# taz.de -- Nach dem Attentat von Tuscon: Jetzt wollen alle zusammengehören
       
       > Hunderte Motorradfahrer, ebenso viele weiß gekleidete "Engel" – tausende
       > Tusconians geben Christina Taylor Green das letzte Geleit. Die
       > Neunjährige starb im Kugelhagel.
       
 (IMG) Bild: Gedenken vor dem Universitätsklinikum in Tuscon.
       
       Die schweren Jungs und ihre glitzernden Maschinen stehen auf einem sandigen
       Platz am Rand der Shannon Road. Exakt 1.000 Fuß vor der Kirche St.
       Elizabeth Ann Seton. Fünf Erwachsene tragen einen kleinen Holzsarg in das
       Gotteshaus. Darin die 9-jährige Christina-Taylor Green, deren Leben am
       vergangenen Samstag um 10.10 Uhr in einem Kugelhagel endete. Sie ist das
       jüngste Opfer der Schießerei von Tucson. Das erste, das beerdigt wird.
       Christina war ein Mädchen, das vor Wissenslust und Tatenfreude sprühte. Sie
       hat Ballett getanzt, Baseball gespielt und war vor wenigen Wochen in die
       Schülervertretung gewählt worden. Ihr Leben endete bei der
       Bürgersprechstunde einer Kongressabgeordneten der Demokraten, als ein
       junger Mann das Feuer eröffnete. Außer Christina wurden fünf Erwachsene
       getötet und vierzehn verletzt. Die Abgeordnete Gabrielle Giffords überlebte
       einen Kopfschuss.
       
       "Wir unterstützen die Familie", sagt Jim Cionci auf dem sandigen Platz an
       der Shannon Road: "Die Sache ist schließlich in unserem Bundesstaat
       passiert. In unserer Community." Vor ihm steigen die felsigen Catalina
       Mountains auf. Hinter ihm liegt die Wüste, in der um diese Jahreszeit gelbe
       Blüten auf der Spitze von Kakteen wachsen. Südlich liegt die Stadt Tucson,
       mit dem Tatort - ein x-beliebiger Parkplatz vor einem Supermarkt zwischen
       zwei Schnellstraßen. Das Krankenhaus, in dem die Überlebenden behandelt
       werden. Und die Wohnungen und Arbeitsplätze der Opfer. An allen Orten sind
       kleine Altäre auf dem Asphalt entstanden. Kinder und Erwachsene legen dort
       Luftballons, Teddybären und kleine Texte und Bilder ab. Dazwischen flackern
       Kerzen. Für die tote kleine Christina. Aber auch für die Abgeordnete
       Gabrielle Giffords, die das erste Ziel des Täters war. Ein Mitarbeiter aus
       ihrem Büro wurde erschossen, und ein zweiter liegt mit zwei Schusswunden im
       Krankenhaus. Vor den Altären halten rund um die Uhr Menschen inne.
       
       An diesem Donnerstagnachmittag, als die kleine Christina als erstes Opfer
       beigesetzt wird, säumen tausende Menschen aus Tucson die Shannon Road, die
       zu der Kirche führt, in der ihre Familie Abschied nimmt. Posthum ist
       Christina zu einem Inbegriff von Leben geworden. Ihr Andenken gehört schon
       jetzt allen Tucsonians. Und Präsident Barack Obama hat ihr in seiner Rede
       bei der Gedächtnisfeier in Tucson ein gesprochenes Denkmal gesetzt.
       
       Jim Cionci steht, umgeben von anderen Männern seines Kalibers, auf dem
       sandigen Platz. Die Aufnäher auf den Lederjacken der Männern handeln von
       Gott und von der Hölle, sowie von Kriegen, in denen sie gekämpft, und von
       Kameraden, die sie verloren haben. An manchen Armen baumeln dicke
       Metallketten. Und manche Beine stecken in Lederschützern, die bis kurz
       unterhalb des Schritts reichen.
       
       Aufgabe: abschrecken 
       
       Mehrere hundert Männer sind dem Aufruf der Christlichen Motorradfahrer von
       Arizona gefolgt und während Christinas Beerdigung nach Tucson gekommen.
       Ihre Aufgabe ist es, abzuschrecken. Durch ihre bloße Präsenz. Und notfalls
       durch körperliches Eingreifen. "Natürlich habe ich nichts gegen
       Schusswaffen", sagt Cionci, "aber an diesem Tag brauchen wir keine. Die
       haben auch so genug Angst vor uns."
       
       Gemeint sind die Mitglieder der Westboro Baptist Church. Eine Hassgruppe
       die sich darauf spezialisiert hat, Beerdigungen zu stören. Sonst taucht die
       Gruppe bei Beerdigungen von homosexuellen Soldaten auf und von Prominenten,
       die ihres Erachtens gegen christliche Prinzipien verstoßen haben. "Gott
       hasst Schwuchteln" steht dann auf ihren Transparenten. Und: "Gott hasst
       Amerika". In Tucson hat die Gruppe den 22-jährigen Todesschützen Jarod
       Loughner zum "Helden" erklärt. Sie hat zugleich erklärt, dass sie bei den
       Beerdigungen von dessen Opfern demonstrieren will. Trotz eines Gesetzes,
       das die Regierung des Bundesstaats Arizona in aller Eile
       zusammengeschustert hat und das Demonstrationen in einem Umkreis von 300
       Fuß rund um Beerdigungen verbietet. Jenseits von 1.000 Fuß gilt schließlich
       das in der Verfassung garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung.
       
       Die Motorradfahrer sehen keine Veranlassung, irgendwelche Konsequenzen aus
       dem Massaker zu ziehen. "Verrückte gibt es überall", sagt Cionci. Und sein
       Kumpel Dick Page fügt hinzu, dass auch Deutschland da keine Ausnahme mache:
       "Schließlich habt ihr den Ersten Weltkrieg und den Zweiten begonnen." Was
       den Waffenbesitz angeht, sehen die Motorradfahrer schon gar keinen
       Veränderungsbedarf. Für sie ist Waffenbesitz ein Grundrecht, das keinen
       Politiker etwas angeht. Auch nicht den Präsidenten der USA. Von ihm halten
       die Motorradfahrer sonst gar nichts. Seine Rede vom Vorabend war die erste,
       die ihnen gefiel. Begründung: "Er hat nur von Gefühlen geredet. Und nicht
       von Politik." Zum Abschied singt Page die deutsche Nationalhymne. Erste
       Strophe.
       
       Die "Engel" schützen 
       
       Mehrere hundert Fuß näher an der Kirche gehen in strahlendes Weiß
       gekleidete Menschen leichten Schrittes und schweigend über den Wüstensand.
       Die "Engel" sind an diesem Donnerstag mit acht Fuß hohen und mehrere Fuß
       breiten Flügeln gekommen. Ihre "Flügel" sind mit weißem Stoff bespannte
       Kunststoffgestelle. Damit treten die "Engel" immer dann in Aktion, wenn
       eine Hassgruppen ein Störmanöver bei einer Beerdigung angekündigt hat. Mit
       ihren Flügeln schirmen die "Engel" die Trauergemeinden ab. "Das ist
       passiver Widerstand", sagt der Fotograf Wayne Belger, der stellvertretend
       für die anderen, schweigenden Gruppenmitglieder spricht: "Wir vermeiden
       jede Berührung mit der anderen Seite. Und wir bereiten uns darauf in
       intensiven Trainings vor."
       
       "Es wäre schön, wenn das Massaker die Menschen zum Nachdenken bringt", sagt
       Belger. Aber so richtig daran glauben mag auch er nicht. "Eine Veränderung
       der Bürgerrechtssituation in Arizona wäre gut", sagt er. "Insbesondere an
       der Grenze zu Mexiko, wo die Stimmung so aufgeheizt ist." Doch schon im
       nächsten Satz nimmt er sich wieder zurück. "Ich will hier keine Politik
       machen", sagt er, "darum geht es uns nicht."
       
       Während der Beerdigung der kleinen Christina taucht die Hassgruppe entgegen
       ihren Ankündigungen nicht auf. Sie hat stattdessen ein Tauschgeschäft
       gemacht. Als Gegenleistung für ihren Demonstrationsverzicht bekommt die
       Gruppe eine halbe Stunde Sendezeit am Samstag in einem Lokalradio sowie
       eine ganze Stunde, am Montag, in einem nationalen Radiosender. "Damit
       erreichen wir 10 Millionen Menschen", sagt Shirley Phelps Roper, die
       Sprecherin der Gruppe: "Viel mehr als in der Kirche in Tucson."
       
       Pessimistisch über die Reformierbarkeit der Politik in Arizona ist auch
       Alessandra Soler Meetze. Die Chefin der Bürgerrechtsunion ACLU erlebt, dass
       Arizona fest in den Händen "von rechten und immer extremistischeren"
       Politikern ist und dass der Ton der politischen Debatte - sowohl in der
       Politik, als auch in den Medien - immer stärker polarisiert. Sie nennt das
       Klima in Arizona "fremdenfeindlich". Und glaubt, dass die Republikaner den
       Bundesstaat als politisches Versuchslabor für den Rest der USA benutzen.
       
       Keine Meinung 
       
       Die 24-jährige Sara Luker und die 22-jährige Casey Thurston stehen - jede
       mit einer gelben Rose und einer Kerze in der Hand - am Straßenrand unweit
       der Kirche. Auch sie wollen die Familie von Christina unterstützen. Die
       beiden jungen Frauen, die in einem Zentrum für misshandelte Kinder in
       Tucson arbeiten, waren schon am Vortag im Basketballstadion und haben dort
       Barack Obamas tröstende Worte gehört. Casey Thurston hofft jetzt, dass die
       Menschen in Tucson künftig "liebevoller miteinander umgehen". Aber zu der
       Waffengesetzgebung, die in Arizona besonders liberal ist, hat sie keine
       Meinung. "Damit habe ich mich nie befasst", seufzt sie. Dann sagt sie:
       "Waffen sollten nicht in falsche Hände gegeben werden."
       
       Die 19-jährige Jennifer Uzarraga hat in ihrem jungen Leben schon vielfach
       "Gewalt, Schießereien und Tote" gesehen, sagt sie. Sie findet, Waffenkäufer
       sollten zunächst einem Psychotest unterzogen werden. Und sie sagt, ohne
       einen Moment zu zögern, dass sie später selbst eine Schusswaffe anschaffen
       will: "Um meine Kinder zu schützen."
       
       Die zierliche junge Frau macht eine Ausbildung zur Krankenschwester. Sie
       trägt ein Amulett der Jungfrau von Guadalupe und einen rosafarbenen
       Rosenkranz um den Hals. Und steht während der langen Totenmesse für
       Christina eng umschlungen und schweigend mit ihrem Freund Jonathan vor der
       Kirche. Christina war für sie "ein kleines Mädchen, das es nicht verdient
       hat, zu sterben".
       
       Jennifer hat Christina nicht gekannt. Aber mit dem Mann, der sie erschossen
       hat, saß Christina 2005 ein Schuljahr lang in derselben Klasse der
       Mountainview High School. "Er war ein Einzelgänger", sagt sie. Gesprochen
       hat sie nie mit ihm. Wie sie auch mit den meisten anderen Mitschülern
       damals nicht gesprochen hat. "Wir waren alle in unterschiedlichen Gruppen",
       sagt sie, "die Mexikaner, die Chinesen und die Skateboarder. Wir waren alle
       gegeneinander. Und jeder für sich."
       
       Jennifer ist Tochter mexikanischer Eltern. Sie ist in den USA geboren und
       aufgewachsen. Und sie hat sich "immer allein" gefühlt. Seit der Rede des
       Präsidenten nimmt sie sich zum allerersten Mal als Amerikanerin wahr. Für
       sie ist das die wichtigste Veränderung nach der Schießerei von Tucson: "Ich
       habe jetzt das Gefühl, dass wir alle zusammengehören."
       
       14 Jan 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dorothea Hahn
       
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