit der
israelischen Hymne abfinden könnten: Wie sollen sie, hier geboren, ein Lied
mitsingen, das von der ewigen Sehnsucht der jüdischen Seele nach Eretz
Israel handelt?
16. 11.: Fahrt nach Jerusalem. Unterkunft im Gästehaus von Aktion
Sühnezeichen. Neue, seit 2005 bestehende Dauerausstellung von Jad Vashem
zum Holocaust.
Museografisch gelungen, architektonisch tendenziös: Der durch den Hügel
getriebene dreischenklige Betonkeil, der die Ausstellung beinhaltet,
beginnt im Westen, schließt der Sache nach mit Bildern der Befreiung von
Juden aus den Lagern, um in Bilder der Proklamation des Staates Israel zu
münden.
Am Ende biegen sich die Betonschenkel auf, der Blick weitet sich nach
Osten, auf die Hügel Judäas. Shoah ve Tkuma, Untergang und Auferstehung!
Nachmittags Hebräische Universität, Mount Scopus. Pädagogikprofessor
Bekerman, er kam vor vierzig Jahren aus Argentinien nach Israel, will
unsere Illusionen zerstören.
Was denn die israelische Friedenspädagogik bewirkt habe? Man sehe sich nur
die politischen Mehrheiten im Lande an! Man gebe das Geld lieber den Armen.
B. erwähnt, dass sein Büro von Kollegen "Fatahland" genannt wird, weil er
arabische Studenten unterstützt. Abends alte Freunde getroffen,
linksliberale Leute, Gespräch über Kinder und Enkel, nicht über Politik,
die Hoffnungslosigkeit der Lage ist eh allen klar.
18. 11., 11 Uhr morgens: Am Ben Gurion Airport dreieinhalb Stunden lang
eingecheckt – redundante Sicherheitskontrollen, konnte kaum noch stehen.
Abends Rhein-Main Airport, mieses Wetter, dröge Atmosphäre, 18 Uhr, aber
immerhin: back home!
8 Dec 2010
## AUTOREN
(DIR) Micha Brumlik
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