# taz.de -- Der Jahresrückblick 2010: Danke!
       
       > Sie haben uns geschockt, enttäuscht, verarscht oder verwirrt - aber nie
       > sprachlos gemacht. Renate Künast, Maserati-Harry, die S-Bahn, das Wasser,
       > Hertha und die A 100 waren 2010 fast immer für eine Geschichte gut.
       
 (IMG) Bild: Erst kommt der Jahresrückblick, dann knallt es.
       
       Hätten wir uns in der taz hinsetzen und das Drama um die A 100 selbst
       schreiben können - es hätte nicht viel spannender und skurriler werden
       können als das, was sich 2010 tatsächlich abgespielt hat. Die Sache um jene
       geplanten 3.200 Autobahnmeter zwischen Neukölln und Treptower Park hatte ja
       schon eine gewisse Dramatik erfahren, als sich die eigentlich als Beton-SPD
       verrufenen Sozialdemokraten im Vorjahr gegen den Weiterbau wandten.
       
       Eine große Unbeugsame gab es auch: Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg
       Junge-Reyer, die stur weiter plante und sich dabei auf den
       Koalitionsvertrag mit der Linkspartei berufen konnte. Hinzu kam die
       Drohgestalt im Hintergrund: Der Bundesverkehrsminister von der CSU, der ja
       immerhin die ganze Sache mit mehr als 400 Millionen Euro bezahlen würde.
       Von dem war wechselweise zu berichten, er könne die Autobahn notfalls
       selbst durchdrücken oder das Geld liebend gern abziehen, um damit daheim in
       Bayern autofreudigeren Wählern etwas Gutes zu tun.
       
       Was noch im Skript fehlte, war ein echter Showdown: Der kam tatsächlich,
       weil die SPD im Sommer nochmals über die A 100 abstimmte und der Regierende
       Bürgermeister derart für den Weiterbau warb, dass er damit fast sein
       politische Zukunft verband. Drei Stimmen entschieden schließlich über die
       Straße und Wowereits Schicksal: Die eine sollte gebaut werden, der andere
       konnte bleiben.
       
       Bei einem Höhepunkt allein aber blieb es nicht: Weil sich inzwischen die
       Linkspartei gegen den Bau entschieden hatte, lagen die Nerven der rot-roten
       Koalition blank. Ein mühsamer Kompromiss musste her, um das Bündnis vor dem
       Bruch zu bewahren: Weiter planen, aber nix vor der Wahl im September 2011
       festzurren.
       
       Damit hat die Koalition auch für das letzte wichtige dramaturgische Element
       gesorgt: Den sogenannten Cliffhanger, ein Schwebezustand größter Spannung.
       STEFAN ALBERTI 
       
       Journalisten müssen S-Bahn-Fahrer sein. Anders lässt es sich nicht
       erklären, dass die Unternehmensvertreter bei Pressekonferenzen einer bis
       ins Details informierten Meute gegenüber sitzen, die minutiös
       zusammentragen kann, was wann schon wieder nicht funktioniert hat: die
       unzumutbare Dreiviertelstunde Wartezeit auf der Ringbahn am frühen Morgen,
       der unangekündigte Pendelverkehr auf der Außenstrecke, und dann vor allem
       ständig diese Fehlinformationen, man möge bitte Richtung Osten, Richtung
       Westen und dann doch lieber zurück fahren. Wie der Unternehmensvorstand
       sich das erkläre, das möchte man wissen.
       
       Verlässlich war bei der S-Bahn in diesem Jahr nur das regelmäßige Auftreten
       von Problemen, sobald das Wetter die Wohlfühlzone von Zügen und Gleisen
       verließ - wenn also nicht mehr um die 20 Grad, leichte Bewölkung und
       mäßiger Wind herrschten. Schnee wehte die Weichen zu, Kälte legte Motoren
       lahm, und auch Hitze tat den Zügen irgendwie nicht so gut.
       
       Nun versucht die S-Bahn, alles besser zu machen und experimentiert mit
       Anti-Einfrier-Substanzen auf Wachs- und Glukosebasis und lässt
       Sandanlagenheizungen entwickeln - die auch dem hinderlichen Verklumpen des
       Sandes in seinen Behältern entgegen wirken sollen. So hatte sich der neu
       eingesetzte Vorstand seinen Job vermutlich auch nicht vorgestellt. Doch er
       kann sich trösten: Den Fahrgästen geht es genauso.
       
       Und hier noch der aktuelle Stand: Am Donnerstag wurde der Fahrplan weiter
       ausgedünnt. Von den insgesamt 550 Zügen sind derzeit nur 228 im Einsatz,
       sagte Bahn-Sprecher Burkhard Ahlert. Das dürfte Winterrekord 2010 sein.
       SVENJA BERGT 
       
       Erlesenes Silber ist die Zunge des Gerechten", heißt es in der Bibel im
       Buch der Sprichwörter. Beim Prediger Salomo ist ergänzend zu lesen: "Eine
       Zeit zu schweigen, und eine Zeit zu reden." Der Volksmund hat das einfacher
       zusammen gefasst: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Niemand hat das
       2010 besser bewiesen als Renate Künast, die große Schweigerin des zu Ende
       gehenden Jahres.
       
       Denn was hätten wir und all die anderen Zeitungen gemacht, wenn Künast
       bereits im Januar und nicht dankenswerterweise erst im November gesagt
       hätte, dass sie für die Grünen 2011 Regierende Bürgermeisterin von Berlin
       werden will? Wer und was hätte dann all die Artikel füllen sollen, die
       schon eindreiviertel Jahre vor der Wahl voll von natürlich klugen Analysen
       zu immer weiter steigenden Umfragewerten und beredetem Schweigen waren?
       
       Dabei schwieg Künast ja nicht, um uns die Zeilen zufüllen, sondern in
       eigenem Interesse. Denn je länger sie stumm blieb, um so höher kletterten
       die grünen Umfragewerte, was ziemlich klar zeigte: Wer nichts sagt, redet
       nämlich auch nichts Falsches. Weil sich jeder und jede eigene Hoffnungen in
       das nicht Gesagte reindenken kann.
       
       Seitdem Künast redet, gehen die Werte hingegen konstant nach unten. Dabei
       kann man ihr nicht vorwerfen, sie würde irgendwas ver-schweigen - sie redet
       Klartext zu Flughafen, Gymnasien, Tempo 30, Verbeamtung. Als hätte Künast
       vom Prediger Salomo auf den Evangelisten Matthäus umgeschaltet, der da in
       Kapitel 5, Vers 33 bis 37 sagt: "Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein,
       alles andere stammt vom Bösen." STEFAN ALBERTI 
       
       Ehrlich gesagt, hatten wir uns einen Maserati immer ein wenig schöner,
       sprich sportlicher vorgestellt, und den Chef einer Sozialklitsche für
       Obdachlose weniger wohlgenährt. Aber man lernt ja nie aus. Es blieb nicht
       das einzig Überraschende in der Affäre um die Treberhilfe.
       
       Bis heute ist vieles unklar, zum Beispiel, ob Harald Ehlert, der
       langjährige Geschäftsführer, ein Genie ist oder ein Trottel. Vieles sprach
       anfangs für Letzteres: Da wollte er einen Strafzettel für zu schnelles
       Fahren mit dem Maserati nicht akzeptieren, zog vor Gericht - und löste
       Mitte Februar damit überhaupt erst die Debatte um seinen 120.000
       Euro-Dienstwagen samt zwei Chauffeuren und sein sattes Jahresgehalt von
       rund 300.000 Euro aus. Schließlich ist die Treberhilfe zum Teil
       spendenfinanziert und genießt wegen ihrer Gemeinnützigkeit
       Steuervergünstigungen. Darf eine soziale Hilfsorganisation sich so in der
       Öffentlichkeit präsentieren? Ist das seriös? Und geht's nicht auch ein
       bisschen billiger?
       
       Ehlert, der gerne im feinen Zwirn auftritt, reagierte flott, bot kurzzeitig
       Stadtrundfahrten in seiner Karre an, bevor er sie ganz aus dem Verkehr zog.
       Doch der Streit um die Treberhilfe ging weiter: Der Senat will ihr
       spätestens 2011 die Gelder entziehen, die Chefs der verschiedenen
       Führungsgremien wechselten im Monatsrhythmus, Mitarbeiter berichteten von
       skandalöser Finanzierung und Umgangsformen.
       
       Nur einer blieb irgendwie immer am Steuer: Harald Ehlert. Der sprach im
       Dezember immer noch für die Treberhilfe, die er mal gegründet hatte. Privat
       fährt er übrigens Jaguar. BERT SCHULZ 
       
       Das dickste Ding kam auf Sylt. Zwischen Familienfeier und Strandspaziergang
       lockte ein Cafébesuch in der Ödnis von Westerland. Doch nix da mit Ruhe, im
       Fernseher lief Sky. Hertha führte mit 1:0 gegen Nürnberg. Der Rest ist
       bekannt: Ausgleich, Sieg für Nürnberg, Ultras auf dem Rasen, Abstieg.
       
       Mit Hertha ist es wohl so wie mit der ersten Liebe. Ganz oben oder ganz
       unten, dazwischen gibt es nichts. Grade ist Hertha ganz unten wieder oben.
       Gut möglich, dass sie 2011 oben wieder unten spielen - oder vollends
       untergehen. Union hat seine Eisernen, Hertha bleibt die "launische Dame".
       
       Immerhin sind da noch Michael Preetz und Markus Babbel. Der Manager und der
       Trainer sind Sympathen, das war bei Hertha nicht immer so. Auch nicht, dass
       die Zuschauer gegen Erzgebirge Aue Bundesligakulisse liefern. Hat sich da
       2010 etwas getan? Sind sich Hertha und die Berliner näher gekommen? Die
       Antwort kann man wohl erst im Mai geben. Manchmal braucht es für Bilanzen
       halt mehr Zeit als nur ein Jahr. Nach Sylt fahr ich übrigens nie wieder!
       UWE RADA 
       
       Es ist überall. Im Kaffee auf dem Weg zur Arbeit, in der Mandarine auf dem
       Weihnachtsteller, bei der Produktion der Zeitung, die Sie gerade in den
       Händen halten, in den Schneemassen, die die Gehwege versperren: Wasser.
       
       Das zugehörige Volksbegehren über die Offenlegung der Verträge zur
       Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe lief trotzdem schleppend an.
       Alleine schon der Begriff: Volksbegehren über die Offenlegung der Verträge
       zur Teilprivatisierung und so weiter. Wer damit jemanden auf der Straße
       ansprechen wollte, musste erst einmal hundert Meter neben der Person her
       laufen, um überhaupt zu erklären, worum es überhaupt geht. Das Flugblatt
       machte es nicht unter vier Seiten, um alles zu erklären. Irgendwie haben es
       die Aktivisten trotzdem geschafft. Mit Hartnäckigkeit, mit guter Vernetzung
       und mit der Überzeugung, dass sie recht haben.
       
       Und nun? Ist die Luft raus, weil die Verträge schon vor dem Volksentscheid
       offen liegen? Geht jetzt noch irgendjemand zur Abstimmung? Gibt es Wetten
       über die niedrigste zu erwartende Beteiligung? Oder zieht irgendwann
       irgendwer noch ein Ass aus dem Ärmel?
       
       Es wird sicherlich nicht das letzte Jahr gewesen sein, in dem ihr Wasser
       die Berliner beschäftigt. SVENJA BERGT 
       
       Und dann kam Sarrazin. Mokelig hatten die Rechtspopulisten von Pro
       Deutschland in Berlin vor sich hin gewirkt. Bis heute kommen zu
       Kundgebungen und Parteitreffen kaum mehr als ein Dutzend Anhänger. Eine
       zentral angekündigte Parteizentrale der Pro'ler entpuppte sich als kleines
       Büro in den Weiten der Marzahner Plattenbauten. Plötzlich aber verkaufte
       Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin hundertausendfach seine in Buch gepresste
       Schelte gegen Muslime und Migranten - und die rechtspopulistische Szene in
       der Hauptstadt hatte einen namhaften Fürsprecher und eine öffentliche
       Resonanzfläche.
       
       Nun gründete der Ex-CDU'ler René Stadtkewitz seine eigene
       Anti-Islam-Partei, Pro Deutschland rief zur Pro-Sarrazin-Kundgebung, der
       holländische Großpopulist Geert Wilders kam vorbei und sprach vor
       Fanscharen in einem Mitte-Hotel. Es waren gruselige Aufläufe -
       Alt-Republikaner neben aufgebrezelten Bürgerlichen, die jedes noch so
       xenophobe Ressentiment beklatschten.
       
       Die Folgen: Es scheint wieder salonfähig, weit nach rechtsaußen ausfällig
       zu werden. Viele Berliner Muslime blicken verunsichert auf ihre Stadt und
       die noch kommenden Wahlkampfvolten 2011. Und in den letzten Monaten legten
       Unbekannte wiederholt Brandsätze an islamische Einrichtungen. Hierfür
       definitiv keinen Schmatz von der taz. KONRAD LITSCHKO
       
       30 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) 
       
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