# taz.de -- TAZ-SERIE BERLIN 2020 (TEIL 2): TOURISMUS: Mit den Massen kommen die Probleme
       
       > Der Tourismus wird als Branche weiter wachsen - aber nicht mehr so
       > schnell. Mit den Massen wachsen die Herausforderungen: In den Kiezen gärt
       > es, Touristifizierung wird das neue Schlagwort.
       
 (IMG) Bild: Wie lange strömen Spanier und all die anderen Touristen noch nach Berlin? Irgendwann ist das Ende der Fahnenstange erreicht.
       
       Vermutlich wird Burkhard Kieker in zehn Jahren wehmütig an den Herbst 2010
       zurückdenken. An damals, als der Geschäftsführer der obersten
       Berlin-Werbeagentur "visitBerlin" den 20-millionsten Übernachtungsgast in
       der Stadt begrüßte. Als er Berlin touristisch gesehen in einem Atemzug mit
       Paris und London nannte. Es ging immer nur aufwärts, immer neue Rekorde,
       mehr Hotels, mehr Gäste, mehr Tagungen, ein rasantes Tempo, das die Branche
       seit der Wende vorlegte. Der in zehn Jahren 60-Jährige wird beruhigt daran
       denken, dass er in absehbarer Zeit in den Ruhestand geht, und er wird sich
       freuen darauf: Der Job als Tourismuschef macht 2020 längst nicht mehr so
       viel Spaß.
       
       Denn irgendwann ist Schluss mit den Rekorden und den ständigen
       Erfolgsmeldungen. "Bei 30 Millionen Gästen ist Ende der Fahnenstange", sagt
       die Tourismusforscherin Kristiane Klemm. Und dieses Ende sei absehbar.
       "Erst einmal geht es weiter, schon weil wir hier eine relativ große Anzahl
       von Betten haben, die gefüllt werden müssen", so die frühere Leiterin des
       Willy-Scharnow-Instituts für Tourismus an der Freien Universität (FU). Der
       Rückzug von Billigfluganbietern wie Ryanair werde das Wachstum nur
       verlangsamen: Lediglich ein Drittel der Besucher kämen mit dem Flugzeug,
       und auch die könnten zunächst auf günstige Alternativen wie Air Berlin
       umsteigen, so die Expertin. Auch das Billig-Image der Stadt trägt weiter
       zum Boom bei: In keiner anderen westeuropäischen Metropole können Touristen
       so günstig urlauben, essen gehen, übernachten.
       
       Noch steuert der Tourismus weitgehend ungelenkt. Er ist immer ein gutes
       Beispiel, wenn es um die wirtschaftliche Stärke Berlins geht, er ist ein
       dankbares Aushängeschild, ein zuverlässiger Arbeitsplatzbeschaffer, sorgt
       für Leben in der Stadt. Doch spätestens, wenn der letzte Rekordstand
       vermeldet ist, wird der Blick auf die Menschenmassen selbst fallen und
       darauf, was sie in der Stadt auslösen. Als erste Partei haben die Grünen
       bei ihrer Landesdelegiertenkonferenz im November den Tourismus zum Thema
       auserkoren. Nicht in Form einer Wachstumsinitiative - den Umgang mit dem
       Phänomen mahnt die Partei an. Sie spricht von "Problemstellungen, die aus
       der atemberaubenden Entwicklung des Tourismus in unserer Stadt
       resultieren", und fordert politische Steuerung. Die vage Formulierung
       verdeutlicht die grundsätzliche Herausforderung bei der Annäherung an die
       Branche und seine Entwicklung: Tourismus ist eher ein Dachbegriff, den
       Touristen an und für sich gibt es nicht.
       
       Natürlich wird es in zehn Jahren auch noch die Klassiker geben, die
       Besucher mit Interesse an Kultur und Geschichte, die Reisepakete buchen und
       die historischen Sehenswürdigkeiten abklappern. Sie werden künftig
       verstärkt aus China, Russland und Indien kommen. "Wir rechnen mittelfristig
       mit einer starken Zunahme an indischen Touristen, nachdem Bollywood-Star
       Shah Rukh Khan in der Stadt gedreht hat", sagt VisitBerlin-Sprecherin
       Natascha Kompatzki. Um der wachsenden chinesischen Mittelschicht, die sich
       für Auslandsreisen interessiert, Berlin schmackhaft zu machen, haben die
       Tourismuswerber jüngst eine Internetseite mit Reiseinformationen in
       chinesischer Sprache ins Leben gerufen. Der Name der Homepage, laibolin,
       bedeutet: "Komm nach Berlin". Welche Bedürfnisse diese "neuen" Reisenden
       mit sich bringen, wie Berlin dem begegnet - all das wird noch erforscht. So
       arbeitet die Tourismusberatung Mascontour an einem Projekt, das die
       speziellen Reisekulturen etwa von Indern und Chinesen untersucht.
       Ergebnisse sollen im kommenden Jahr vorliegen.
       
       Viele Unterschiede werden sich dabei dank der neuen Medien nivellieren.
       Maßgeschneiderte Apps ersetzen Faltpläne, Onlineführer zu Einzelthemen die
       Reiseliteratur. Aussterben werden die klassischen Stadtführer jedoch nicht:
       "Die demografische Entwicklung wird sich auch bei den Berlin-Touristen
       bemerkbar machen", sagt Klemm. Die Älteren schätzten die persönliche
       Ansprache; jüngere sprächen sich eher untereinander ab.
       
       Überhaupt, die jüngeren Touristen: Sie sind es, die Tourismus-Chef Kieker
       zum Nachdenken bringen, in ihm in zehn Jahren womöglich Sorgenfalten in die
       Stirn gebrannt haben. Sie passen nicht mehr ins Raster; sie lassen sich
       nicht ins Hotel stecken und einmal im Doppeldeckerbus vom Brandenburger Tor
       zum Checkpoint Charlie chauffieren. Sie kommen gar nicht wegen des
       Brandenburger Tors, sondern weil es hip ist und sexy. Sie wollen nach
       Kreuzberg und Friedrichshain in die Clubs, in den Lokalen in Prenzlauer
       Berg essen gehen. Sie wohnen gern in Hostels mittendrin oder mieten sich in
       (illegal betriebenen) Ferienwohnungen ein, die sie im Internet gefunden
       haben.
       
       Das Phänomen, das die Folgen dieses Reiseverhaltens beschreibt, heißt
       Touristifizierung. Seine Karriere steht ihm wohl noch bevor, nach der
       aufgeregten Debatte um Gentrifizierung (grob gesagt der Verdrängung der
       angestammten Bevölkerung aus Kiezen durch Aufwertung und Sanierung). Welche
       Veränderungen die Touristifizierung auslöst, wie Bewohner mit ihr umgehen
       können, ist bislang wenig erforscht. Bekannt ist das Problem: Kieker selbst
       sagte vor einem knappen halben Jahr der taz, das Wachstum würde Folgen
       haben - es würden sich "touristische Hotspots" gründen, an denen die
       Vorstellungen der Touristen das normale Leben verdrängen. "Das sind
       touristische Ameisenstraßen, die sich da bilden", sagte Kieker und meinte
       Teile der Oranienburger Straße, den Checkpoint Charlie, und die Gegend um
       den Kollwitzplatz. Gleichwohl rät er zu Gelassenheit: "Ich sehe da
       überhaupt keinen Regelungsbedarf."
       
       Wasser auf die Häupter 
       
       Unterstützung erhält er dabei von der Wissenschaftlerin Klemm: Schon früher
       hätten BerlinerInnen solche Phänomene auf ihre Weise gelöst, erinnert sie
       sich. "Kam eine Busladung mit Besuchern, die in den Kreuzberger Innenhöfen
       alternatives Leben kennen lernen wollten, haben die Bewohner einfach Eimer
       voller Wasser runtergeschüttet." Klemm sieht den zunehmenden Kieztourismus
       und "Besucher, die bestimmt nicht wegen der Oper kommen", als Chance. Sie
       verweist auf Plattenbauviertel, die durch Touristen neue Aufmerksamkeit
       erhielten, wieder belebt würden, deren Bewohner auf diese Weise Anerkennung
       fänden. Auch die Grünen sehen positive Effekte, etwa dass vernachlässigte
       Kieze belebt würden, lokale Kultureinrichtungen eine neue Chance erhielten.
       
       Doch inzwischen gibt es Kneipen, die nur noch Einheimische bedienen wollen
       - und Einheimische, die sich - genervt von Touristenströmen - auf die Suche
       nach einer neuen Stammkneipe machen. Die Bezirksgrünen in
       Friedrichshain-Kreuzberg haben jüngst die Richtlinien für die Ansiedlung
       neuer Hostels verschärft, weil sich die Konflikte in den Kiezen häuften:
       Dort die Menschen, die Alltag leben, hier die lärmenden und feiernden
       Party-Touristen, die auch noch ihren Müll überall hinschmeißen. Und die
       Mieten, die steigen.
       
       Denn Touristifizierung kann auch eine Form der Verdrängung sein. Der in der
       vergangenen Woche in der Linksautonomen-Zeitschrift interim erschienene
       Hetz-Artikel gegen Touristen hat zwar wenig Widerhall gefunden. Noch. Doch
       was, wenn sich Hotels, Clubs und steigende Preise in Restaurants massiv
       durchsetzen? Die von Touristenmassen verursachten Probleme könnten sich in
       zehn Jahren erledigt haben: Wenn die Szenetouristen die Szene abgewürgt
       haben, wegen der sie einst gekommen sind, wenn die Preise sich an das
       Niveau anderer Metropolen angepasst haben - dann gäbe es nicht mehr viel,
       auf das die Attribute "sexy" und "hip" passen. Die danach Suchenden blieben
       aus.
       
       Ob es so kommt, bleibt abzuwarten. Sicher ist nur: Es wird nicht mehr vor
       Ort wissenschaftlich begleitet werden. Das Tourismus-Institut der FU
       nämlich ist geschlossen worden. Eingespart.
       
       28 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kristina Pezzei
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) TAZ-SERIE BERLIN 2020 (Teil 6): Bewegung: Die Rückkehr der Bürger in die Politik
       
       Der Bürgeraufstand wird auch in Zukunft nicht nachlassen, prognostizieren
       Protestforscher. Wird künftig über jeden Baum geschlichtet, so wie heute
       schon am Landwehrkanal?
       
 (DIR) taz-Serie Berlin 2020 (Teil 4): Kultur: Der unermüdliche Kulturverkäufer
       
       Dass Kultur Zukunft hat, ist für Olaf Zimmermann keine Frage. Aber es wird
       harte Verteilungsdebatten geben, sagt der Geschäftsführer des Deutschen
       Kulturrats.
       
 (DIR) taz-Serie Berlin 2020 (Teil 3): Arbeit: "Der Kapitalismus kann aus seinen Fehlern lernen"
       
       In Zukunft wird es mehr Arbeit geben. Aber um von den Freiheiten der
       Selbstständigkeit zu profitieren, brauchen Arbeitnehmer mehr Qualifikation
       und Flexibilität, sagt der Sozialhistoriker Jürgen Kocka.
       
 (DIR) SERIE BERLIN 2020 (TEIL 1): Wohnen: Willkommen im urbanen Dorf
       
       Wie wir in zehn Jahren wohnen, weiß die Immobilienwirtschaft offenbar am
       besten. In den Innenstädten wird das Wohnen zur begehrten Ware, in anderen
       Quartieren rückt man enger zusammen. Die Kluft wächst.