# taz.de -- Banken betrügen Kleinanleger: Alt und doof
       
       > Die Kleinanleger, die Lehman-Zertifikate gekauft haben, sind einem
       > abgekarteten Betrugssystem auf den Leim gegangen. Jetzt verlangen sie ihr
       > Geld zurück.
       
 (IMG) Bild: Man lernt ja auch nicht Tischler, bevor man sich einen Schrank kauft: Die Kunden haben ihrer Bank blind vertraut.
       
       Es ist die Zeit der bürgerlichen Dämmerung. Die Farben des Abendhimmels
       werden von den Leuchtreklamen der Geschäfte und den Lichtern der
       Autokolonnen überstrahlt. Es ist kalt an diesem Donnerstag, Anfang Januar
       2011. Ein gefrierender Nieselregen setzt ein, dennoch ist die Schlossstraße
       in Berlin-Steglitz voller Passanten um diese Zeit. Direkt am Bierpinsel
       residiert eine Filiale der Targobank, vormalig Citibank. Merkwürdige
       Demonstranten stehen neben der gläsernen Automatiktür. Sie haben sich
       Plakate um den Hals gehängt, auf denen seltsame Sätze zu lesen sind wie:
       "Die Targobank hat ganz beflissen uns um unser Geld beschissen" oder:
       "Citibank vertraut, Ruhestand versaut." Oder: "Vorsicht vor der Targobank -
       Drückerkolonne!"
       
       Die Damen und Herren Demonstranten haben meist silberweißes Haar, sind gut
       gekleidet und sehen nicht aus, als hätte man ihnen an der Wiege gesungen,
       dass sie eines Tages als Häuflein von "Störern" auf die Straße gehen
       werden, mit Tröte, Trommel, Trillerpfeife und Megafon. Tapfer stehen sie
       fröstelnd im Regen, ohne Schirm, skandieren ihre Parolen und verteilen
       Handzettel an die misstrauischen und pressierenden Passanten. Viele denken
       wohl, dass es sich um irgendwelche Umweltfreunde handelt, die Wale oder
       Bäume retten wollen.
       
       Einige Leute bleiben stehen, fragen nach, beginnen ein Gespräch und
       verstehen allmählich, worum es sich ungefähr handelt. Eine Passantin sagt
       mitfühlend: "Schrecklich, was Ihnen da passiert ist. Sie müssen sich
       unbedingt an Ihre Politiker wenden!" und erntet Gelächter. "An die? Die tun
       gar nichts für uns!"
       
       Kunden der Bank, die hinein-oder herauswollen, drücken sich eher peinlich
       berührt an dem Grüppchen vorbei. Wer möchte schon gern hören, dass er sein
       Geld auf dem Konto bei einer Betrügerbank hat? Es soll aber auch Kunden
       gegeben haben, die nach einem Gespräch mit Demonstranten ihr Konto
       auflösten.
       
       Die Demonstranten skandieren: "Die Citibank hat mit Bedacht uns um unser
       Geld gebracht!" - "Genau!", ruft die asiatische Krankenschwester. Sie hat
       die Ersparnisse ihres Arbeitslebens komplett eingebüßt. Dann werden die
       Transparente verstaut, das fünfzehnköpfige Grüppchen zieht zur Fortsetzung
       des Protestes ein paar Schritte weiter, vor die Filiale der Commerzbank,
       einer Privatbank, die mihHilfe von 1,8 Milliarden Euro Steuergeld die
       Dresdner Bank geschluckt hat, keine Zinsen, keine Rückerstattung zahlt,
       aber Boni für den Vorstand. Der Anführer der Demonstranten, ein quirliger
       Mann mit Megafon, Bela Paradi, der 60.000 Euro verloren hat, ruft:
       "Vertraut hab ich der Dresdner Bank. Mein Konto leer. Das ist der Dank" und
       "Lügnerbank! Gebt uns unser Geld zurück! Wir kommen wieder. Der Kampf geht
       weiter!"
       
       Das alles findet unter dem strengen Auge des Gesetzes in Form eines älteren
       Polizisten mit Brille statt. Er trägt die neue Uniform in Dunkelblau -
       statt der alten in Erbsgrün. Sie wurde, um den torkelnden Wahnsinn komplett
       zu machen, vom Modedesigner Luigi Colani entworfen, hat alarmierende
       Reflektorenstreifen und 24 Taschen. Ein Namensschild, das Demonstranten
       seit 40 Jahren vergeblich gefordert haben, funkelt auf seiner Brust, eine
       achteckige Schirmmütze krönt seinen Kopf. Er nimmt die ihm übertragene
       Aufgabe sehr ernst und schreitet sofort ein, wenn der Kundenverkehr
       behindert wird.
       
       Der Grund, weshalb die Demonstranten hier stehen, ist längst in
       Vergessenheit geraten. Er galt im Herbst 2008 als das zentrale Ereignis der
       Weltwirtschaftskrise. Es lohnt sich, einen Rückblick auf die bizarre
       Szenerie zu werfen, in der sich die Demonstranten damals verfangen haben:
       Im September 2008 ging die viertgrößte Investmentbank der Welt pleite. Der
       Untergang der US Bank Lehman Brothers - 1860 von drei aus Franken
       eingewanderten jüdischen Brüdern gegründet - wurde als größte Pleite der
       Finanzgeschichte bezeichnet. Die Bank Lehman Brothers hatte bis dahin alle
       Katastrophen überlebt, 1929 den Börsencrash, 1984 das vorübergehende
       Geschlucktwerden durch American Express, 2001 die Zerstörung ihres
       Datencenters im Nordturm des World Trade Centers und ihrer Zentrale im
       World Trade Financial Center und sogar die Immobilienkrise.
       
       Verweigerte Rettung 
       
       Dass diese traditionsreiche Bank, die als "too big to fail" galt, dennoch
       in Konkurs ging und nicht mit Staatsgeldern "gerettet" wurde - wie vor und
       nach ihr andere Banken -, war ein Sakrileg. Die Weigerung, sie zu retten,
       wird auf den Wahlkampf in den USA 2008, ihre vorwiegende Auslandstätigkeit
       - sie hatte keine US-Privatkunden - und auf die Rivalität zwischen
       Finanzminister Paulson und Lehman-Chef Fuld zurückgeführt. Es gibt auch
       Vermutungen, die Lehman-Pleite sei taktisch notwendig gewesen, um den
       nachfolgenden großen "Rettungsschirm" politisch plausibel zu machen. Nur
       dadurch sei der Zusammenbruch des gesamten Finanzmarktes abwendbar gewesen.
       
       Die Geschichte der Lehman-Pleite bahnte sich bereits im Jahr 2000 an. Nach
       dem Absturz der New Economy senkte die US-Zentralbank den Leitzins auf 1
       Prozent, wodurch sich die angeschlagenen Banken mit billigen Krediten
       versorgen konnten. George Bush versprach damals in seinem Wahlkampf "jedem
       sein eigenes Haus".
       
       Die Banken witterten ein großes Geschäft, und es wurden umfangreiche
       Werbefeldzüge in Gang gesetzt. Speziell dem unteren Mittelstand wurden
       billige Kredite für Eigenheime angedreht zu extrem günstigen Konditionen:
       kein Bonitätsnachweis, kein Eigenkapital. 100 Prozent cash zu flexiblen
       Zinsen. Das löste für einige Jahre einen enormen Boom vergebener Kredite,
       steigender Immobilienpreise und hoher Zinsgewinne aus. 2007, als es schon
       rasant abwärts ging, kaufte Lehmann dennoch einen Immobiliengiganten und
       damit einen gewaltigen Immobilienbestand. Der Leitzins war inzwischen
       gestiegen. 2007 lag er schließlich bei 5,25 Prozent, und viele Banken
       nahmen 12 oder sogar 20 Prozent von ihren Kunden, sodass die Kreditnehmer
       dieser "Subprime-Kredite" ihre Rückzahlungen nicht mehr leisten konnten.
       
       Völkerwanderung 
       
       Massenhaft wurden Zwangsräumungen durchgeführt mit der Folge, dass eine
       wahre Völkerwanderung von Exmittierten - vielfach schwarzen Familien - auf
       der Suche nach Unterkunft und Verdienstmöglichkeit durchs Land zog oder in
       Zeltstädten unterkam. Ganze Eigenheimsiedlungen standen leer und verfielen,
       ebenso wie die Immobilienpreise. Das gefährdete auch Lehmans Bonität und
       damit die Chance, umstandslos bei anderen Banken Kredite zu bekommen.
       
       Die kollabierenden Hypothekenbanken, die ihre Immobilien nicht mehr
       loswurden, verkauften ihre Hypothekenpapiere beziehungsweise deren
       Zahlungsansprüche an die großen Investmentbanken. Für die wiederum bestand
       das Geschäft dann in der Mehrfachverwertung dieser Hypotheken. In
       sogenannten Kreditpaketen wurden "notleidende Kredite" zwischen "gesunde"
       Papiere gemischt, und für dieses Produkt bekam man dann von Ratingagenturen
       gute Noten. Schon war ein lukrativer Weiterverkauf möglich. Damit begann
       weltweit ein hektischer Handel zwischen den Banken, der nach anfänglich
       hohen Gewinnen in die Finanzkrise mündete. Lehman Brothers war mit 100
       Milliarden Dollar der größte Verkäufer von Kreditpaketen. Das war das
       Hauptgeschäft der Bank. Die Verschuldung wuchs enorm, Milliardenbeträge
       wurden verschleiert, bis dann der Zusammenbruch Ende 2008 das Ausmaß
       offenbarte.
       
       Auch die Deutsche Bank hat sich massiv am Handel mit Kreditpaketen
       beteiligt, erlitt aber als Insiderin durch rechtzeitigen Verkauf
       vergleichsweise wenig Verluste. Es wurde und wird von den Strategen der
       Finanzindustrie mit diesen und anderen Papieren ein ausgeklügeltes und
       kriminelles Geschäft betrieben. Im Herbst vorigen Jahres wurde zudem
       bekannt, dass US-Hypo-Banken in großem Umfang Massenversteigerungen der
       "herrenlosen" Immobilien mit gefälschten Hypothekenbriefen betrieben haben.
       
       Stupid german money 
       
       Der Verkauf von Lehman-Zertifikaten in Deutschland war ein eher
       unscheinbarer Schachzug im großen Spiel des Finanzbetrugs. Er traf die
       deutschen Kleinanleger dennoch mit unverminderter Härte. Die sogenannte
       Emittentin ihrer Unglückspapiere war die Lehman Brothers Treasury Co. B. V.
       in Amsterdam. Sie firmierte dort, um der deutschen Einlagensicherung zu
       entgehen, und war eine Briefkastenfirma ohne Personal und Telefon. Sie
       hatte nur einen einzigen Existenzzweck, sie sollte in Deutschland das
       "stupid german money" - so der US-Finanzbankerjargon - sparsamer und dummer
       Rentner abfischen, mittels Zertifikaten zur Refinanzierung der
       verschuldeten US-Mutterbank Lehman Brothers.
       
       Banken in Deutschland erwarben diese Zertifikate günstig von der
       holländischen Tochter und verkauften sie mit Gewinn an ihre Kunden weiter.
       Geschätzte 50.000 deutsche Kleinanleger kauften und verloren am Ende
       insgesamt eine Summe von mehr als 1 Milliarde Euro. Mit der Insolvenz der
       Lehman-Bank - ihr Werbespruch: "Unsere Bank gehört Ihnen" - war ihr Geld
       weg, auf einen Schlag! Wären allerdings die versprochenen Renditen
       anstandslos geflossen, hätte kaum einer etwas auszusetzen gehabt.
       Nichtsdestotrotz aber sind diese Kleinanleger einem abgekarteten
       Betrugssystem auf den Leim gegangen beziehungsweise geradezu auf den Leim
       genötigt worden.
       
       Viele der Geschädigten haben sich in ganz Deutschland Ende September 2008
       zusammengeschlossen, eine Internetseite errichtet, sich vernetzt und eine
       Datenbank angelegt. Wobei bald deutlich wurde, dass Dresdner Bank und
       Citibank - Tochter der US Citygroup, die wiederum der größte Gläubiger der
       Lehman Bank war - den Hauptteil des Handels abgewickelt hatten. Am 4. 12.
       2008 war die erste Mahnwache in Berlin. Seither gibt es wöchentliche
       Treffen zu Mahnwachen und Demonstrationen vor Bankfilialen in verschiedenen
       Städten. Originelle Aktionen wie die "Krötenwanderung" - das war eine
       massenhaftes Abheben von den Konten von mehr als 8 Millionen Euro - und das
       Hinlegen vor die Banken als Leichen, über die man ging, haben bundesweit
       die Aufmerksamkeit der Medien erregt.
       
       Es handelt sich hier nicht um spielsüchtige Zocker. Die meisten dieser
       Kleinanleger verkörpern den deutschen Mittelstand. Von der Sekretärin über
       den Angestellten im öffentlichen Dienst, dem kleinen Beamten bis hin zum
       selbstständigen Architekten sind alle vertreten. Eben Leute, die zeitlebens
       verantwortungsvoll mit ihrem Geld umgegangen sind, das Ererbte und Ersparte
       konservativ angelegt haben und es fürs Alter und für die Kinder ein wenig
       vermehren wollten. Bis ihnen eines Tages Berater, die unerbittlich zum
       Verkauf entschlossen waren, mit Rendite-und Sicherheitsversprechen eine
       Unterschrift zum Kauf der Lehman-Zertifikate aufgeschwatzt haben. Die
       Kunden konnten nicht ahnen, dass sie damit ihr Erspartes einer
       Geldvernichtungsmaschine in den Rachen warfen. Heute fragen sie sich,
       weshalb sie es nicht zu Hause in den Sparstrumpf gesteckt haben, dann wären
       nur 2 Prozent durch Inflation geschwunden.
       
       Im internen Bankjargon nannte man sie AD-Kunden (alt und doof). Viele
       Anleger, obgleich sie oft über erhebliches Sparvermögen und auch
       Wertpapierdepots verfügten, wussten weder, was ein Emittent, ein Indexwert,
       eine Investmentbank, ein Zertifikat beziehungsweise eine
       Schuldverschreibung ist. Noch wussten sie, dass die Lehman-Bank eine
       amerikanische Bank ist. Auch nicht, dass es keine Einlagensicherung gibt
       und im Pleitefall 100 Prozent Kapitalverlust. Sie haben ihrer Bank und dem
       Sachverstand ihres Bankberaters blind vertraut. Man lernt ja auch nicht
       Tischler, bevor man sich einen Schrank kauft. Keiner von ihnen hätte diese
       Papiere gekauft, wäre klar gewesen, dass es sich quasi um ein hoch
       kompliziertes und riskantes Wettgeschäft handelt. Auch eine
       Schuldverschreibung hätte Verdacht erregt, schon allein das Wort Schuld
       löst in Deutschland Abwehr aus. Und niemand hätte sein Geld einer
       holländischen Briefkastenfirma anvertraut, um das Schuldenloch einer
       US-Bank zu stopfen.
       
       Mancher fragt sich vielleicht, woher eigentlich all diese vielen
       Kleinanleger plötzlich kamen. Früher waren Aktien was für Leute mit
       Kapital, für Reiche. Aber doch nicht für den kleinen Mann! Das änderte sich
       in den 90er Jahren während des Technologiebooms. In Deutschland brach ein
       vollkommen verrücktes Aktienfieber aus. Es war wie ein Veitstanz. Die
       Telekom-Aktie wurde mit einer 100 Millionen teuren Werbekampagne und dem
       Versprechen: "So sicher wie eine vererbbare Zusatzrente" als "Volksaktie"
       vom Staat auf den Markt geworfen und massenhaft an die arglose Bevölkerung
       verkauft. Allerorten bildeten sich für diejenigen, die sich einen
       Alleingang nicht zutrauten, "Investment Clubs" nach dem Vorbild der
       Lotto-Gemeinschaften. Alle hegten märchenhafte Erwartungen an ständig
       steigende Erträge. Aber als dann zur Jahrtausendwende die New-Economy-Phase
       plötzlich zu Ende ging, da wurde klar, die märchenhaften Gewinne hatten
       andere gemacht.
       
       Aktien in der Suppenküche 
       
       Meine Freundin Elisabeth Kmölniger und ich haben damals drei Jahre lang
       eine Armutsreportage in Berliner Suppenküchen und Wärmestuben gemacht.
       Unser Verhältnis zu den Armen und Obdachlosen war recht vertraut, und wir
       haben nicht schlecht gestaunt, als uns einige der jüngeren Männer
       anvertrauten, sie hätten - trotz der Kontingentierung - einige
       Technologie-Aktien von Infenion zu 68 DM pro Stück ergattert. Am Computer
       des Sozialamts, das es damals noch gab, konnten sie im Internet verfolgen,
       wie ihre Aktien im Wert imposant anstiegen, schnell sanken, um dann weit
       unter den Kaufwert zu fallen. Über dieses Drama wurden wir jeweils
       unterrichtet, bei Wurstbrot und Kaffee, in einer Wärmestube für Obdachlose
       bei der Caritas am Bundesplatz.
       
       Manchmal schließt sich der Kreis. Mehr als zehn Jahre später, an einem
       Donnerstag Anfang Januar um 19.30 Uhr, betreten wir diesen Raum am
       Bundesplatz wieder. Die Armen dürfen sich hier immer noch tagsüber
       aufwärmen. Sie sind seit 18 Uhr weg, es ist gelüftet, aufgeräumt und
       geputzt. Auf ihren Plätzen hat sich die Gruppe der "Interessensgemeinschaft
       der Lehman-geschädigten Kleinanleger" zu ihrem 14-tägigen Stammtisch
       niedergelassen. Es sind etwa drei Dutzend, meist ältere Frauen und Männer.
       Sie haben zwischen 5.000 und 140.000 Euro durch mangelhafte Beratung und
       wertlos gewordene Lehman-Zertifikate verloren.
       
       Anwesend ist auch ein Anwalt, spezialisiert auf Bank-und
       Kapitalanlagenrecht. Er berichtet über diverse Verfahren, erklärt, dass
       eine Sammelklage hier nicht möglich ist, beantwortet Fragen und gibt
       Ratschläge, was zum Beispiel zu tun sei, um die Verjährung der Ansprüche zu
       unterbrechen. Für viele rückt nach fast drei Jahren der Zeitpunkt
       gefährlich näher. Sie müssen einen Ombudsmann aufsuchen oder klagen. Viele
       haben nur noch wenig Hoffnung, obwohl es bereits mehrere Urteile zugunsten
       von Geschädigten gibt. Außerdem wird berichtet, dass viele
       Rechtsschutzversicherungen aufgrund einer Klausel zu Finanzveranlagungen
       die Kosten nicht übernehmen.
       
       Eine ältere Frau um die 70, die anonym bleiben möchte, erzählt uns: "Ich
       war Angestellte im öffentlichen Dienst, und das waren praktisch meine
       Ersparnisse, die jetzt weg sind. Ich habe am 16. 5. 2007 für 20.000 Euro
       Lehman-Papiere gekauft. Mein Berater hat mir die empfohlen, eher
       eingeredet. Ich habe ihm vollkommen vertraut und natürlich gesagt, dass es
       sicher sein muss und wofür ich das Geld brauche. Ich habe ja diese
       Vorerkrankung und, falls die noch mal ausbricht, dass ich dann für alle
       Fälle Geld habe für alternative Therapien und für ein Altersheim. Denn
       meine Rente, die ich habe, die reicht nicht aus, um ein Einbettzimmer zu
       bezahlen. Also ich muss ein Einzelzimmer haben, sonst werde ich verrückt!
       Und man braucht ja auch ein bisschen Fußpflege und einen Frisör im Heim.
       Wenn man alleinstehend ist wie ich, muss man für jeden Handschlag zahlen.
       Bevor ich zur Citibank ging, hatte ich nur Festgeld- und Sparkonto gehabt,
       und sie haben mich dann zu dieser abenteuerlichen Sache überredet. Das
       wurde sehr geschickt gemacht, die sind ja geschult. Der Berater hat mir den
       ganzen Verlauf am Computer ,erklärt', wie das geht mit diesem
       Lehman-Brother-Alpha-Express-Zertifikat, dass die Rendite also von minus 5
       bis plus 12 Prozent sein kann, da ist irgendwas mit einem DIV-DAX und DAX,
       dass es eben auf den Stichtag ankommt usw. Aber es gab nie eine Rendite.
       Ich habe doch keine Ahnung von diesen Geldsachen!
       
       Heute, durch unseren Stammtisch hier, da weiß ich, dass ich mit diesem
       Papier eine Wette abgeschlossen habe mit der Lehman-Bank auf die
       Entwicklung verschiedener DAX-Werte. Aber hohes Risiko, Totalverlust, davon
       war keine Rede damals. Er sagte, es sei sicher, und dann sagte er noch, das
       ist eine der größten Banken, eine Familienbank, über 160 Jahre alt. Und
       natürlich weiß ich jetzt - ich habe viel gelernt am Stammtisch -, dass das
       eine Investmentbank ist oder war.
       
       Ja, die Kleinen und Doofen, mit denen kann man es machen. Das ist das, was
       ich mir so übel nehme - und daher auch meine Magenschmerzen. Wie konnte ich
       nur so gutgläubig sein? Wie konnte ich nur! Und andererseits, warum werden
       wir als Bürger nicht geschützt vor solchen Betrügern? Leider ist es im
       Gegenteil so, dass wir von unseren Politikern auch nur betrogen und
       angelogen werden. Und wenn man sich anschaut, wie sie jetzt um 5 Euro
       Hartz-IV-Zulage nächtelang beraten, das ist eine Schande! Das kostet ja
       schon der Kaffee, den sie in der Pause trinken. Nee. Jedes Vertrauen ist
       vollkommen weg!"
       
       Es sind erstaunlich viele Frauen hier, die sich engagieren und durch ihre
       Eloquenz auffallen. So auch Frau Theiler, die Gründerin der
       Interessengemeinschaft der Berliner Lehman-Geschädigten. Sie ist Witwe,
       eine zierliche Frau um die 50: "Fast überall sind es die Frauen, die die
       Gruppen am Leben halten. Nicht nur in Berlin. Angefangen mit Frankfurt,
       München, Heidelberg, Düsseldorf, Hannover, Bremen. Die Männer geben oft
       viel schneller auf. Aber wir haben hier auch einige sehr aktive und
       unverzichtbare Männer, muss ich sagen. Ich habe die IG hier am 8. November
       2008 gegründet. Es gab damals ein Forum, und wir Berliner hatten uns in
       diesem Zusammenhang kennengelernt. Beim ersten Treffen waren wir noch nicht
       so viele, beim zweiten Treffen waren wir schon 30 Leute. Da wurde es dann
       auch emotional und laut. Beim dritten Mal hatten wir schon Trillerpfeifen.
       Damals waren wir 35 bis 40 Leute und haben nicht mehr reingepasst ins
       Hinterzimmer beim "Kegelkönig", deshalb sind wir dann umgezogen.
       
       Am 1. Jahrestag am 15. 9. 2009 haben wir eine riesige Demo gemacht. Und von
       Anfang an war der Donnerstag unser regelmäßiger Mahnwachen- und
       Demonstrationstag. Viele waren noch nie in ihrem Leben auf einer
       Demonstration. Auch für mich war das am Anfang natürlich etwas peinlich
       oder seltsam. Das hat sich bis heute nicht gelegt. Ich halte bei der Demo
       meine Flyer in der Hand, und wenn jemand zugreift, bekommt er einen. Aber
       ich kann nicht aktiv auf die Leute zugehen. Mir fällt es leichter, die
       Dinge zu organisieren.
       
       Vorreiter der Wutbürger 
       
       Ich kenne alle hier im Raum, ihre Geschichte und das, was sie verloren
       haben. Was uns antreibt, ist unsere Wut. Ich glaube, wir waren die
       Vorreiter dieser Wutbürger-Bewegung. Es war und ist dieser Hass auch dabei,
       regelrechter Hass! Wir müssen doch gegen die gewissenlosen Banker und gegen
       diese ,beschissenen' Politiker etwas unternehmen! Wir müssen zeigen, dass
       sogar 70-Jährige auf die Straße gehen, weil sie sich das nicht gefallen
       lassen können. Und es geht ja hier nicht nur darum, dass wir unsere Kröten
       wiederkriegen, es geht auch ums Prinzip. Das ist meine Triebfeder!
       
       Und das hat bei mir auch noch einen privaten moralischen Hintergrund. Mein
       Mann war krebskrank, wir haben jeder Chemo hoffnungsvoll, aber vergeblich
       entgegengefiebert. Kurz vorher ist er in die Offensive gegangen und hat
       damit für mich im Nachhinein das Bekenntnis abgegeben: Ich werde nicht mehr
       lange leben! Das hat er immer totgeschwiegen. Mein Mann wollte mich mit
       einer soliden Geldanlage absichern. Und dann das! Zum Glück hat er die
       Lehman-Pleite nicht mehr erlebt. Aber ich will jetzt gar nicht so ins
       Detail gehen, weil ich mitten in einer Klage stecke.
       
       Ich kann nur so viel sagen: Wir sind zur Bank gegangen, wir sind ,beraten'
       worden, aber uns wurden ausschließlich Zertifikate vorgestellt. Wir sind da
       richtiggehend ,reingequatscht' worden. Bei jedem von uns hier liegt der
       Fall etwas anders, aber in der Hauptsache, dem Verkaufsgespräch, der
       sogenannten Beratung, ähneln sie sich alle. Manche Leute denken: selber
       schuld, dass ich so dumm war. Aber grade das war ja ein Baustein der
       Beratung, die Verkäufer haben es ja eingebläut bekommen, wie sie das
       Verkaufsgespräch darauf aufbauen, auf dieser Dummheit. Wie sie es
       interessant gestalten, in die Länge ziehen, viel reden, um dann plötzlich
       zu sagen: ,So, das Geschäftliche haben wir jetzt erledigt, es tut mir ganz
       furchtbar leid, aber ich habe jetzt schon wieder den nächsten Kunden.
       Unterschreiben Sie hier und hier, und wenn sie noch Fragen haben,
       jederzeit. Hier noch der Prospekt. Vielen Dank, auf Wiedersehen.'
       
       Und nach der Katastrophe: NICHTS! Keine Reaktion von den Banken. Sie haben
       alles korrekt abgewickelt, behaupten sie. Irgendwann kam mal ein völlig
       lächerliches Kulanzangebot, das von uns abgelehnt wurde. Die würden uns am
       liebsten zum Schweigen bringen. Das können wir uns nicht gefallen lassen.
       Im Sommer 2010 waren wir sogar in Straßburg und haben vor der
       Europazentrale der Konzernmutter, der Crédit Mutuel, demonstriert. Sie hat
       ja die Citibank gekauft, seitdem heißt die Targobank. Das ist ein riesiges
       Gebäude. Wir haben uns gewundert, warum niemand erscheint von der Presse.
       Dann kam nach langer Zeit ein Arbeitnehmervertreter raus und sagte: "Ja,
       das ist alles ganz toll, was ihr hier macht. Aber die Straßburger Zeitung
       gehört der Bank!" Im Hotel haben wir dann durch Zufall eine Kellnerin
       getroffen, deren Onkel war Chefredakteur der Zeitung in Kehl. Das ist die
       Grenzstadt gleich überm Rhein. Da sind wir am Abend noch hingegangen, haben
       die Fotos abgeliefert, und am Wochenende war ein Bericht drin.
       
       Die Wut und die Emotionen, die wir alle natürlich immer noch haben, die
       nutzen uns nichts. Wir müssen vor Gericht beweisen, dass die Dinge nicht
       rechtens waren. Das ist ein langer Kampf, der über Jahre gehen kann.
       Mancher wird das Ende nicht erleben. Viele wollen oder können das nicht
       mitmachen, schon aus gesundheitlichen Gründen. Ich selbst bleibe davon auch
       nicht verschont. Ich hatte Sehstörungen, habe Magenprobleme,
       Konzentrationsstörungen und insgesamt so ein Gefühl, als würde ich im
       Keller sitzen und nie mehr da rauskommen."
       
       In Deutschland wurde den Bürgern von Politik und Finanzwirtschaft damals
       weisgemacht, die Wirtschaftskrise käme durch die Lehman-Pleite, sie sei
       rein amerikanischen Ursprungs. Vergessen gemacht wurde die Tatsache, dass
       es bereits vor Lehman ein deutsches Bankendesaster gab (HypoVereinsbank,
       die sich nach der Wende mit Ostimmobilien verspekuliert hatte, Hypo Real
       Estate, oder die HSH-Nordbank, die 1 Milliarde in hochspekulativen
       US-Papieren angelegt hatte - auch bei Lehman usw.). Die deutschen Banken
       galten als die risikofreudigsten, allen voran die Landesbanken.
       
       Vergessen gemacht wurde auch und vor allem, dass Politiker, die als
       Steigbügelhalter der apokalyptischen Reiter dienen, für dieses Desaster und
       auch für die Schäden der Lehmann-Pleite in Deutschland verantwortlich sind.
       Geschäfte mit solchen Papieren waren in Deutschland verboten. Erst die
       rot-grüne Regierung hat mit ihren Deregulierungsmaßnahmen den Verkauf
       ermöglicht. Spekulative Geschäfte wurden zugelassen, um den "Finanzplatz
       Deutschland attraktiver zu gestalten". Selbst in den USA und in vielen
       europäischen Ländern ist der Verkauf solcher Zertifikate an Privatkunden
       verboten. Für Banken, die sich verspekuliert haben, werden zwar die
       maßlosesten "Rettungsschirme" aufgespannt, die geprellten Kunden hingegen
       erhalten keinerlei Hilfe. Sie werden auf den Klageweg verwiesen, wohl
       wissend, dass kaum etwas zur Stärkung ihrer Rechte unternommen wurde.
       
       28 Feb 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriele Goettle
       
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