# taz.de -- Kommentar Estland: Estland an Bord, Schiff in Seenot
       
       > In Litauen und Lettland beneideten sie die Esten um ihren erfolgreichen
       > Euro-Kurs. Jetzt sind dort deutlich die Zweifel gewachsen, ob es den
       > Preis wert ist.
       
       Als Siebzehnter einem Verein als Mitglied beizutreten ist eigentlich nichts
       Aufregendes. Estlands Beitritt zur Euro-Zone weckt aber eine
       Aufmerksamkeit, die der politischen und wirtschaftlichen Bedeutung eines
       der kleinsten EU-Länder gar nicht so recht angemessen zu sein scheint. Oder
       wie spannend ist es eigentlich, dass "Euro-Land" in zwei Tagen 331 statt
       330 Millionen MitbürgerInnen haben wird?
       
       Doch Estland scheint gerade zu einer Zeit, in der die Zukunft der
       Gemeinschaftswährung erstmals offen infrage gestellt wird, ein Symbol zu
       sein. Der Euro ist also tatsächlich noch so attraktiv, dass ein Land
       gewaltige gesellschaftliche Anstrengungen zu bringen bereit ist, sich ihm
       anzuschließen?
       
       Er ist es jedenfalls für ein ehemals sowjetisches Land, das immer noch
       glaubt, die Zugehörigkeit zu Europa täglich neu beweisen zu müssen, und für
       dessen Politiker dieser Schritt seit dem EU-Beitritt vor sechseinhalb
       Jahren ein übergeordnetes Ziel war. Dazugehören um jeden Preis war das
       Motto - und ist es auch jetzt noch. Selbst wenn man nun in ein
       möglicherweise bald sinkendes Boot steigt.
       
       Nach außen hin ist Estland ein EU-Musterknabe. Breche der Euro tatsächlich
       in einen Nord- und einen Süd-Euro auseinander, werde Estland mit
       Deutschland zum starken nördlichen Euro gehören, mutmaßte dieser Tage schon
       mal ein Banken-Chefökonom. Tatsächlich erfüllt man derzeit neben Luxemburg
       als einziges Land die Euro-Beitrittskriterien und wird in Kommentaren gern
       hochverschuldeten Mittelmeerländern als Vorbild präsentiert, wie man den
       Gürtel rücksichtslos enger schnallen und sich aus einer schweren
       Wirtschafts- und Finanzkrise ohne Hilfe von außen wieder auf festen Boden
       retten kann.
       
       Von den Opfern, die das im Inneren gekostet hat, ist weniger die Rede. Vor
       allem, dass diese mit wachsender Armut, Lohnsenkungen, kräftig gestiegener
       Arbeitslosigkeit und Sozial-"Reformen" von dem Teil der Bevölkerung
       erbracht werden mussten, der am wenigsten vom Euro haben wird: der aufgrund
       seines Einkommens nur davon träumen kann, einmal umtauschfrei reisen zu
       dürfen, und der auch kaum von billigeren Immobilienkrediten profitieren
       wird. Im Gegenteil: Über eine steigende Inflation wird er vermutlich bald
       noch mal zur Kasse gebeten.
       
       In Litauen und Lettland beneideten noch vor einem Jahr viele die Esten um
       ihren erfolgreichen Euro-Kurs. Jetzt sind dort deutlich die Zweifel
       gewachsen, ob der Euro diesen Preis wirklich wert ist. Das achtzehnte
       Klubmitglied dürfte auf sich warten lassen.
       
       29 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Reinhard Wolff
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Wahlen in Estland: Die Rechten siegen
       
       Die Esten halten fest an ihrer Regierung, die sie durch die Finanzkrise
       brachte. Die Sozialdemokraten fordern den Ausbau des Sozialsystems und eine
       Steuerreform.
       
 (DIR) Einführung des Euro in Estland: Kritiker warnen vor "Eurorubel"
       
       Zum neuen Jahr ist Estland dem Euro beigetreten – doch gerade mal ein
       Viertel der Menschen ist für die neue Währung. Die Mehrheit fürchtet
       Preissteigerungen.
       
 (DIR) Krise der europäischen Währung: Der Tod des Euro ist zu teuer
       
       Trotz der Krise wird uns die Gemeinschaftswährung erhalten bleiben. Ein
       Ausstieg aus dem Euro würde zum ökonomischen Kollaps vieler Länder führen.
       
 (DIR) Estland führt neue Währung ein: Wenig Euro-Begeisterung in Tallinn
       
       Mitten in der Eurokrise führt Estland zum 1. Januar die Währung ein. Das
       ist im Land umstritten: Um die Kriterien zu erfüllen, fuhr Tallinn einen
       harten Sparkurs.