# taz.de -- Der FC St. Pauli in der Identitätskrise: Schluss mit Go-go
       
       > Eine Fan-Meuterei gegen zu viel Kommerz, bestechliche Spieler und eine
       > sportliche Talfahrt – im Jahr nach seinem 100. Geburtstag hat St. Pauli
       > mit Problemen zu kämpfen.
       
 (IMG) Bild: Bring back St. Pauli: Fanproteste beim Spiel gegen den SC Freiburg.
       
       HAMBURG taz | Es war der größte, der farbenfrohste Protest seit Jahren.
       Hunderte Fahnen, Tausende in die Luft gereckte Schilder, Mützen,
       Transparente, alle bedruckt mit dem Jolly Roger, dem Totenkopf auf blut-
       oder "wutrotem" (Hamburger Morgenpost) Grund. Doch die
       Knochenschädel-Performance, die vergangenen Samstag das Millerntor in
       Schwarz und Rot tauchte, war keine der Kreativ-Choreografien, mit denen die
       Fangruppen des FC St. Pauli die Heimspiele begleiten – sie war bitterer
       Protest.
       
       Unter dem Motto "Bring back St. Pauli" hatte die Faninitiative
       "Sozialromantiker" gegen den aus ihrer Sicht überbordenden Kommerz rund um
       den Bundesliga-Aufsteiger zum sichtbaren Widerstand aufgerufen und fast die
       gesamte Anhängerschaft erfolgreich mobilisiert.
       
       Mit der Aktion protestieren die Fans dagegen, dass in einer der neuen
       Stadionlogen, die am Millerntor kieztypisch "Separees" genannt werden,
       während der Heimspiele Tabledancerinnen die Hüllen fallen lassen. Dass die
       neue, im Sommer eingeweihte Haupttribüne zur Hälfte aus teuren
       Business-Seats besteht und im Dezember auf einem LED-Laufband
       kostenpflichtige Grußbotschaften während der gesamten Spielzeit die
       Aufmerksamkeit auf sich zogen, ist der Fan-Gruppe ebenfalls ein Dorn im
       Auge. Über 4.200 Anhänger des Vereins haben bereits eine Internetpetition
       der Faninitiative unterzeichnet, die in der Aussage gipfelt: Es reicht!
       
       Es geht den Sozialromantikern nicht darum, jede Form von Kommerz zu
       verhindern. Sie klagen einen mit der Vereinsführung geschlossenen
       Kompromiss ein, dass auch "auf dem Marktplatz Bundesliga" die
       "Andersartigkeit" des Kiezclubs sichtbar bleiben muss und Werbemaßnahmen
       tabu sind, "die vom Spielbetrieb ablenken" und so die Stimmung im Stadion
       negativ beeinflussen.
       
       Eine Gratwanderung. "Kein anderer Verein lässt so viel Geld, das er nur
       aufheben müsste, auf der Straße liegen, weil bestimmte
       Merchandising-Aktionen einfach nicht ans Millerntor passen", formuliert
       St.-Pauli-Sportchef Helmut Schulte die Gegenposition. So verhinderten die
       Mitglieder des Vereins schon vor Jahren, dass der Stadionname an einen
       Werbepartner verkauft wird. Die Folge der aus Sicht der
       Club-Verantwortlichen defensiven Vermarktungsstrategie: Der Hamburger
       Stadtteilclub hat mit den kleinsten Etat aller Bundesligisten, teure
       Spielereinkäufe wird er sich in absehbarer Zukunft nicht leisten können.
       
       Hundertjähriges Vereinsjubiläum, Bundesliga-Aufstieg, Fertigstellung des
       Kernstücks des neuen Millerntors, der Haupttribüne – im vorigen Jahr
       berauschte sich der Verein zwölf Monate lang an sich selber. Doch die
       Euphorie ist längst der Ernüchterung gewichen: Sportlich befindet sich die
       Bundesliga-Truppe auf Talfahrt in Richtung Abstiegszone, die Fanproteste
       und ein Bestechungsskandal, der den Verein erschüttert, tragen dazu bei,
       dass die Stimmung im Freudenhaus der Liga derzeit depressive Züge aufweist.
       
       Der neue Präsident Stefan Orth, der im vergangenen Jahr das schillernde
       Aushängeschild Corny Littmann beerbte, hat alle Hände voll zu tun, die
       Wogen zu glätten. Am Dienstagabend tagten er und seine Führungscrew mit dem
       Ständigen Fanausschuss des Vereins bis tief in die Nacht, um über die
       Grenzen der Kommerzialisierung zu streiten. "Wir haben einen gemeinsamen
       Weg gefunden, die Werte des FC St. Pauli zu leben – hier wird es nie ein
       Disneyland geben", gab Orth sich am Mittwoch versöhnlich.
       
       Die LED-Buchstaben sollen laut Orth zukünftig nicht mehr leuchten, die
       Go-go-Girls nicht mehr während des Spiels strippen, ein Teil der
       Business-Seats zu normalen Sitzplatzpreisen angeboten werden. Die
       Sozialromantiker, die an dem Treffen nicht teilnahmen, kündigten gestern
       lediglich an, sie wollten "die Ergebnisse in Ruhe bewerten und dann darauf
       reagieren".
       
       Dass Geld den Fußball auch am Millerntor regiert – das musste der Club erst
       vor knapp zwei Wochen erfahren, als der ehemalige Stürmer des Vereins, René
       Schnitzler, bekannte, er habe 2008 von einem niederländischen Wettpaten
       100.000 Euro angenommen, um fünf Zweitligaspiele der Hamburger zu dessen
       Ungunsten zu verschieben.
       
       Zwar betonte der wegen seiner Spielsucht hochverschuldete Schnitzler, er
       habe kassiert, doch nicht geliefert, doch dass ausgerechnet der FC St.
       Pauli nun in den Fokus eines neuen Bestechungsskandals gerät, ist für
       Teamchef Christian Bönig "ein Schlag ins Gesicht".
       
       Obwohl sich der Verein längst von Schnitzler getrennt hat und es keine
       belastbaren Anzeichen dafür gibt, dass die Spiele wirklich manipuliert
       wurden, droht dem Club ein Nachschlag in der Bestechungsaffäre. Vergangene
       Woche gab Marijo C., einer der Hauptverdächtigen im Bochumer Wettprozess,
       den Ermittlern zu Protokoll, dass neben Schnitzler noch vier weitere Kicker
       des FC St. Pauli gekauft wurden.
       
       Zwar kann sich Bönig "nicht vorstellen, dass Spieler betroffen sind, die
       noch in unseren Diensten stehen", doch sicher kann er sich nicht sein. Die
       Realität, berechnet in Cent und Euro, hat den Überfliegerverein der
       vergangenen Saison längst eingeholt.
       
       20 Jan 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marco Carini
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Eintracht Frankfurt
       
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