# taz.de -- Reportage aus Ägyptens Arbeiterhochburg: Die Wirren des Übergangs
       
       > Das alte Regime ist gestürzt. Doch Streiks und Demos gegen korrupte
       > Verwaltungen gehen weiter. Auch in Mahalla. Dort entflammten schon 2006
       > Proteste gegen Mubarak.
       
 (IMG) Bild: Szenen von der gewaltsamen Auflösung einer Anti-Mubarak-Demo in Mahalla im April 2008.
       
       MAHALLA taz | Mahalla al-Kubra ist eine verstaubte Stadt im Nildelta ohne
       jede urbane Ästhetik. Es gibt nur wenige Kaffeehäuser, kaum Grünflächen,
       keine Fastfood-Restaurants oder Kebab-Buden wie im benachbarten reichen
       Tanta. Die Leute in Mahalla sind arm, das sieht man an der abgetragenen
       Kleidung der meisten Passanten.
       
       Trotzdem ist die Stadt das Zentrum der ägyptischen Textilindustrie. Hier
       steht die größte Fabrik Ägyptens, die 1927 gegründete staatliche Mahalla
       Weaving and Spinnig Mill - auf arabisch Ghazl al-Mahalla. Die Provinz
       Gharbija war bekannt für ihre langfaserige Baumwolle. Sie galt als die
       beste der Welt, bis das ägyptische Landwirtschaftsministerium die Bauern
       ermunterte, statt Baumwolle Exportfrüchte anzubauen. Heute wird
       minderwertige Baumwolle aus Syrien und Indien importiert.
       
       Mahalla ist auch das Zentrum der ägyptischen Arbeiterbewegung. Hier nahm im
       Dezember 2006 die große Streikwelle ihren Anfang. Heute steht der Verkehr
       rund um den großen Platz Midan al-Shuna, wo sich auch der zentrale
       Omnibusbahnhof befindet, still. An der Schari al-Bahr, der
       Hauptverkehrsachse Mahallas, haben die Busfahrer den Verkehr blockiert. Sie
       demonstrieren für bessere Arbeitsbedingungen und gegen zu hohe Gebühren bei
       der Verlängerung der Fahrlizenzen. Fast jeden Tag streikt jemand:
       städtische Angestellte, die Müllabfuhr, Lokomotivführer. Gerade ist auch
       ein Streik in der Textilfabrik zu Ende gegangen.
       
       Ghazl al-Mahalla ist mehr als eine Fabrik. Sie ist Symbol für den Aufstieg
       und Untergang der unabhängigen nationalen Industrie. In der Fabrik, die mit
       den betriebseigenen Arbeitersiedlungen, Kooperativen, einem Club und dem
       Krankenhaus eine Stadt in der Stadt ist, arbeiteten einst 100.000 Arbeiter.
       Heute sind es noch 27.000.
       
       Die streikenden Arbeiter wollten die Entlassung des Verwaltungsdirektors
       Fuad Abdel Halim Hassan erreichen. Er soll die Fabrik bewusst zugrunde
       gewirtschaftet haben. Erst vor drei Jahren hätte der Staat dem Betrieb die
       gesamten Schulden erlassen und Hassan als neuen Direktor bestellt, erzählt
       Kamal al-Fayumi. Fayumi - ein kleiner zierlicher Mann mit schütterem Bart -
       ist Mitglied im zehnköpfigen Streikkomitee. "Statt den Betrieb zu sanieren,
       hat er ihn erneut in die roten Zahlen geführt. Er hat die hochwertigen
       deutschen Maschinen zu einem Schleuderpreis verkauft, billige chinesische
       Maschinen gekauft und dabei hohe Kommissionen in die eigene Tasche
       gesteckt."
       
       Die Arbeiter von Ghazl al-Mahalla glauben, dass dies die Geschäftspolitik
       der staatlichen Textil-Holding ist, um eine geplante Privatisierung zu
       rechtfertigen. Viele staatliche Betriebe wurden in den letzten Jahren weit
       unter Wert an Privatinvestoren verkauft. Dann wurden sie abgerissen. Auf
       dem Gelände der Fabriken entstanden Wohntürme oder Shopping-Malls.
       
       Inzwischen ist auf Druck des Obersten Militärrates ein neuer
       Verwaltungsdirektor für Ghazl al-Mahalla ernannt worden, ein Ingenieur des
       Werks, zu dem die Arbeiter mehr Vertrauen haben. Die Arbeiter fordern auch
       mehr Lohn. Im letzten Jahr hatte das Oberste Verwaltungsgericht die
       Regierung zur Einführung von Mindestlöhnen von 1.200 Pfund (rund 160 Euro)
       verpflichtet. Umgesetzt wurde das Urteil aber nie. "Wir sind bereit, unsere
       materiellen Forderungen für eine Übergangszeit zurückzustellen, bis die
       Fabrik wieder solide da steht", sagt al-Fayumi.
       
       Die Streiks sind umstritten - auch unter den AktivistInnen der Revolution.
       Hibba ist eine selbstbewusste junge Frau von 25 und hat in Kairo
       Journalistik studiert. Sie trägt Jeans, und unter ihrem schwarzen Kopftuch
       gucken ein paar Haare hervor. "Wir haben die Revolution gemacht, weil wir
       ein besseres Land wollen. Wir wollen nichts kaputt machen, sondern etwas
       aufbauen."
       
       Hibba lebt mir ihrer Mutter und vier Geschwistern in einer winzigen Wohnung
       von nicht mehr als 50 Quadratmetern. Hibba, ihre Mutter und die kleine
       Schwester müssen sich ein winziges Schlafzimmer teilen, in dem anderen
       schlafen die drei Brüder. Im Wohnzimmer ist eine Ecke für eine Nähmaschine
       abgetrennt. Die Familie kann von der kleinen Witwenrente von 300 Pfund (40
       Euro), die sie nach dem Tod des Vaters beziehen, nicht leben. Deswegen näht
       Hibbas Mutter für Privatkunden oder kleine privaten Textilunternehmen, die
       sich um die große Fabrik angesiedelt haben. Aber seit dem 25. Januar gibt
       es kaum noch Aufträge. Jetzt sitzt sie vor dem Fernseher und bestickt die
       Taschen von Jeanshosen mit Pailletten. Für eine Hose bekommen sie ein
       ägyptisches Pfund, so viel wie knapp 15 Cent.
       
       Heute Morgen war Hibba mit ihrer Mutter auf der Bank, um die Rente
       abzuholen. Es war der erste Tag, an dem die Banken nach drei Wochen wieder
       geöffnet hatten. Das Gedränge war so groß, dass die beiden nicht an die
       Reihe gekommen sind. Hibba glaubt, dass die Streiks aufhören müssen, weil
       sich die Leute sonst gegen die Revolution stellen würden: "Die Leute haben
       kein Geld mehr, nichts mehr zu essen, die Handwerker haben keine Aufträge
       mehr, weil niemand sie bezahlen kann, die Läden verkaufen nichts mehr."
       
       Hibba hält zwar die Forderungen der Streikenden für durchaus berechtigt,
       aber will konstruktive Lösungen. Sie hat ein Netzwerk aus jungen Leuten
       gegründet, das sich "Jugend gegen die Korruption" nennt. Es will den
       Arbeitern helfen, ihre Forderungen auf dem Verhandlungsweg durchzusetzen.
       Streiks und Demonstrationen bleiben als letzte Option.
       
       Heute Morgen hat Hibba eine Gruppe von Krankenschwestern der
       Notfallaufnahme des städtischen Krankenhauses davon überzeugt, einen Streik
       zu verschieben. "Wir brauchen Geduld", sagt sie. "Gott hat die Welt auch
       nicht an einem einzigen Tag erschaffen."
       
       Sie allein hat vier Freunde während der Revolution verloren. Denen
       gegenüber fühlt sie sich verpflichtet: "Die Revolution muss weitergehen,
       damit sie nicht umsonst gestorben sind. Vor der Revolution hatten wir das
       Gefühl, keine Heimat zu haben. 99 Prozent der jungen Leute wollten weg. Die
       Revolution hat uns unsere Identität zurückgegeben. Wir haben jetzt ein
       Land, das uns gehört."
       
       Der ehemalige Arbeiterführer Hamdi Hussein ist heute Leiter von Afaq
       Istirakiya (Sozialistische Horizonte). Das Büro liegt im Erdgeschoss eines
       unverputzten Backsteinhauses in einer engen, staubigen Gasse. Hussein ist
       zugleich turnusmäßiger Sprecher des Koordinierungskomitees der politischen
       Parteien in Mahalla, in dem sich 2007 alle Oppositionskräfte von der
       marxistischen Linken bis zu den Muslimbrüdern zusammengeschlossen haben.
       
       Die Koordination über Facebook mag zwar wichtig für die Koordinierung der
       Revolution gewesen sein, sagt er, trotzdem sei das nicht alles gewesen.
       "Wir haben hier um den 25. Januar herum eine Buchmesse mit Veranstaltungen
       organisiert. Es war ein Kommen und Gehen. So fiel es nicht auf, dass sich
       das Koordinierungskomitee bei uns traf. Wir haben einen gemeinsamen Aufruf
       herausgegeben, der zur Demonstration aufrief. Den haben wir überall in der
       Stadt verteilt. Wir in Mahalla waren die ersten in Ägypten, die den Sturz
       des Regimes gefordert haben."
       
       Das Büro von Hamdi Hussein ist Treffpunkt für Aktivisten aller politischer
       Couleur. Hier leitet Ramiz, ein Taubstummer, zusammen mit anderen
       Behinderten den Sender Sautuna (Unsere Stimme). Hier treffen sich auch die
       unabhängigen Arbeiteraktivisten. Einer von ihnen ist Faisal Laghousha. Er
       organisierte die Streiks 2006 und 2008 und wurde dann nach Kairo
       strafversetzt. Laghousha ärgert sich über den Streikausgang. Der alte
       Verwaltungsdirektor sei zwar entlassen, aber statt ihn vor Gericht zu
       stellen, hätte ihn der korrupte Direktor der Holding für die staatlichen
       Textilbetriebe zu seinem Berater ernannt.
       
       ## Das Spiel mit der Scharia
       
       An einer Straße hängen flatternd Flugblätter im Wind, auf denen zu lesen
       ist: "Ein ziviler Staat steht nicht im Widerspruch zur Anwendung der
       Scharia". Die Salafisten in Mahalla rufen zu einer Protestveranstaltung zur
       Verteidigung von Artikel 2 der ägyptischen Verfassung auf, der die Scharia
       zur Hauptquelle der Gesetzgebung erklärt. Vor dem Eingang des
       Jugendzentrums steht eine Gruppe junger Männer, in weißer Galabiya. Alle
       tragen lange Bärte. Hier ist der Männereingang. 50 Meter weiter steigen
       Frauen in langen schwarzen Gewändern aus Tuk-Tuks, nur die Augen sind
       hinter dem Gesichtsschleier zu sehen.
       
       "Die Salafisten spielen ein gefährliches Spiel. Der Artikel 2 der
       Verfassung steht gar nicht zur Diskussion. Ich sehe keinen Sinn in dieser
       Kampagne, es sei denn, man will die Bewegung spalten und von den Zielen der
       Revolution ablenken", meint Mahmud Gohar, Bauunternehmer und Sprecher der
       Muslimbrüder in Mahalla. Hinter seinem Schreibtisch hängen Bauzeichnungen
       von Hochhäusern, unter anderem ein 10-stöckiger Wohnturm am großen
       zentralen Platz Midan al-Shuna, den er gebaut hat. Viele Salafisten hätten
       sich an den Pro-Mubarak-Demonstrationen beteiligt. Ihre Begründung jetzt:
       Es sei "haram", verboten, einem muslimischen Herrscher den Gehorsam
       aufzukündigen. Gohar glaubt, dass die Amn al-Daula, die alte
       Staatssicherheit, ihre Hände mit im Spiel habe.
       
       Überhaupt sieht Gohar beunruhigende Anzeichen dafür, dass sich im Stillen
       die alten Netzwerke wieder reorganisieren. Vor ein paar Tagen hatte die
       Oppositionsallianz eine Gedenkveranstaltung für die Gestorbenen
       organisiert. "Wir haben die Polizei dazu eingeladen. Wir wollten ihr die
       Möglichkeit geben, sich beim Volk zu entschuldigen. Wir brauchen die
       Polizei und wollten einen Neuanfang. Die Veranstaltung fing um 18 Uhr an.
       Um 16 Uhr bekamen wir einen Anruf von der Polizei, dass sie nicht kommen
       könnten. Warum? Sie hätten einen Befehl von der Staatssicherheit bekommen.
       Die Amn al-Daula existiert nach wie vor, sie hat ihre Verbindungen und übt
       Druck auf Behörden aus, die Revolution zu sabotieren."
       
       Auch die Haltung der Stadtverwaltung gegenüber den Revolutionskomitees, die
       die Straßen reinigen und Mauern streichen, würde sich ändern, berichtet
       Gohar. Am Anfang hätte sie die Revolutionskomitees mit Material und
       Fahrzeugen unterstützt. Jetzt hat sie diese Unterstützung wieder
       zurückgezogen. Gründe nenne sie keine.
       
       Die Revolution ist noch längst nicht zu Ende. Mubarak ist noch ein freier
       Mann. Seine Staatspartei NDP existiert weiter. Der Staatssicherheitsdienst
       Amn al-Daula wurde nicht aufgelöst. Und die korrupten Elemente sitzen
       überall in der Verwaltung und im staatlichen Sektor. "Deswegen rufen wir
       jeden Freitag zu einer Demonstration auf", sagt Mahmud Gohar. "Damit wir
       die Forderungen der Revolution nicht aus den Augen verlieren."
       
       4 Mar 2011
       
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