# taz.de -- Debatte Japan: Zurück in die Wirklichkeit
       
       > Die Atomkatastrophe in Japan zeigt, dass unsere Gesellschaft den Bezug zu
       > den Realitäten verloren hat. Eine digitale Traumwelt schirmt uns ab.
       
       Die AKW-Katastrophe von Fukushima hat nicht nur die extremen Risiken der
       Atomenergie aufgezeigt, die skrupellose Profitgier der Stromkonzerne und
       die Verantwortungslosigkeit der atomkraftfreundlichen Regierungen. Sie hat
       auch ein Schlaglicht auf die Irrealität unserer alltäglichen Lebensführung
       in den westlichen Industrienationen geworfen.
       
       Nehmen wir Japan: Ein Land, das seit Jahrzehnten die Mikroelektronik
       beherrscht, das Millionen von Menschen damit beschäftigt, die Menschheit
       mit digitalen Spielen, mobilem Internet, elektronischen Zahlungssystemen
       und anderem Schnickschnack zu beglücken, schafft es nicht, ein sicheres
       System der Energieversorgung zu errichten. Und offenbar gab es dort bis vor
       Kurzem kaum jemanden, der sich für diese Fragen interessierte.
       
       Doch Japan ist überall! Denn auch in Deutschland interessierten sich bis
       vor Kurzem nur wenige ernsthaft für die Risiken der Atomenergie. Nach dem
       Tschernobyl-GAU ebbte die Protestbewegung rapide ab. Die Blockade der
       Castortransporte geriet zum alljährlichen Event einer gebildeten Subkultur.
       Die breite Mehrheit unserer Gesellschaft plagt sich dagegen mit ganz
       anderen Problemen: mit dem Chatten im Internet, dem persönlichen Auftritt
       bei Facebook, den Leistungsvergleichen vor dem Kauf eines Navis und den
       günstigsten Flatrates fürs Handy.
       
       ## Entfremdung im Büroturm
       
       Die Katastrophe in Fukushima ist nur die Spitze des Eisbergs. Sie ist das
       Symptom einer gesellschaftlichen Entwicklung in den führenden
       Wirtschaftsnationen der Welt. Die großen, überlebensnotwendigen Fragen
       treten zunehmend in den Hintergrund menschlichen Denkens und Handelns.
       
       Das hat seine Gründe: In der modernen "Dienstleistungsgesellschaft" lebt
       der Mensch, von Naturgewalten abgeschirmt, in klimatisierten Bürotürmen und
       verbringt auch seine Freizeit vor dem Monitor. Der Kontakt zu den
       natürlichen Bedingungen des Lebens verflüchtigt sich. Sie erscheinen als
       äußere Selbstverständlichkeiten, die sich der aktiven Beeinflussung
       entziehen.
       
       Der aufgeblasene postindustrielle Sektor produziert derweil Pseudogüter und
       Fantasiedienstleistungen: das Design, um die Marke A von der Marke B zu
       unterscheiden, sogenannte Finanzdienstleistungen, die virtuelles Geld aus
       einer Datei in die andere verschieben. Kommunikationsberater beraten die
       Unternehmensberater und lassen ihre Beratungsqualität anschließend
       evaluieren, um bei einer Zertifizierungsagentur ein Zertifikat zu erwerben.
       Bestimmt die Hälfte der städtischen Büroflächen könnte man mühelos
       planieren - und die Menschheit wäre um nichts ärmer.
       
       ## Kein First Life im Second Life?
       
       Zwischen First und Second Life verschwinden die Grenzen. Was ist virtuell,
       was materiell? Kommt einem Short-Zertifikat auf den DAX gegenständliche
       Realität zu, oder ist es reine Fantasie? Bedeutet das Getippe im Chatroom
       Freundschaftspflege oder nur deren Simulation? Es gibt Leute, die studieren
       das TV-Programm eifriger als ihren Hartz-IV-Bescheid, weil das Leben vor
       dem Fernseher mit oder ohne Kürzungen irgendwie weitergeht.
       
       In manchen Fußgängerzonen finden sich kaum noch andere Geschäfte als
       Handyläden. Der Mensch als Insasse einer entfremdeten Welt begibt sich auf
       Traumreise. Sein Leben wird zu einem verlängerten Kindergartenaufenthalt,
       in dem es nie genug Tastaturen gibt, auf denen man spielen kann. Wenn etwas
       piept oder quietscht, kommt Freude auf.
       
       Je unwichtiger ein Gegenstand für das reale Leben objektiv ist, desto mehr
       Zeit, Material und Geld verschwendet unsere Gesellschaft für seine
       Herstellung und Nutzung: Während nur noch 292.500 Menschen damit
       beschäftigt sind, unser tägliches Brot zu backen, arbeiten in der
       Werbeindustrie mehr als 550.000 Beschäftigte. Wir können Aktien vom Display
       unseres Handys aus ordern, aber den künstlich geschaffenen Stress der
       Arbeit immer weniger bewältigen.
       
       Nach Feierabend Freunde zu treffen, dazu fehlt uns die Muße, weil die
       Arbeit derart verdichtet ist, dass am Abend das Gehirn seine Schotten dicht
       macht. Bei der France Télécom sprangen vor zwei Jahren die Mitarbeiter aus
       Verzweiflung gleich reihenweise aus dem Fenster. Wer acht Stunden am Tag
       mit kryptischen E-Mails und zermürbenden Meetings traktiert wird, hat
       danach für Beziehungsdiskussionen keinen Nerv mehr. Die unverbindliche SMS
       ist das Einzige, was noch geht.
       
       ## Atomgefahr in weiter Ferne
       
       Das Atomkraftwerk vor der Tür verliert im Spiegel des kolonialisierten
       Bewusstseins seine Realität - ebenso wie das seit zwei Jahren stattfindende
       Fallen der Reallöhne und das Steigen der Mieten. Was an sich nah ist, wird
       fern - was tatsächlich fern oder irreal ist, rückt in betäubende Nähe. Ein
       "universeller Verblendungszusammenhang" (Adorno) schirmt die Menschen vor
       dem Realitätsbezug ab.
       
       Die alte Anti-AKW-Bewegung in den 1970er-Jahren hatte diesen Zusammenhang
       einmal erkannt. Dass der "Konsumterror" verblödet, galt als Binsenweisheit
       und wurde bald belächelt. Zu Unrecht. Denn damals wusste man, dass es nicht
       genügt, auf die Straße zu gehen und Bauzäune zu stürmen. Das Leben musste
       befreit werden von all den nutzlosen Dingen, die die Wahrnehmung trübten.
       
       Bananenkisten genügten völlig, um die Wäsche zu lagern. Die Möbel vom
       Sperrmüll taten ihren Dienst. Der selbst gestrickte Pullover wie das eigene
       Kartoffelbeet ermöglichten die Erfahrung, dass der Mensch Produzent seiner
       eigenen materiellen Lebensbedingungen ist und ansatzweise über sie verfügen
       kann. Das minimalistische Leben wie einst in den besetzten Häusern gewährte
       jenen Menschen den heute verlorenen Reichtum, sich um ihre eigenen wie
       kollektiven Belange tatsächlich kümmern zu können.
       
       Klar, ein Zurück in die "Müsli-Zeit" kann es nicht geben. Doch die
       Konsequenz aus der Fukushima-Katastrophe sollte ein neuer Realismus sein:
       Boykottiert die Unterhaltungsindustrie, führt handyfreie Tage ein und
       entsorgt endlich die Glotze! Nehmt wieder realen Kontakt zu den Menschen
       und zur Natur auf und gestaltet euer Leben selber - überall da, wo es geht!
       
       1 Apr 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rainer Kreuzer
       
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