# taz.de -- Eine Gemeinschaftsschule für Ravensburg: Ohne Noten. Ohne Sitzenbleiben.
       
       > Ravensburg will als erste Stadt in Baden-Württemberg die
       > Gemeinschaftsschule einführen. Sogar die CDU wird im Stadtrat dafür
       > stimmen. Wie war das möglich?
       
 (IMG) Bild: Hier feiern sie schon gemeinsam: Ravensburger Schüler beim Rutenfest.
       
       RAVENSBURG taz | Neulich, da traf Rudolf Bosch einen Bekannten, der ihn mit
       den Worten begrüßte: "Ah, einer von den Rebellen." Das musste Bosch erst
       einmal richtig stellen. "Rebell a. D." sei er nunmehr, entgegnete Bosch.
       Der Rektor der Ravensburger Hauptschule Kuppelnau erzählt die Anekdote mit
       Genugtuung. "Ich bin jetzt ganz auf Regierungslinie", sagt Bosch, die
       Betonung auf "Regierung".
       
       Vor vier Jahren wollte ihn die CDU-FDP-Landesregierung in Stuttgart aus dem
       Amt jagen, weil er mit anderen Rektoren das baden-württembergische
       Schulsystem infrage stellte. In Stuttgart kündigten sie ein weiteres
       "Fitnessprogramm" für Hauptschulen, da verfassten Bosch und drei weitere
       altgediente Hauptschulrektoren einen Brief an ihren obersten Dienstherren,
       den damaligen CDU-Kultusminister Helmut Rau.
       
       Sie plädierten dafür, auf die Schulart "Hauptschule" gänzlich zu verzichten
       und stattdessen alle Kinder länger gemeinsam zur Schule zu schicken. Der
       Brief war ein Akt offener Rebellion.
       
       Am 30. Mai wird Bosch als grüner Gemeinderat im Ravensburger Rathaus die
       Hand heben für das Konzept einer "Inklusiven Modellschule" von Klasse eins
       bis zehn. Ravensburg will die erste Gemeinde sein, die einen Antrag für
       diese Modellschule einreicht. Vor Freiburg, Karlsruhe, Tübingen und
       Stuttgart. Diese Entscheidung wird wohl einstimmig fallen, mit den Stimmen
       der stärksten Stadtratsfraktion, der CDU.
       
       Die neue grün-rote Landesregierung hat angekündigt, die Kommunen beim
       Aufbau solcher Gemeinschaftsschulen zu unterstützen. Denn diese sind
       grün-rote Bildungspolitik: Kinder werden nicht mehr nach Noten auf
       Schulformen aufgeteilt, sondern lernen bis Klasse zehn gemeinsam.
       
       ## Alles anders nach 58 Jahren
       
       Es ist ein Bruch mit 58 Jahren Schulpolitik im Südwesten. 58 Jahre lang
       regierte die CDU in Baden-Württemberg. 58 Jahre lang war das dreigliedrige
       Schulsystem Gesetz. Kommunen, die Ausnahmegenehmigungen für
       Gemeinschaftsschulen beantragten, erhielten aus Stuttgart routiniert
       Absagen: Ihr Begehr sei illegal.
       
       Bereits 2009 hatte der Ravensburger Gemeinderat einstimmig beschlossen,
       eine Arbeitsgruppe einzusetzen, die ein Konzept für eine Modellschule
       erarbeitet. In der ersten Sitzung nach der Landtagswahl, Mitte Mai, kamen
       die Schulreformer und der Gemeinderat im Ravensburger Rathaus erneut
       zusammen.
       
       In dem roten Steinbau mit Staffelgiebeln trug Bosch vor, wie sich Lehrer
       von Ravensburger Schulen und der Pädagogischen Hochschule eine
       ortsansässige Modellschule ausmalen: eine Schule ohne Noten, ohne
       Sitzenbleiben, ohne Brüche und ohne Aufteilung. Also das genaue Gegenteil
       von Schule, wie sie in Baden-Württemberg seit Jahrzehnten funktioniert.
       
       "Wir werden beäugt, das ist klar. Aber man darf nicht verhockt sein und
       muss auch mal was Neues probieren", sagt Ulrich Höflacher, der
       schulpolitische Sprecher der CDU. Er ist Studiendirektor am katholischen
       Privatgymnasium St. Konrad in Ravensburg. Ein Konservativer sei er. "Was
       taugt, das müssen wir bewahren, was wert ist, dafür müssen wir die Fahne
       hochhalten."
       
       ## Die CDU wird mit den Grünen stimmen
       
       Mit den Grünen in Stuttgart sieht er keine Probleme. "Die Grünen waren uns
       sowieso immer näher als die Roten", und der Kretschmann, der würde doch in
       der CDU gar nicht auffallen. Wären alle so konservativ wie Höflacher, dann
       wäre die Landesregierung vermutlich eine Schwarz-Grüne. Vorbei. "Der Mappus
       war zu vernagelt", sagt Höflacher.
       
       In Ravensburg wird die CDU mit den Grünen dafür stimmen, dass die
       Modellschule beantragt wird. "Wenn es den Kindern nützt, stellen wir uns
       nicht dagegen." Freilich, meint Höflacher, der Handlungsdruck sei gering.
       
       Druck machen aber die Ravensburger Grünen, die zweitstärkste Fraktion im
       Gemeinderat. Für sie sind Höflacher und seine Kollegen Teil eines Problems:
       Am katholischen Bildungszentrum St. Konrad und den fünf kleineren privaten
       Schulen werden fast 40 Prozent der Ravensburger Schüler unterrichtet.
       Manfred Lucha, grüner Landtagsabgeordneter aus dem Kreis Ravensburg, stellt
       trocken fest: "Der imperiale katholische Schulträger saugt die Rosinen ab,
       der Stadt bleibt die Pflichtversorgung."
       
       Im Ravensburger Bildungsbericht ist die Rede von doppelter Segregation:
       "Ausländische Schülerinnen und Schüler besuchen nur sehr selten eine
       Privatschule und sind deutlich häufiger an Haupt- und Förderschulen
       anzutreffen." Bereits 1994 stellten die Grünen daher den Antrag, ein
       staatliches Schulzentrum zu errichten – eine Vorform der
       Gemeinschaftsschule also. Der Antrag scheiterte.
       
       Im Jahr 2007 kamen dann Rudolf Bosch und seine Kollegen. "Die
       oberschwäbischen Rebellen" hießen sie in den Medien nach ihrem Brief ans
       Kultusministerium. Die Kuppelnauschule leitet Bosch seit 14 Jahren. Sie
       liegt im gleichen Schulbezirk wie das renommierte Bildungszentrum St.
       Konrad. "Künstlerpech", sagt Bosch.
       
       ## "Die Ausländerschule"
       
       Das heißt, zu ihm kommen die, die keine andere Wahl haben. "Wir kriegen
       Kinder, die komplett beschämt und frustriert sind. Wir nehmen sie an, wie
       sie sind, basteln sie zusammen. Bei einigen gelingt es, sie bekommen
       bessere Leistungen, und die geben wir dann nach dem Ende der 6. Klasse an
       die Realschule ab. Das ist nicht witzig."
       
       "Die Ausländerschule" nennen sie die Kuppelnauschule auch. Gizem Akyol
       besucht sie seit der ersten Klasse. Bis zur vierten Klasse hatte sie nur
       deutsche Freundinnen. Die gingen dann alle auf die Realschule oder das
       Gymnasium. Sie wechselte auf den Hauptschulzweig.
       
       Ihre Eltern, die Mutter hat einen Lebensmittelladen, der Vater ist
       Lieferwagenfahrer, hätten sich gewünscht, dass sie eine höhere Schulform
       besucht, erzählt Akyol, die Schulsprecherin ist. "Man kann aber von einem
       zehnjährigen Kind nicht erwarten, dass es in diesem Alter Verantwortung für
       seine schulische oder berufliche Zukunft trifft", sagt Gizem. Gerade hat
       sie die Empfehlung für die Werkrealschule bekommen. Ihr Ziel: das Abitur.
       Gizem, sagt ihre Lehrerin, sei eine begnadete Rednerin, wenn sie
       Versammlungen einberuft, dann hören alle Schüler zu. Nur im Schriftlichen
       hapere es eben noch.
       
       Die Sprachförderung haben sie vernachlässigt, und die Hauptschulen haben
       sie hängen lassen, räumt sogar CDU-Gemeinderat Höflacher ein. Das sei ein
       Fehler gewesen. In diesem Sinne begrüße die CDU die geplante Modellschule
       als Angebotsschule. Eine unter vielen. Nicht mehr. "Wir sind uns einig,
       dass keine bestehende Schule gefährdet wird." Sagt Höflacher. "Eine starke
       Konkurrenz soll sie werden." Hofft dagegen Bosch.
       
       ## Eltern wollen mitentscheiden
       
       "Wie gut die neue Schule läuft, entscheiden die Eltern", sagt Johannes
       Volz, Vorsitzender des Ravensburger Gesamtelternbeirats. In seinen
       Ansichten stehe er eher links von der grün-roten Landesregierung, sagt er.
       Schulpolitisch bezeichnet er sich dagegen als "Traditionsvater".
       
       Er hat das altsprachliche Spohn-Gymnasium besucht, wo seit dem 13.
       Jahrhundert Latein gelehrt wird. Nun gehen seine Kinder auf das
       Spohn-Gymnasium. Ob er seine Kinder auch auf eine Gemeinschaftschule des
       21. Jahrhunderts schicken würde? "Sicher", sagt er. "Aber ich weiß nicht,
       ob ich sie auch dort lassen würde." Erfolgreich werde die Modellschule nur
       sein, wenn sie die Kinder dort hinbringt, wo alle Eltern sie haben wollen:
       zum Abitur.
       
       Bislang steht der Gesamtelternbeirat der Modellschule wohlwollend
       gegenüber. Auch deshalb, sagt Volz, weil man sich stets darüber ärgerte,
       dass Schulpolitik immer von oben verordnet wurde. Bei der Modellschule
       dürfen die Eltern mitreden.
       
       Etwa, wenn entschieden wird, wer Schulleiterin oder Schulleiter wird. Das
       ist einer der Knackpunkte, den die Ravensburger lösen müssen, falls ihr
       Antrag durchkommt. Oder welche Schule zur Gemeinschaftsschule mutiert, denn
       eine neue wird nicht gebaut. Und welche Lehrer man gewinnt. "Und ob die
       neue Wunderregierung das am Ende auch finanziert", wie die CDU im
       Schulausschuss bemerkt.
       
       "Wenns nix wird, dann lasse mir es", sagt Höflacher. "Gar nix lasse mir.
       Die Modellschule muss ein Erfolg werden", sagt Bosch mit fester Stimme.
       
       Das traditionelle Schülerfest in Ravensburg, das "Rutenfest", findet in
       diesem Jahr aber so wie in allen Jahren zuvor statt. Eine Woche vor den
       Sommerferien werden um die Kuppelnau-Schule Buden aufgebaut, auf dem
       Sportplatz wetteifern die Schüler um den Titel des Schützenkönigs – jede
       und jeder in seiner Liga.
       
       Die Gymnasiasten schießen mit hölzernen Armbrüsten auf Adler, die
       Realschüler mit einem brusthohen Bogen auf die Türme der Stadt.
       Hauptschüler dürfen erst seit 2001 aufs Stadtwappen zielen. "Wenn sich das
       Schulsystem ändert, wird das eine Katastrophe fürs Rutenfest", sagt Bosch.
       Er grinst beinah. Auf die Katastrophe freut er sich.
       
       30 May 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anna Lehmann
 (DIR) Anna Lehmann
       
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 (DIR) Schwerpunkt Landtagswahl in Baden-Württemberg
       
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