# taz.de -- Kolumne Das Tuch: Buhu. Heul. Würg
> Warum Muslime das Mitleid nicht gepachtet haben und was das mit
> türkischen Kinohits zu tun hat.
Allein steigt der kleine Emrah in den Bus. Im Hintergrund läuft
melancholisch-dramatische Arabeskmusik. Betreten guckt Emrah auf seine
löchrigen Schuhe, langsam hebt er den Kopf. Wehleidig schaut er den
Busfahrer an. Seine Kugelaugen senden einen Welpenblick. Die Unterlippe
tritt traurig hervor. "Onkel", sagt er schließlich zu dem Busfahrer, "kann
ich … ein … Schülerticket haben?"
Buhu. Heul. Man möchte diesen Jungen am liebsten in die Arme schließen.
Nein, adoptieren. Bis in alle Ewigkeit für ihn sorgen. Der Arme, er leidet
doch so.
Würg. Das ist das türkische Kino der 80er Jahre mit "Kücük Emrah" in der
Hauptrolle - dem Milchbubi, dem das böse Leben immer übel mitspielt.
Deshalb singt Emrah mit wackliger Stimme von seinem Leid und geht auf
Mitleidstour.
Grausam finde ich das. Bis heute kann ich mich über Menschen, die sich in
Mitleid einlullen und hilflos dreinblicken furchtbar ärgern. Vor allem weil
sie meistens gar nicht hilflos sind. So wie kürzlich ein muslimischer
Bekannter.
Muslime wollen nicht Opfer sein. Sie wollen Missstände souverän benennen
und diskutieren können. Auch der Bekannte, mit dem ich kürzlich darüber
sprach, sah das so. Aber wenn er sprach, verfiel er wieder und wieder in
die Rolle von Kücük Emrah.
Ja, es wurde in den vergangenen Jahren Islamhetze betrieben. Ja,
Möchtegern-Experten haben in Talkrunden eine ganze Religionsgemeinschaft
verunglimpft. Ja, es besteht eine irrationale Angst vor 20 Prozent der
Weltbevölkerung. Ja, es existiert eine offene, teilweise gewalttätige
Feindseligkeit. Und ja, das alles ist furchtbar. Deshalb ist es nur
menschlich, wenn sich mein Bekannter im ersten Moment wie ein hilfloses
Opfer fühlt.
Was mich ärgerte war, dass er erst wehleidig wurde ("Wir werden von allen
angegriffen") und dann die eigene Opferrolle romantisierte ("Aber dafür
haben wir Gott auf meiner Seite"). Und er ist beileibe nicht der Einzige.
Doch wer so handelt, macht es sich in einer Pose gemütlich, die keinen
Ausweg kennt und nur sich selbst sieht.
Aber: Muslime haben keine Exklusivrechte auf die Opferrolle.
Trotz all dem Tamtam bleibt Islamfeindlichkeit nämlich nur eine von vielen
Formen der Diskriminierung. Schwarze, Juden, Schwule, Frauen - sie machen
alle solche Erfahrungen. Muslime waren und sind nicht allein damit.
Ausgrenzung und Herabwürdigung sind schließlich gesamtgesellschaftliche
Themen. Muslime müssen sich nicht ganz allein für ihre Belange einsetzen.
Weder mein Bekannter noch ich sind also allein und schon gar nicht hilflos.
Gemeinsam mit anderen können wir Rassismus, Frauenfeindlichkeit,
Islamophobie bekämpfen. Klar, erleben wir Dinge, da müssen wir weinen
dürfen. Aber nicht stets und ständig.
Mit der Mitleidstour und dem Opferblick retten Kücük Emrahs nämlich nur
sich selbst. Andere Menschen, die sich in einer vergleichbaren Situation
befinden, bemerken sie nicht. Deshalb an alle, denen es noch nicht
aufgefallen ist: Die 80er sind vorbei.
21 Dec 2010
## AUTOREN
(DIR) Kübra Yücel
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