# taz.de -- Demokratie und Energiewende: "Wir haben nicht mehr beliebig Zeit"
       
       > Kulturwissenschaftler Claus Leggewie plädiert für mehr Partizipation der
       > Bürger, aber auch für deren Selbstbeschränkung, damit die Energiewende
       > gelingen kann.
       
 (IMG) Bild: "Freiheit ist nicht nur die Freiheit zu 'mehr'", sagt Claus Leggewie.
       
       taz: Herr Leggewie, als Berater der Regierung plädieren Sie für die "große
       Transformation". Deutschland solle seine Energieversorgung komplett auf
       umweltfreundliche Quellen ohne Öl, Kohle und Atom umstellen. Ist ein solch
       grundsätzlicher Wechsel in unserer Demokratie überhaupt möglich? 
       
       Claus Leggewie: Jedenfalls ist es eine sehr große Herausforderung.
       Autoritäre Regime können Entscheidungen vielleicht schneller durchsetzen,
       aber Demokratien sind besser darin, für notwendige, unbequeme Lösungen
       Rückhalt zu organisieren. Dass das Entscheidungen verzögert, ist allerdings
       gerade beim Klimawandel ein Problem: Um mögliche katastrophale Folgen zu
       vermeiden, haben wir nicht mehr beliebig Zeit.
       
       Muss der Staat auch gegenüber seinen Bürgern durchsetzungsfähiger werden,
       um einen raschen Wandel herbeizuführen? 
       
       Unser Plädoyer für die große Transformation fußt auf der Einsicht, dass die
       Bürger heute am absoluten Dominanzanspruch der verselbständigten Wirtschaft
       leiden, die ihre Rationalitätsmaßstäbe und ihr Realitätsprinzip allen
       anderen Teilsystemen aufzwingt. Um diese Übermacht einzudämmen, muss das
       wirtschaftliche Handeln wieder gesamtgesellschaftlich eingebettet werden.
       Das bewirkt eine Stärkung des Politischen - aber nicht notwendigerweise des
       Staats, dessen Steuerungsvermögen in den letzten Jahrzehnten dramatisch
       abgenommen hat. Die Bürger, die Zivilgesellschaft müssen nolens volens eine
       stärkere Rolle spielen. Das heißt: mehr Rechte, aber auch neue Pflichten.
       
       Sie empfehlen einen "neuen demokratischen Tausch". Die Bürger müssten
       einerseits mehr Mitsprache bei Großvorhaben und grundsätzlichen
       Entscheidungen erhalten, sollten sich andererseits aber auch selbst
       beschränken, damit die Transformation nicht stecken bleibt. Wie muss man
       sich diesen Tausch vorstellen? 
       
       Der neue Gesellschaftsvertrag ist eine Metapher, kein Vertragswerk auf
       Papier. Er beinhaltet einerseits mehr Partizipation. Wenn etwa die
       grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg Windparks im Schwarzwald für
       notwendig hält, sollte sie nicht erst post festum einen längeren
       Diskussionsprozess einleiten: Wie soll die Energieversorgung aussehen,
       welche Kraftwerke brauchen wir, wie viele zusätzliche Stromleitungen,
       welche Bauplätze sind geeignet? Bürger, Interessengruppen, Kommunen und
       Landkreise nehmen an diesem Ratschlag teil, und die Entscheidungen, die
       daraus erwachsen, sind dann andererseits auch umzusetzen. Demonstrationen
       kann man nicht verbieten, aber die protestierenden Bürger müssten sich
       fragen, wo sie ihre privaten Interessen dann auch zurückstellen müssen.
       Freiheit ist nicht nur die Freiheit zu "mehr", auch die freiwillige, aus
       Einsicht in die Notwendigkeit gebotene Selbstbeschränkung des "Weniger ist
       mehr" kann befreiende Wirkung haben.
       
       Wenn lange gut debattiert worden ist, darf die Polizei auch den Schlagstock
       benutzen? 
       
       Was für eine erpresserische Frage! Aber sicher: In letzter Konsequenz kann
       der Staat sein Gewaltmonopol durchsetzen, zumal wenn die Bürger stärker in
       die Entscheidungen einbezogen worden sind.
       
       War das Schlichtungsverfahren zum Bau des Bahnhofs Stuttgart 21 ein
       gelungenes Beispiel der neuen Partizipation der Bürger? 
       
       Grundsätzlich war es richtig, einen öffentlichen Diskurs über scheinbar
       unausweichliche technokratische Entscheidungen nachzuliefern. Aber das
       Verfahren hatte deutliche Schwächen. Wenn solche Debatten vom Fernsehen
       übertragen werden, halten Politiker bei dieser medialen Inszenierung gerne
       Fensterreden und spielen auch andere Teilnehmer Theater. Kritischer war
       noch, dass die Schlichtung erst stattfand, als das Kind längst in den
       Brunnen gefallen war. Debatten über intelligente Energieversorgung und
       Massenmobilität führt man besser, bevor solche Sachzwänge aufgetürmt und
       Milliarden Euro verplant und verbaut worden sind.
       
       Der Schlichter Heiner Geißler hat deshalb empfohlen, den Bahnhof trotz
       starker Bedenken weiterzubauen. Sollten die Gegner nun die von Ihnen
       empfohlene Selbstbeschränkung üben und ihren Protest aus Fairness gegenüber
       der Allgemeinheit einstellen? 
       
       Weil die Beteiligung der Bürger in diesem Fall der grundsätzlichen
       Bauentscheidung nicht vorausging, wie es richtig gewesen wäre, sondern ihr
       folgte und deshalb entwertet war, fällt es mir schwer, jetzt diesen Rat zu
       geben. Wenn allerdings die im Ländle anberaumte Volksabstimmung eine
       Mehrheit für den Bahnhof ergibt, würde ich sagen: Hört auf mit dem Protest,
       so schwer es fällt. Denn die Welt kennt größere Fragen als Stuttgart 21.
       Dieser Bahnhof ist - Pardon - eine Fußnote. Es gibt wichtigere Probleme -
       beispielsweise den Klimaschutz. Die neue Landesregierung muss mit Daimler
       über die Mobilitätswende reden und mit den Energiekonzernen über den
       Atomausstieg und das atomare Endlager, das ist ökologisch verantwortliche
       Politik.
       
       Für die Zukunft entwerfen Sie ein Bild der "deliberativen Demokratie". Soll
       das eine Ergänzung der heutigen Verfahren sein oder schwebt Ihnen ein Umbau
       unseres politischen Systems vor? 
       
       Wir stellen uns neue Partizipationsmöglichkeiten nicht als marginale,
       sondern wesentliche Ergänzungen der heutigen Verfahren vor. "Deliberative
       Demokratie" meint "fundierte Erörterung der öffentlichen Angelegenheiten"
       und ist das Gegenteil von Demoskopie und Stimmungsdemokratie. Man fragt die
       Bürger nämlich nicht nur einmal nach ihrer Meinung, sondern häufiger.
       Experten und Entscheider müssen immer wieder auf die Argumente der Bürger
       eingehen, und diese durchlaufen ihrerseits einen Lernprozess .
       
       Dauert das nicht furchtbar lange? 
       
       Es gibt politikwissenschaftliche Erkenntnisse, dass derart gründliche
       Erörterungen oftmals schnellere Entscheidungen, mehr Konsens und höhere
       Nachhaltigkeit bewirken.
       
       Es wird nicht reichen, nur neue Diskussionsforen anzubieten. Die Leute
       wollen auch wissen, dass sie die politischen Entscheidungen tatsächlich
       beeinflussen können. 
       
       Ja, herkömmliche Mediationsverfahren sind oft nicht entscheidungsnah genug.
       Ein neues Verfahren wäre beispielsweise die Einrichtung von
       Zukunftskammern.
       
       Wie soll das funktionieren?
       
       Eine Zukunftskammer stellen wir uns als als dritte Säule der
       parlamentarischen Demokratie im Gesetzgebungsverfahren vor. Die Mitglieder
       dieses Gremiums würden nicht nach parteipolitischen Kriterien oder durch
       Lobbys benannt, sondern unter engagierten Bürgern und Bürgerinnen
       ausgelost.
       
       Sollen diese Zukunftskammern dieselbe Macht haben wie die Parlamente? 
       
       Nein, wir wollen ja keinen Regimewechsel der repräsentativen Demokratie.
       Sie haben kein absolutes Vetorecht, sondern führen eine Art
       Nachhaltigkeitsverträglichkeitsprüfung durch, deren Ergebnis die Parlamente
       abwarten und in ihrer Entscheidung berücksichtigen müssten. Das hat nicht
       das Geringste mit Ökodiktatur zu tun, sondern ist Ausdruck großen
       Vertrauens in die Leistungs- und Erweiterungsfähigkeit der Demokratie.
       
       Wenn das politische System an die Grenzen der Unzufriedenheit seiner Bürger
       stößt, deutet das ebenfalls auf Veränderungen in der Ökonomie hin. Gibt es
       auch neue wirtschaftliche Akteure, die das gegenwärtige System infrage
       stellen? 
       
       Die Aufgeschlossenheit in den Unternehmen für Fragen der Energiewende,
       neuer Mobilitätsmuster und veränderter Lebensstile war für uns die
       interessanteste Erfahrung der letzten Zeit. Man findet sie im mittleren
       Management vieler Firmen, aber auch unter jüngeren Vorständen, die ohnehin
       an einer weniger starren Unternehmenskultur Interesse haben. Die wollen
       etwas Neues machen, etwas Aufregendes und Sinnvolles produzieren und
       vermarkten, jenseits der bloßen Gewinnerwartung. Das Gehabe eines Jürgen
       Großmann von RWE, der auf Biegen und Brechen an seinen Atomkraftwerken
       festhalten will, stößt bei ihnen auf große Skepsis, um nicht zu sagen: Es
       ist ihnen peinlich. Diese neue Generation wird kaum noch durch die
       Wirtschaftslobby vertreten, die dem Umweltminister am Montag die Leviten
       lesen wollte. Auch in der Wirtschaft ist ein Kulturwandel im Gange, und
       Autokraten sind nicht nur bei den arabischen Nachbarn Auslaufmodelle.
       
       3 May 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hannes Koch
       
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