# taz.de -- Debatte Atomlobby: Die langsame Vernunft
       
       > Zwei Katastrophen hat die pathologisch lügnerische Atomlobby ausgesessen.
       > Damit muss jetzt Schluss sein! Widerstand tut weiter not, denn gewonnen
       > ist der Kampf noch nicht.
       
 (IMG) Bild: "Klimaschützer"-Kampagne des Deutschen Atomforums. Verfremdet mit vernünftigen Argumenten.
       
       Knapp drei Wochen, bevor die taz am 17. April 1979, nach zehn sogenannten
       Nullnummern, zum täglichen Erscheinen überging, kam es im Reaktorblock 2
       des Atomkraftwerks Three Miles Island bei Harrisburg im US-Bundesstaat
       Pennsylvania zu einer partiellen Kernschmelze. Für uns in der
       Ökologieredaktion der taz war die Kombination aus technischem und
       menschlichem Versagen in den USA der Beweis, dass Atomreaktoren eine zu
       riskante Technologie sind, um damit Wasser zu erhitzen.
       
       Die FAZ dagegen mokierte sich über die "pauschale und naive Forderung" nach
       Stilllegung der Atomanlagen. Wir verstanden uns als Teil der
       Anti-AKW-Bewegung, die 1974 im badischen Whyl ihren Anfang genommen hatte.
       Es folgten militante Großdemonstrationen in Brokdorf, Grohnde oder Kalkar
       und nachhaltiger gewaltfreier Widerstand in Gorleben. Die radikale Linke
       vereinigte sich mit den Bürgerinitiativen und brach aus ihrem Getto aus.
       Mit mehr als 100.000 Menschen erlebten Hannover und Bonn im Jahr 1979 die
       größten Protestmärsche in der Bundesrepublik seit den Demonstrationen gegen
       die Wiederbewaffnung in den 1950er Jahren.
       
       Zunächst knickte der niedersächsische CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht
       ein und erklärte, die in Gorleben geplante Wiederaufarbeitungsanlage sei
       leider politisch nicht durchsetzbar, dann verhinderte die
       Anti-Atom-Bewegung die Wiederaufarbeitung in Wackersdorf, ebenso die
       Fertigstellung des schnellen Brüters in Kalkar. Der Traum der Atomphysiker
       vom Perpetuum mobile der Plutoniumwirtschaft war ausgeträumt.
       
       ## GAU alle 100.000 Jahre?
       
       Die Protagonisten der Atomlobby, wie wir den politisch-industriellen
       Komplex zur Durchsetzung und zum Ausbau der Kernenergie nannten, warfen uns
       ausdauernd Hysterie und Panikmache vor - und reklamierten die Vernunft für
       sich. Nur alle 100.000 Jahre, so behaupteten sie, könne ein GAU vorkommen,
       wenn überhaupt.
       
       Es dauerte sieben Jahre, bis nach dem Unfall von Three Miles Island dann
       Ende April 1986 Block 4 des Atomreaktors in Tschernobyl explodierte. Die
       Hilflosigkeit der Betreiber, die Verseuchung großer Landstriche, der
       Strahlentod vieler Kontaminierter führten in der Bundesrepublik zu einem
       Stimmungsumschwung gegen die Atomindustrie, den die Freunde der Kernkraft
       nicht mehr ändern konnten. Die Behauptung, die sowjetischen Reaktoren seien
       leider Schrott, aber unsere Reaktoren die sichersten der Welt, verfing nur
       noch bei einer Minderheit.
       
       Das Desaster von Fukushima eröffnet nun die historische Chance, den
       Ausstieg aus der Atomenergie für Deutschland irreversibel zu machen. Es
       spielt dabei eine untergeordnete Rolle, dass Angela Merkel und andere
       Opportunisten mit dem Abschalten der alten Reaktoren aus den falschen
       Motiven heraus das Richtige tun. Es ist egal, sagte der chinesische
       Kommunist Deng Xiaoping gerne, ob die Katze schwarz oder weiß ist,
       Hauptsache, sie fängt die Mäuse.
       
       ## Faulheit der etablierten Politik
       
       Die Atomlobby wird sich nicht kampflos ihre Reaktoren stilllegen lassen. Da
       ihr Lügen pathologisch ist, werden wir in der nächsten Zeit zu hören
       bekommen, dass die deutschen Reaktoren natürlich, im Gegensatz zu den
       japanischen, sicher sind, dass ihr Abschalten immense Kosten nach sich
       ziehen und den Industriestandort Deutschland existenziell bedrohen würde.
       Geschenkt. Die Geschichte ist schon über viele Versuche, eine verlorene
       Sache zu verteidigen, hinweggegangen.
       
       "Noch nie wollte ich so ungern recht behalten wie jetzt", sagte mir
       vergangene Woche Ute Scheub, mit der ich damals in der taz-Ökoredaktion
       arbeitete. Sie war tief erschüttert über die ausweglose Lage der Menschen,
       die in der Nähe der außer Kontrolle geratenen Reaktoren leben, und die
       Inkompetenz der japanischen Krisenmanager. Hin- und hergerissen zwischen
       Wut, Depression und Zynismus erinnerten wir uns, dass wir vor über 30
       Jahren in der taz, die als erste deutsche Zeitung eine tägliche
       Ökologieseite hatte, nicht nur gegen die Atomenergie anschrieben, sondern
       auch alternative Energien propagierten: Wind- und Sonnenenergie, Erdwärme.
       
       Wir gehörten damit zu den Ersten, doch angesichts der Endlichkeit der
       fossilen Energien erschien uns das entschlossene Sparen von Energie und die
       zügige Entwicklung regenerativer Energiequellen als eine banale
       Notwendigkeit für das Überleben jeder Industriegesellschaft. Wir verstanden
       nicht, warum unsere offenkundig vernünftigen Vorschläge zunächst kaum
       Resonanz fanden; wir verfluchten die gedankliche und operative Faulheit der
       etablierten Politiker.
       
       Angesichts des Horrors und Elends in Japan wäre jede Besserwisserei
       herzlos, jeder Triumphalismus abstoßend. Aber wir Anti-Atom-Aktivisten der
       ersten Stunde sollten doch anmerken dürfen, dass wir die künftige
       historische Wahrheit schon vor über 30 Jahren antizipiert hatten; und dass
       die Beschwichtigungen der Atomenergiefreunde sich als das erwiesen haben,
       wofür wir sie immer gegeißelt hatten: haltlose Propaganda,
       verantwortungslose Lügen. Unser tiefes Misstrauen gegen die Atomenergie war
       zu großen Teilen weniger von physikalischer Expertise getragen als von
       unseren Instinkten, gleichzeitig war es vollkommen berechtigt.
       
       ## Wir hatten recht
       
       Zumindest ernüchternd ist es zu sehen, dass es dreier Reaktorkatastrophen
       bedurfte, bis die Vernunft die Chance bekam, sich gegen die von
       militärischen und wirtschaftlichen Interessen manipulierte Politik
       entscheidend durchzusetzen. Quälend lange hat es gedauert, bis die einfache
       Erkenntnis, dass die Atomenergie zu gefährlich und ihr destruktives
       Potenzial zu groß ist, in Deutschland vor dem Sieg steht. Manche der alten
       Anti-Atom-Aktivisten sind zwischenzeitlich angesichts der Verlängerung der
       Laufzeiten in Zynismus und Apathie verfallen, viele gingen wieder
       demonstrieren.
       
       Und zu demonstrieren ist erneut nötig, um den Point of no Return zu
       überschreiten. Das mag lästig sein. Doch beruhigend ist es zu sehen, dass
       sich die langsame Vernunft nach über 30 Jahren Atomdebatte nicht mehr
       unterdrücken lässt.
       
       26 Mar 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Sontheimer
       
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