# taz.de -- Die Deutschen und ihr Olympia 1972: "Froh, dabei sein zu dürfen"
       
       > Der Kulturgeschichtler Christopher Young hat erforscht, ob und wie die
       > Olympischen Spiele in München zur Modernisierung der Bundesrepublik
       > Deutschland beigetragen haben.
       
 (IMG) Bild: Keine "SPD-Spiele": Deutsch-deutsche Konkurrenz bei den Olympischen Spielen in München, hier über 400 Metern.
       
       taz: Herr Young, Sie haben gerade ein Buch über München 1972 vorgelegt, das
       im Untertitel "The Making of Modern Germany" heißt. Damals war Willy Brandt
       Bundeskanzler. Waren das im Grunde sozialliberale Entspannungsspiele? 
       
       Christopher Young: Am Anfang unserer Recherche hatte ich vermutet, das
       seien so etwas wie "SPD-Spiele" gewesen. Aber hinter den Kulissen sieht man
       eine ganz andere Geschichte. In der DDR war Ulbricht an die Seite geschoben
       worden, und viele Historiker schreiben, weil er zu stalinistisch, zu
       unmodern war. Das Gegenteil ist der Fall. Die Sowjetunion wollte keine
       deutsch-deutschen Annäherungen, sondern wollte die Entspannungspolitik
       zentral von Moskau aus gesteuert wissen.
       
       Erich Honecker, der Ulbricht 1971 ablöste, wurde als Hardliner geholt,
       einer, der gegen eine Entspannungspolitik steht, zumindest gegen eine von
       der DDR aktiv mit betriebene Entspannungspolitik. Die DDR wollte sogar
       verhindern, dass die anderen Ostblockländer am Kulturprogramm teilnehmen,
       zum Beispiel am Fackellauf.
       
       Und westlicherseits waren es auch keine "SPD-Spiele"? 
       
       Nein. Die zwei dominierenden Personen waren Hans-Jochen Vogel, der
       Sozialdemokrat war, aber vor allem als Münchner Oberbürgermeister handelte.
       Und Willy Daume, der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees. Er war
       ein Konservativer, aber ich würde ihn als modernen Bildungsbürger
       beschreiben: Er war offen für alles. Das zeigte sich etwa bei der
       Sportstättenarchitektur. Das moderne Münchner Stadion mit dem Glasdach ist
       größtenteils Daume zu verdanken, ein architektonischer Ausdruck der
       Modernisierung.
       
       Die Sommerspiele vor München fanden 1968 in Mexiko statt. Das berühmteste
       Bild, das davon in Erinnerung ist, zeigt die Siegerehrung des
       200-Meter-Laufs: Tommie Smith und John Carlos, wie sie die "Black
       Power"-Faust in den Himmel strecken. Kann man München 1972 auch in diesem
       politischen Kontext sehen? 
       
       Ja, es gab diesen weltweiten Aufbruch, und auch in Deutschland gab es einen
       Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung. Aber die Spiele wurden ja
       schon viel früher geplant. Willy Daume hatte versucht zu projizieren, was
       der Jugend gefallen wird, er wollte, ganz im klassischen olympischen Sinne,
       Spiele für die Jugend der Welt. Das hieß von Beginn an für die Münchner
       Spiele: weg von Militarismus, weg von Gigantismus, weg von Pathos. Das war
       schon in der Planung, als 1967/68 die APO losging und auch Tommie Smith die
       Faust reckte.
       
       In München bekam man dann eher Angst, ob man selbst mit einem so modernen
       Konzept, wie man es ausgearbeitet hatte, noch attraktiv für die Jugend sein
       könnte. Als Konsequenz setzten die Münchner Planer ganz radikal auf neue
       Konzepte: eine Spielstraße etwa, die der Architekt Werner Ruhnau
       entwickelte. Da sollten in offener Form Kunstaktionen stattfinden können.
       Dies war ein modernes Konzept und hat zur damaligen Zeit gepasst. Die
       Spielstraße wurde übrigens nach dem Massaker an den israelischen Sportlern
       eingestellt.
       
       Die Erinnerung an München 1972 wird dominiert von dem Foto, auf dem man die
       Terroristen auf dem Balkon im olympischen Dorf sieht. Hat der Anschlag die
       Modernisierung Deutschlands erschwert? 
       
       Der Anschlag hat das wieder ins Bewusstsein geholt, was doch als überholt
       gelten sollte: die Spiele 1936. Und wieder waren es Juden, die in
       Deutschland ermordet wurden. Aber inwieweit das Massaker an den
       israelischen Sportlern das politische Ziel der Spiele beeinträchtigt hat,
       ist schwer zu sagen. Für die deutschen Organisatoren jedenfalls war es sehr
       hilfreich, dass nicht sie den Satz "The games must go on" sprechen mussten,
       sondern der IOC-Präsident Avery Brundage, ein Amerikaner.
       
       Aber die Frage nach der politischen Wirkung der Spiele ist doch ein
       zentraler Aspekt Ihrer Arbeit. 
       
       Ich versuche es mit einem Vergleich zum Gewinn der Fußball-WM 1954. Damals
       galt: "Wir sind wieder wer." 1972 galt, auch jenseits des Anschlags: "Wir
       sind sehr froh, dabei sein zu dürfen." Für die meisten Menschen, die damals
       dabei waren, etwa die Olympiahostessen, waren die Spiele der Anfang der
       Internationalität Deutschlands: Das Land wurde weltoffen, Fremdsprachen
       fanden Einzug, fremde Gastronomien wurden bekannt, Touristen kamen ins
       Land.
       
       Nicht nur: Es kamen auch die Ölkrise, Helmut Schmidt, der deutsche Herbst,
       das Ansteigen der Arbeitslosigkeit … 
       
       Ja, wenn ich sage, dass für die deutschen Teilnehmer Olympia der Beginn der
       Internationalität bedeutete, so war es auf einer anderen Eben das Ende
       eines Prozesses, Höhepunkt und Abschluss einer gesellschaftlichen
       Modernisierung. Nehmen Sie nur die Fußball-WM 1974, die war, gerade im
       Vergleich zu Olympia 1972, sehr trübe.
       
       Beim Stichwort Fußball-WM fällt einem das Sommermärchen ein, die WM 2006.
       Steht die auch für eine gesellschaftliche Modernisierung? 
       
       Um das zu beantworten, möchte ich wieder einen Vergleich zu 1954 wählen.
       
       Bitte. 
       
       Heute heißt es ja oft, dass der WM-Sieg von Bern der eigentliche
       Gründungsakt der Bundesrepublik Deutschland gewesen sei. Dabei hat man
       damals von dieser historischen Bedeutung nicht viel bemerkt. Der Jubel war
       schnell vorbei, die Wirkung des WM-Erfolgs hat sich erst sehr langfristig
       eingestellt. Ähnlich ist es beim "Sommermärchen": Die plötzlich in
       Deutschland zu beobachtende schwarz-rot-goldene Begeisterung war nach
       diesen vier Wochen nicht mehr da. Auch zu einem Ereignis wie der
       Handball-WM kam sie kaum auf. Vielleicht sollte man das Jubeln der
       Deutschen 2006 eher im Kontext eines globalisierten Events sehen. Die
       Deutschen haben einfach mitgejubelt.
       
       Und die anderen deutschen Olympiabewerbungen? Stehen wenigstens die für
       eine neue Moderne, etwa Berlin 2000? 
       
       Eher nicht. Die Idee kam ja 1987 von Ronald Reagan, als er am Brandenburger
       Tor sprach. Bei der Bewerbung ging es von Anfang an um ein
       wiedervereinigtes Deutschland.
       
       Und Leipzig 2012? 
       
       Da ging es nach der Wende um ein mächtiges Stück Lokalpatriotismus. Die
       sind leider schon in der Vorrunde ausgeschieden. In der Endausscheidung
       standen nur Megacitys, ein Trend der letzten Zeit: New York, Paris, Madrid,
       Moskau und London, das den Zuschlag erhielt. Leipzig hatte nie eine Chance,
       die Stadt war schlicht zu klein.
       
       Schon sind wir bei München 2018, die Bewerbung um die Winterspiele.
       Entsteht wenigstens hier ein "modern Germany"? 
       
       Das glaube ich nicht, weil spätestens seit 2006 die Welt dieses moderne
       Deutschland gut kennt. Die Münchner verweisen ja eher darauf, wie gut das
       "Sommermärchen" war. Ob die Stadt gegen das südkoreanische Pyeongchang eine
       Chance hat, ist völlig offen. Denn die werben mit dem Markt: Im Umkreis von
       zwei Flugstunden sei eine Milliarde Menschen zu erreichen. Und die Vergabe
       der Fußballweltmeisterschaften an Russland und Katar zeigt: Das ist ein
       gewichtiges Argument.
       
       26 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Martin Krauss
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Olympia-Attentat in München
 (DIR) Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
       
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