# taz.de -- Debatte Anti-AKW-Demos: Der Protest wird pathologisiert
       
       > Der Kampf um den Atomausstieg ist noch längt nicht entschieden.
       > Propagandisten der Atomlobby reden die Katastrophe von Fukushima schon
       > wieder klein.
       
 (IMG) Bild: Großdemonstration gegen die Atompolitik der Bundesregierung am 26. März 2011 in Berlin.
       
       In den ersten Tagen nach der Atomkatastrophe von Fukushima konnte man den
       Eindruck haben, als wäre plötzlich ein Vorhang aufgegangen und eine neue
       Welt zum Vorschein gekommen: "Das Restrisiko", erklärte der Umweltminister,
       "ist seit Japan keine statistische Größe, sondern eine reale" - als ob die
       Gefahr zuvor nicht ganz genauso real gewesen wäre.
       
       Was wir gegenwärtig erleben, ist also keine Revolution der Tatsachen,
       sondern eine Revolution der Rezeption dieser Tatsachen. In der Wissenschaft
       würde man von einem Paradigmenwechsel sprechen. Thomas S. Kuhn hat dessen
       Charakteristika bereits vor 50 Jahren in seinem Klassiker "Die Struktur
       wissenschaftlicher Revolutionen" beschrieben. Ein altes Paradigma wird in
       der Wissenschaft demnach nicht progressiv, in vielen kleinen Schritten,
       sondern nur revolutionär abgelöst - und zwar erst dann, wenn die Argumente
       des neuen Paradigmas so übermächtig geworden sind, dass sich das alte nicht
       mehr halten lässt.
       
       In der Politik gilt das umso mehr. Mit der Katastrophe von Fukushima ist
       das Paradigma der sicheren, da angeblich beherrschbaren Atomkraft massiv
       ins Wanken geraten. Hierin besteht der von Mathias Greffrath beschriebene
       Kairos, der günstige Moment, der AKW-Gegner ([1][taz vom 23.3.]). Doch zu
       voreiliger Siegesgewissheit besteht trotz der beeindruckenden
       Demonstrationen vom Wochenende kein Anlass. Denn schon einmal, nach dem GAU
       von Tschernobyl vor 25 Jahren, wurde die Gefahr der Atomkraft von der
       Mehrheitsgesellschaft anschließend radikal verdrängt - auch dank des
       massiven Drucks der Atomlobbys.
       
       ## Romantische Leidenschaften
       
       Auch diesmal sind die alten Atompropagandisten keineswegs geschlagen, im
       Gegenteil. Exemplarisch zeigt sich dies in Springers Welt, seit Jahren
       publizistisches Hauptorgan bei der Bekämpfung der Umweltbewegung. Dort
       versuchten in den letzten Tagen ironischerweise fast ausschließlich
       ehemalige Linke oder Grüne, den aufkeimenden Protest mit allen Mitteln der
       ideologischen Denunziation zu bekämpfen.
       
       Statt Empathie mit den Japanern zu üben, herrsche "sadomasochistisches
       Super-GAU-Gedröhne" (Andrea Seibel) und, so Exchefredakteur Thomas Schmid,
       vor langen Jahren Mitstreiter in Joschka Fischers "Revolutionärer
       Kampf"-Gruppe, eine "trübe Katastrophensehnsucht im Volk", das sich
       "instinktsicher und ohne jedes Zögern in die Ausstiegseuphorie" flüchtet.
       Dass in den vergangenen strahlend-sonnigen Tagen alles andere als
       Untergangsstimmung zu spüren war, kann Schmid nicht irritieren, der zu ganz
       schwerem charakterologischen Geschütz greift: "1945 hatten die Deutschen
       ihr Reservoir an romantisch-politischer Leidenschaft bis zur Neige
       ausgeschöpft, mit entsetzlichen Folgen." Doch dieser "romantische Raum"
       lebt laut Schmid weiter fort: "Es ist, als habe sich die politische
       Erregungsbereitschaft ganz unter das schwere Dach der Anti-Atom-Kathedrale
       geflüchtet, um dort eingehegt und mit den besten menschheitlichen Absichten
       gepflastert zu überleben."
       
       Ist es schon atemberaubend genug, wie hier bei Schmid aus dem rassistischen
       Hass der Deutschen eine "romantische Leidenschaft" wird, erkennt man
       sogleich, wozu diese Verniedlichung taugt: Hatte Götz Aly mit seinen
       Kontinuitätslinien der NS-Zeit noch bei 68 und der RAF Schluss gemacht,
       geht Thomas Schmid weiter und nimmt gleich die ganze Bewegung der 70er und
       80er Jahre in "romantische" Geiselhaft: "Wie zum Ausgleich schufen sich die
       Deutschen, anschwellend seit den 70er Jahren, im Anti-Atom-Diskurs einen
       neuen Raum der Leidenschaft, in dem von Anfang an eine vage, nicht zähmbare
       Angst den Ton angab. […] Da Angst nicht begründungspflichtig ist, konnte
       die Anti-Atom-Bewegung es sich leisten, alle Gegenargumente zu missachten,
       sich wort- und broschürenreich dem Diskurs zu entziehen und sich
       gewissermaßen genetisch im Recht zu fühlen." Hier zeigt sich Schmids
       eigentliches Motiv: die Diskreditierung der rationalen Argumente der
       Atomkraftgegner durch deren Pathologisierung.
       
       ## Rationalität der Kernkraft
       
       Wie rational dagegen der Betrieb von AKWs ist, weiß Schmid-Adlatus Gerd
       Held, der die ganze höhere Rationalität der Kernkraft freilegt: "Wer
       trotzdem an der Kernenergie festhält, tut dies, weil er andere, größere,
       tiefer verwurzelte Gefahren sieht: die Gefahr, dass Wärme und Nahrung,
       Arbeit und Mobilität für viele Nationen unbezahlbar werden. Die Gefahr der
       Erschöpfung der Erde durch Raubbau und CO2-Emissionen. Diese Bedrohungen" -
       so Held weiter, und da wird es vollends abenteuerlich - "verändern den
       Charakter der Kernenergie. Sie ist keine menschliche Willkür-Entscheidung,
       sondern wird aus einer Zwangslage betrieben. Fast" - versteigt sich Held
       endgültig - "könnte man hier [gemeint ist das Hochtechnologieland Japan -
       ein Schelm, wer nicht auch an Deutschland denkt] von einer Pflicht
       sprechen, die Last der Kernenergie auf sich zu nehmen."
       
       Zugespitzter könnte die mythologische Überhöhung der Atomkraft zu einer
       fast schicksalshaften Notwendigkeit nicht erfolgen. Ulrich Beck, der Autor
       der "Risikogesellschaft", erkannte bereits frühzeitig diese
       "Risikodramaturgie" in Form eines "Verdrängungswettbewerbs der
       Großrisiken". Man müsse die atomare Gefahr gar "nicht mehr leugnen - nur
       die anderen Gefahren als noch größer hinstellen". Genau dies ist in den
       letzten Jahren geschehen, mit Erfolg: Die drohende Klimakatastrophe und die
       notwendigen Kohlendioxid-Reduktionen dominierten die globalen Diskurse. Auf
       diese Weise konnte die völlig andere Gefahrendimension von Plutonium
       minimiert und die Atomkraft als "grüne Brückentechnologie" verkauft werden.
       
       Wenn die Ideologen der Welt nun Fukushima gar zur "Semikatastrophe"
       (Matthias Horx) kleinreden, knüpfen sie direkt an diesen Strang an. Hier
       zeigt sich: Der Kampf um den endgültigen Ausstieg aus der Atomkraft ist
       noch lange nicht gewonnen. Aus den letzten 25 Jahre seit Tschernobyl zu
       lernen bedeutet daher vor allem eins: die existenzielle Erfahrung der
       völligen Unbeherrschbarkeit der Kernenergie nicht ein zweites Mal zu
       verdrängen. Mit Atomkraft, so die Lehre von Hiroshima bis Fukushima, gibt
       es keine Sicherheit !
       
       27 Mar 2011
       
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