# taz.de -- Politische Spiritualität in der Kirche: "Nichts gegen Toastbrot"
       
       > Petra Bahr, Kulturbeauftragte der Protestanten, spricht über Feminismus,
       > das deutsche Verhältnis zu Israel und neue Bündnisse gegen die
       > Milieuverengung der Kirche.
       
 (IMG) Bild: "Meine religiösen Vorbilder sind alle weiblich" - Petra Bahr.
       
       Petra Bahr lebt in Berlins Mitte. Die Wohnung der Kulturbeauftragten der
       Evangelischen Kirche in Deutschland ist picobello aufgeräumt. Auf dem
       Filztischläufer allerdings liegt ein schwarzer "Mensch ärgere Dich
       nicht"-Stein, ein unordentliches Moment. Unsere Gesprächspartnerin klärt
       auf. Der gehöre zum Sand des Baggers ihres adoptierten Sohnes, der auf den
       Namen Matthäus getauft ist. 
       
       Petra Bahr erzählt, dass sie und ihr Mann von einer Minute auf die andere
       gefragt wurden, ob sie ein eben geborenes Kind adoptieren wollten, dessen
       Mutter gleich nach der Geburt untergetaucht war. Ja, sie wollten, und wie!
       Als sie von ihrem Kind berichtet, von ihrer Elternschaft, wirkt sie
       plötzlich wie aufgetaut, weich und zugewandt. Momentan liebt ihr Junge das
       Spiel in der Küche, gern wäscht er ab - typisch Jungs in diesem Alter.
       "Ja?", fragt sie. Ja, Jungs spülen fast meditativ ab. Das theologische
       Gespräch kann beginnen. 
       
       taz: Frau Bahr, Sie wollen Bischöfin von Hamburg werden. Kleiner Test: Wie
       viele Dialekte gibt es in Hamburg? 
       
       Petra Bahr: Ich vermute, es gibt so einige Mundarten.
       
       Es gibt etwa 120 Dialekte allein in Hamburg. 
       
       Oje! Und dann noch all die Zugereisten, die so tun, als seien sie immer
       schon Hamburger gewesen.
       
       Aber die hört man sofort raus. 
       
       Ein hanseatischer Freund gab mir den Rat: immer Dunkelblau mit Weiß tragen.
       Nur nicht auffallen. Aber der Sprengel ist weltläufig genug, um im Zweifel
       eine Westfälin aus Berlin zu verkraften.
       
       Was ist schicker, Hamburger zu sein oder Berliner? 
       
       Hamburg ist in Wahrheit die härtere Stadt: Da gibt es ganze Straßenzüge in
       Weiß, in denen Dreck und Elend unvorstellbar sind. Das Elend hinter dem
       Reichtum sieht man ja nicht so leicht. In Berlin ist Armut auch in
       bürgerlichen Vierteln präsent. Man sieht auf dem Alex die Kids, die sich
       die neuesten Turnschuhe im Adidas Flagstore kaufen - und auf demselben
       Platz Kinder, die überhaupt keine Schuhe anhaben.
       
       Beim Thema Gerechtigkeit denken wir an Theologinnen wie Dorothee Sölle.
       Sind Sie durch sie geprägt worden? 
       
       Dorothee Sölle habe ich eher aus der Ferne gelesen und bewundert, auf
       Kirchentagen zum Beispiel. Es gab auch Widerspruch, und ich hätte gern
       einmal im Leben mit ihr persönlich geredet. Vielleicht ist das mein
       unausgetragener theologischer Generationenkonflikt. Stattdessen habe ich
       mich an Männern abgearbeitet. Von meinem Großvater über Eberhard Jüngel bis
       zu den Philosophen, bei denen ich in Jerusalem studiert habe. Meine
       religiösen Vorbilder sind aber alle weiblich.
       
       Nun, welche Tochterkonflikte haben Sie denn mit Frau Sölle ausgetragen? 
       
       Der Konflikt wurde eher mit ihren Bewunderinnen ausgetragen. Sölle selbst
       hat es verstanden, Fragen der Theologie und Spiritualität mit Fragen des
       politischen Engagements der Kirche zu verbinden. Das hat mich angezogen.
       Bei den politischen Konsequenzen fehlte mir manchmal ein Zögern, die
       Antworten kamen so schnell und zu sicher. Fragen war auch in feministischen
       Kreisen nicht immer gewollt.
       
       So war die Stimmung der Zeit. 
       
       Aber auch verquer, weil es viele Frauen meiner Generation dazu verleitet
       hat, sich auf das harte theologische Schwarzbrot von Luther über
       Schleiermacher und Hegel bis Kant gar nicht mehr einzulassen. Waren ja
       alles Kerle. Dorothee Sölle hat übrigens ein ambitioniertes Buch über Kunst
       und Religion geschrieben, "Realisation", in dem ich immer wieder blättere.
       
       Gleich das schwere Schwarzbrot? 
       
       Nichts gegen Toastbrot, aber ich finde es reizvoll, mich an den großen
       Klassikern der Theologie und Philosophie zu reiben. Wir stehen auf den
       Schultern dieser Riesen. Auch in der Angrenzung.
       
       War das auch ein politisches Problem, dass Sie vielleicht etwas
       konservativer waren als Dorothee Sölle? 
       
       Nein, ich bin im Rückblick eher erschrocken, wie sehr in den 80er Jahren
       politische Überzeugungen, auch meine, eine Art Geistesmode waren. Wir
       fuhren im Klassenverband zu den großen Bonner Demos. Eine Frage, die mich
       damals beschäftigt hat, war aber politisch nicht ganz so korrekt. Wie
       stehen wir zu Israel? Wie gehen wir mit dem Nahostkonflikt um? Gegen
       antizionistische Parolen der Linken war ich von zu Hause aus geimpft. Gegen
       die proisraelischen Parolen der Evangelikalen auch. Aber wie geht es
       anders? Vielleicht deshalb mein Studienaufenthalt in Israel.
       
       Sie wollten tiefer in das deutsch-jüdische Verhältnis eindringen? 
       
       Zuerst wollte ich nur die jüdische Philosophie kennenlernen, die aus
       Deutschland vertrieben wurde. Dann habe ich in einem Altersheim in
       Jerusalem mit Überlebenden der Schoah und am Leo Baeck Institut gearbeitet.
       Und ich habe die israelische Friedensbewegung kennengelernt. Allerdings
       sind alle ehemaligen israelischen Studienfreunde inzwischen ausgewandert.
       Sie haben es im eigenen Land nicht mehr ausgehalten.
       
       Die Pro-Palästina-Fraktion in der evangelischen Kirche, die neulich in der
       Evangelischen Akademie Bad Boll sogar erörterte, ob Wirtschaftssanktionen
       gegen Israel nötig seien, wird allerdings immer stärker, oder? 
       
       Ich teile die Verzweiflung über das, was in Israel passiert. Die Politik
       von Benjamin Netanjahu konserviert den Unfrieden. Und die religiöse
       Aufladung des Konflikts ist bedrohlich. Doch leider wird aus der
       Betroffenheit zu schnell wieder die Rede von "den Juden". Das ist eine
       Formulierung, die ich in Deutschland einfach nicht mehr hören will. Nicht
       weil sie nicht politisch korrekt ist, sondern weil sie falsch und dumm ist.
       
       Dennoch hört man sie auch in kirchlichen Kreisen immer wieder. 
       
       Der Nahostkonflikt ist kompliziert, seine Lösung auch, weil es nicht nur
       eine Angelegenheit zwischen Israelis und Palästinensern ist. Man kann
       Israel, bei all dem, was passiert, nicht mit einem Apartheidstaat wie
       Südafrika vergleichen. Israel ist ein Rechtsstaat, in dem sogar ein
       ehemaliger Staatspräsident wegen Vergewaltigung verurteilt wird.
       Andererseits beugt Israel das Recht, wenn es zum Beispiel um Wasser oder
       Land von Palästinensern geht.
       
       Was kann die Kirche da tun? 
       
       Die kritischen Kräfte in Israel unterstützen, die geschwächte
       Friedensbewegung, die Intellektuellen, die Künstler, die Geistlichen, die
       ihr eigenes Land fast ohne mediale Öffentlichkeit in Deutschland
       kritisieren. Genauso wie wir die palästinensischen Kräfte stützen müssen,
       die zum Beispiel im Gazastreifen sagen: Auf mafiösen Strukturen und
       erpresserischer Gewalt gegen Andersdenkende entwickelt sich kein
       demokratischer palästinensischer Staat.
       
       Derzeit gibt es in der Evangelischen Kirche in Deutschland nur noch eine
       Bischöfin. Ist das ein Zeichen für einen Backlash? 
       
       Ich hoffe, nicht. Eher die unglückliche Kreuzung von zwei unterschiedlichen
       Geschichten, den Rücktritten von Margot Käßmann und Maria Jepsen. Das ist
       tragisch, weil Frauen in Kirchenleitungen allmählich Normalität wurden.
       Jetzt wird daraus wieder ein Thema. Sogar in der taz.
       
       Maria Jepsen ist in Hamburg eine Bischöfin der Mühseligen und Beladenen
       gewesen, etwa in ihrer Hilfe für die Aids-Arbeit. Werden Sie das
       fortsetzen? 
       
       In einer Metropolenregion, wo Reichtum und Armut so zusammenstoßen, kann es
       sich die Kirche nicht in der Mitte gemütlich machen. Berlin ist darauf eine
       gute Vorbereitung. Meine Aufmerksamkeit gilt den Illegalen. Unter uns leben
       zigtausende Menschen, die sozusagen gar nicht existieren. Schattenmenschen
       ohne Pass, ohne Zugang zu Bildung oder medizinischer Versorgung. Das muss
       Christen nervös machen.
       
       Aber wie erreicht die evangelische Kirche die sogenannte Unterschicht? Die
       scheint ja verloren zu sein. 
       
       Die ist schon seit mehr als hundert Jahren schwer erreichbar. Die Reichen
       und die Gebildeten allerdings sind es auch. Schon Anfang des 20.
       Jahrhunderts gab es eine Debatte über die Milieuverengung der Kirche.
       Damals ist man dahin gegangen, wo die sind, die weggeblieben sind. Das gilt
       auch heute. Kultur ist übrigens eine Möglichkeit, aus dem fatalen
       Generationenvertrag der vererbten Armut auszubrechen. "Ey, ich bin ein
       Bildungsverlierer." Das sagen schon Zehnjährige - die übernehmen, was in
       den Medien über sie gesagt wird.
       
       Was ist da zu tun? 
       
       Wir dürfen den Staat nicht aus der Verantwortung lassen. Aber wir brauchen
       auch Bündnisse zwischen lokalen Initiativen, zwischen Diakonie, Gemeinden,
       auch der Moscheegemeinden, neue zivilgesellschaftliche Netzwerke. In
       Amerika nennt man das "community building". Dazu gehört auch die
       Kooperation zwischen denen, die sich um Soziales kümmern, den
       Stadtentwicklern und denen, die Kultur machen. Kultur ist dann kein Luxus,
       sondern ein Lebensmittel, das stark macht und Menschen wieder eine eigene
       Stimme gibt. Erst nur mit Musik oder Theater, dann im übertragenen,
       politischen Sinne. Armut fördert nicht nur schlechte Zähne und schlechte
       Bildung, Armut macht passiv und stumm. "Steh auf, nimm dein Bett und geh!",
       sagt Jesus den Gelähmten. Das könnte das Motto einer Bewegung zu mehr
       Teilhabe sein. Wieder Subjekt des eigenen Lebens werden. Das ist ein
       zutiefst evangelischer Gedanke.
       
       2 Jun 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jan Feddersen
 (DIR) Philipp Gessler
       
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