# taz.de -- 10 Jahre Wikipedia: "Triumphgeheul wäre fehl am Platz"
       
       > Pavel Richter ist Geschäftsführer des Fördervereins Wikimedia
       > Deutschland. Im Interview spricht er über Technikprobleme,
       > Betriebsblindheit und die Macht des Wissens.
       
 (IMG) Bild: Immer fehlt noch ein Stückchen: Das Weltwissen und damit auch Wikipedia wächst.
       
       taz: Herr Richter, am 15. Januar wird Wikipedia zehn Jahre alt. Hätten Sie
       erwartet, als Sie das Online-Lexikon kennengelernt haben, dass es einmal
       derart bedeutsam würde? 
       
       Pavel Richter: Ich bin Ende 2004 auf Wikipedia gestoßen und da hatte das
       Projekt bereits Bedeutung. Wikipedia entstand ja zum Ende des
       Dot-Com-Booms, der viele Projekte und Firmen entstehen sah, von denen man
       heute nichts mehr weiß. Dass Wikipedia aber heute das Sprungbrett für
       Wissen ist, das ist schon phänomenal.
       
       Was Wikipedia erreicht hat, kommt einem wie ein kleines Wunder vor - die
       Enzyklopädie gilt vielen mittlerweile als Informationsquelle Nummer eins.
       Große Lexikaverlage gaben zwischenzeitlich auf. Wie konnte das passieren? 
       
       Zunächst wäre jedes Triumphgeheul über den Niedergang anderer Enzyklopädien
       völlig fehl am Platz. Enzyklopädien sind ein jahrhundertealter Kulturschatz
       und Wikipedia nutzt sehr effektiv die Möglichkeiten des Netzes zur
       Kollaboration und Schnelligkeit. Möglich wurde dieser Erfolg durch die
       großartige Community von Wikipedianern, ehrenamtlich Engagierten, die ihr
       Wissen mit der Welt teilen wollen.
       
       Man muss es immer wieder sagen: Wikipedia wird geschrieben, gepflegt,
       bebildert von Freiwilligen, von Menschen, die ihr Wissen und ihre Zeit in
       dieses Projekt stecken, weil sie das Wissen der Menschen für die gesamte
       Menschheit zugänglich machen wollen.
       
       Nicht alles ist rosarot. Manche Nutzer beklagten in den vergangenen Jahren,
       es sei schwierig, als Autor bei der Wikipedia mitzumachen, es gäbe manchmal
       die Tendenz, Neulinge wegzubeißen. Was unternehmen Sie dagegen? 
       
       In den Anfangstagen von Wikipedia war es sicher noch einfacher, sich direkt
       zu beteiligen, da es viele "weiße Flecken" gab, die noch gar nicht
       bearbeitet waren. Heute liegt die Herausforderung im Bereich der
       qualitativen Verbesserung. Aber auch hier ist es enorm wichtig, dass sich
       viele Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen an diesem Prozess
       beteiligen. Deshalb muss Wikipedia stets offen für "Neulinge" sein.
       
       Es gibt ja viele Möglichkeiten, sich zu beteiligen: neben dem Schreiben von
       Artikeln auch das Bebildern, die sprachlichen Korrekturarbeiten oder
       einfach die Teilnahme an Diskussionen zur Verbesserung. Es gibt viele
       Ansätze zum besseren Einstieg in Wikipedia, wie etwa ein Mentorenprogramm,
       das bei den ersten Schritten als Neu-Autor hilft. Wir fördern auch
       Programme, die speziell Senioren ansprechen und ihnen die Grundlagen des
       Arbeitens in Wikipedia vermitteln, damit sie ihr lebenslang erworbenes
       Wissen teilen können. Und zuletzt ist die Beobachtung und kritische
       Begleitung durch Leser und Öffentlichkeit enorm wichtig, um so etwas wie
       Betriebsblindheit zu vermeiden.
       
       Noch ist es recht schwierig, selbst bei Wikipedia aktiv zu werden -
       zumindest für technisch weniger begabte Menschen. Wird sich das eines Tages
       ändern? 
       
       Es muss! Auch wenn es schon besser geworden ist, die Software ist
       tatsächlich auf dem Stand der Jahrtausendwende und damit nicht mehr
       zeitgemäß. Sowohl die amerikanische Wikimedia-Stiftung als auch Wikimedia
       Deutschland investieren in die Verbesserung der Usability. Denn nur wenn es
       einfach wird, Artikel zu erstellen und zu bearbeiten, werden wir auch neue
       Gruppen von Autoren gewinnen können.
       
       In den vergangenen Jahren tobte in der deutschen Wikipedia die
       [1][sogenannte Relevanzdebatte] - dabei ging es darum, was in die Wikipedia
       gehört und was nicht. Ist sie mittlerweile ausgestanden? 
       
       Das ist sie nicht, und das ist auch gut. Denn im Kern ist die Debatte
       selbst bereits die Lösung: Durch den ständigen Austausch und die
       Kontroverse über die Frage, was in der Wikipedia Platz haben kann und was
       nicht, werden diese Kriterien stetig angepasst, verändert und damit auch
       akzeptabler. Die Sichtweise von Lesern trifft gerade in dieser Debatte auf
       die Sichtweise der Autoren und Wikipedianer.
       
       In anderen Ländern scheint es weniger harte Kämpfe zu geben, etwa in der
       englischsprachigen Ausgabe. 
       
       Das mag auf den ersten Blick so wirken, da es in der englischen Wikipedia
       Artikel gibt, die es in der deutschen nicht gibt. Aber man muss bedenken,
       dass die englischsprachige Community deutlich größer ist und damit auch
       deutlich mehr Inhalte betreuen kann als zum Beispiel die deutsche
       Community. Aber auch in der englischen Wikipedia werden Artikel wegen
       fehlender Relevanz gelöscht, Seiten gesperrt und so weiter.
       
       Denken Sie, die Wikipedianer sind sich Ihrer Verantwortung bewusst? Viele
       Artikel stehen ganz oben bei Google und bieten damit auch eine Definition
       von Wahrheit. 
       
       Mit dem enormen Erfolg kommt natürlich auch enorme Verantwortung. Ich denke
       schon, dass die Wikipedianer sich dessen bewusst sind, es ist ja auch eine
       tolle Bestätigung für die eigene Arbeit. Alle Wikipedianer, mit denen ich
       spreche, sind sich dessen voll bewusst, und die Hebung der Qualität ist ein
       Ziel, auf das sich sicher alle einigen können.
       
       Wir wollen auch außerhalb der Wikipedia diese Verantwortung übernehmen: So
       hat Wikimedia Deutschland ein Schulprogramm, in dessen Rahmen freiwillige
       Referenten an Schulen gehen und Schüler und natürlich auch Lehrer über
       Wikipedia informieren. Das Ganze steht unter dem Motto: "Glaub nicht alles,
       was in Wikipedia steht ... glaub aber auch nicht alles, was im Spiegel
       steht, in der taz oder im Internet". Als eines der wichtigsten Medien von
       Jugendlichen eignet sich Wikipedia unserer Meinung nach sehr gut dazu,
       Medienkompetenz zu vermitteln.
       
       Hat Wikipedia Macht? Und wenn ja, in wessen Händen liegt sie? 
       
       Die Macht bei Wikipedia hat das bessere Argument. Wikipedia ist keine
       Demokratie in dem Sinne, das hier die Mehrheit bestimmt, welches Wissen
       Aufnahme findet und welches nicht. Nehmen wir die berüchtigten
       Löschdiskussionen, die von jedem gestartet werden können, der einen Artikel
       für nicht relevant genug hält. Sieben Tage ist jeder auch ohne Anmeldung
       eingeladen, seine Argumente für oder wider vorzubringen, auf die Argumente
       der anderen einzugehen etc. Am Ende wird dann nicht ausgezählt, sondern die
       Qualität der Pro- und Kontra-Argumente wird bewertet und dann entschieden.
       
       Dadurch, dass Wikipedia das Sprungbrett für Wissen geworden ist, wird es
       aber auch attraktiver für PR-Abteilungen großer Unternehmen und für
       politische Interessen, ihre jeweilige Sichtweise prominent in
       Wikipedia-Artikeln zu positionieren. Dagegen hilft nur eine engagierte und
       große Community, die diese Änderungen stets kritisch begleitet.
       
       Wikipedia ist auch eine gut geölte Spendenmaschine - zuletzt wurden wieder
       16 Millionen Dollar (12,1 Millionen Euro) gesammelt. Zwischenzeitlich gab
       es immer wieder Streit um die Mittelverwendung. Ist Wikipedia transparent
       genug? 
       
       Ja. Wikimedia Deutschland veröffentlicht jedes Jahr einen [2][umfangreichen
       Jahresbericht], wir stellen alle vom Steuerberater ausgefertigten
       Jahresabschlüsse ins Netz und informieren monatlich in unserem Blog über
       unsere Tätigkeiten. In diesem Jahr sind wir noch weiter gegangen und haben
       den Entwurf unseres Haushaltsplans für einige Woche im Netz zur Diskussion
       gestellt, um die Schwerpunkte für das kommende Jahr zu diskutieren und neue
       Ideen aufzugreifen.
       
       Der Comedian Stephen Colbert hat einmal gescherzt, wir lebten in einer
       [3]["Wikiality"] - einer von Minute zu Minute veränderbaren Realität. In
       der Tat bleibt das Grundprinzip der Wikipedia, dass viele Einträge von
       jedermann editiert werden können, bestehen. Wundert Sie, dass das
       funktioniert? 
       
       Im Januar 2010 stellte ein Wissenschaftler fest, dass seit den 1960er
       Jahren durch einen Zahlendreher die Länge des Rheins statt korrekt mit 1230
       Kilometern mit 1320 Kilometern in unzähligen Lexika, Nachschlagwerken,
       Publikationen und Schulbüchern angegeben ist.
       
       Und auch bei Wikipedia stand lange Zeit diese falsche Zahl. Es wird aber
       noch Jahre dauern, bis dieser Fehler in allen Druckerzeugnissen behoben
       ist. Bei Wikipedia war es eine Änderung durch einen nicht-angemeldeten
       Benutzer am 28. Januar, der diesen Fehler behob. Nein, es wundert mich
       nicht, dass das Prinzip so gut funktioniert.
       
       1 Jan 1970
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /1/netz/artikel/1/wikimedia-loescht-im-spendenticker/
 (DIR) [2] http://wikimedia.de/wiki/T%C3%A4tigkeitsberichte
 (DIR) [3] http://www.colbertnation.com/the-colbert-report-videos/72347/july-31-2006/the-word---wikiality
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ben Schwan
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Wikipedia überaltert: Wissen ohne Nachwuchs
       
       Das Wissen der Welt soll gesammelt werden, aber sammeln tun nur wenige:
       Wikipedia hat ein Nachwuchsproblem. Langjährige Autoren machen Neulingen
       teilweise das Leben schwer.
       
 (DIR) Frauenquote bei Wikipedia: Wissen für alle, aber nur von Männern
       
       3,5 Millionen Artikel in 250 Sprachen - Wikipedia hat viel erreicht in zehn
       Jahren. Allerdings ohne Frauen. Nur 13 Prozent der aktiv Schreibenden sind
       weiblich. Das soll sich ändern.
       
 (DIR) Misstrauensvotum gegen Wikimedia-Vorstand: Konzern oder Community?
       
       Stress in Wikiland. Der Vorstand von Wikimedia Deutschland steht in der
       Kritik. Auslöser ist die Gründung einer Tochtergesellschaft für die
       Spendenverwaltung.
       
 (DIR) 10 Jahre Wikipedia: Wie das Wissen System bekommt
       
       Wikipedia ist nicht nur ein Nachschlagewerk, sondern auch eine Datenbank
       der Informationen. Mit semantischen Techniken versuchen Forscher den
       Wissensschatz zu heben.
       
 (DIR) Kommentar 10 Jahre Wikipedia: Kostenlos und ohne Werbung
       
       Das Online-Lexikon Wikipedia zeigt, dass es sehr wohl funktionieren kann,
       auf das Wissen und die Intelligenz der Web-User zusetzen.
       
 (DIR) Ringen um einen Lexikon-Eintrag: Wer bestimmt das Wikipedia-Wissen?
       
       Der Wikipedia-Artikel über den „Neoliberalismus“ ist einer der
       umkämpftesten in der Online-Enzyklopädie. Es wird ergänzt, geändert und
       geätzt. Mitten im Edit War: ein Lokalpolitiker von der FDP
       
 (DIR) Wikipedia sammelt Spenden: "In your face, brockhaus!"
       
       Kurz vorm 10. Geburtstag hat die Wikipedia ihren jährlichen Spendenaufruf
       beendet. 12 Millionen Euro kamen zusammen. Was passiert jetzt mit dem Geld?