# taz.de -- Debatte Fachkräftemangel: Warten auf die fetten Jahre
       
       > Der viel beklagte Fachkräftemangel ist nur eine mediale Schimäre. Gäbe es
       > ihn wirklich, müssten unsere Löhne und Gehälter endlich steigen.
       
 (IMG) Bild: Fragile Wirtschaft: Ohne Fachkräfte bricht der deutsche Arbeitsmarkt zusammen.
       
       Liest man die Zeitungen und Zeitschriften, dann leidet Deutschland unter
       einem enormen Fachkräftemangel. Also: Arbeitslosigkeit, ade? Hartz IV war
       einmal, Armut gibt es nicht mehr, denn Königin Fachkraft diktiert die
       Preise für ihre Ware Arbeitskraft. Die Profite schrumpfen, Aktionäre gehen
       leer aus.
       
       An allen Ecken und Enden fehlt es an Ingenieuren, es herrschen
       Pflegenotstand und Ärzteschwund, Erzieher werden händeringend gesucht. Und
       wie es erst in den Jahren 2030, 2040 oder 2050 aussehen mag? Umsonsteinkauf
       im Supermarkt, weil keine Kassierer zu finden sind? Textfreie Zeitungen,
       weil die Journalisten fehlen? Schön wär's.
       
       Lese ich dagegen meine aktuellen Honorarabrechnungen in der real
       existierenden Gegenwart, sieht die Welt ganz anders aus. Seit zehn Jahren
       war da kaum eine Erhöhung zu verzeichnen, trotz allen demografischen
       Wandels. Ein Kollege, der bei einem Lokalblatt den gültigen Tarif gefordert
       hatte, wurde gefeuert - allem Fachkräftemangel zum Trotz.
       
       In meinem Nebenjob als Sozialpädagoge sehen die Erfahrungen nicht anders
       aus. Obwohl Leute wie ich angeblich dringend gesucht werden, rauscht ihre
       Entlohnung seit Jahren crashförmig in den Keller. Sozialpädagogen werden
       bei Neueinstellungen, von Ausnahmen abgesehen, in der Regel nur noch wie
       Erzieher eingestuft. Für eine Vollzeitstelle in der Erwachsenenbildung
       wurden mir glatte 2.000 Euro brutto angeboten.
       
       In der Jugendhilfe waren es 2.300 Euro - vor fünf Jahren dagegen lagen die
       Angebote trotz höherer Arbeitslosigkeit noch bei 2.600 bis 2.800 Euro.
       Einige Träger verzichten inzwischen lieber auf die Neubesetzung ihrer
       Stellen, wenn sie keinen Dummen finden, der trotz abgeschlossenen Studiums
       bereit ist, für einen Hungerlohn Leitungsfunktionen zu übernehmen.
       
       ## Wohlfeiler Appell des FDP-Chefs
       
       Fast schon niedlich wirkte da der neue FDP-Chef Philipp Rösler, als er
       kürzlich die Pflegeunternehmen aufforderte, ihren Beschäftigten mehr als
       den gesetzlichen Mindestlohn zu zahlen. Als Marktliberaler müsste es für
       ihn eine Selbstverständlichkeit sein, dass Güterknappheit zu
       Preissteigerung führt, dazu brauchte es keine Ratschläge eines Ministers.
       Stagnieren oder fallen gar die Preise oder Löhne hingegen, kann das Gut
       nicht allzu begehrt sein.
       
       "Die Lohnentwicklung lässt also keinen verbreiteten Fachkräftemangel
       erkennen. Vielmehr scheint es mit Blick auf die Löhne mehr als hinreichend
       Fachkräfte zu geben", erkannten die Wirtschaftsforscher vom DIW deshalb
       schon im vergangenem Herbst glasklar. Der von der Arbeitgeberlobby
       ausgerufene Mangel lässt sich statisch kaum nachweisen. Er basiert vielmehr
       auf kleinen Stichprobe-Umfragen, Schätzungen und Vermutungen. Es ist eher
       ein gefühlter Fachkräftemangel, weil alle davon reden.
       
       Gerade bei Ingenieuren, die angeblich weltweit angeworben werden müssen,
       ist die Zahl der Studierenden in den vergangenen zehn Jahren um 30 Prozent
       in die Höhe geschossen. Die Menge der Absolventen an deutschen Hochschulen
       ist inzwischen so groß, dass die Industrie ihr Heer an Ingenieuren jährlich
       um 8 Prozent erweitern könnte. Doch darum geht es nicht. Fachkräftemangel
       ist das Mantra, das täglich wie Gottes Wort unhinterfragt durch die Medien
       schallt - obwohl über 4 Millionen Menschen verzweifelt einen Job suchen.
       
       ## Sind Arbeitslose selbst schuld?
       
       Zwischen Diskurs und Wirklichkeit klaffen Welten. Wer als Arbeitsloser oft
       genug Nachrichten hört, muss an seinen Sinnen zweifeln. Woher kommen die
       vielen Absagen, wenn doch angeblich massenweise Fachkräfte fehlen? Liegt es
       etwa an meiner mangelnden Fachlichkeit? Oder stimmt mit mir persönlich was
       nicht? Arbeitslosigkeit erscheint im Kontext des Fachkräftemangel-Diskurses
       wieder als rein persönliches Schicksal.
       
       Als politisches Thema taugt sie schon lange nicht mehr, denn
       Arbeitslosigkeit ist allzu gegenwärtig und real. Viel reißerischer klingen
       die Prognosen für die Zukunft. Redner, die ihre Sätze mit "Im Jahre 2050
       werden wir einmal" beginnen, ziehen das Publikum magisch in ihren Bann. Sie
       wirken hypnotisierend, da sie den beruhigenden Appell mitliefern:
       "Vergessen Sie die schnöde Gegenwart. Sie ist wenig wert, weil sie
       vergänglich ist. In vielen, vielen Jahren aber beginnt die Zukunft, und die
       wird dann für immer so bleiben, wie wir sie jetzt schon genau
       vorausberechnen können."
       
       ## Tragt Sonnenbrillen bei Nacht!
       
       Schon vor über fünfzehn Jahren, in den 1990er Jahren, als die
       Arbeitslosenzahlen ihre Höchststände erreichten, sorgte sich die
       Wirtschaftslobby um den Fachkräftemangel künftiger Generationen. Um diesen
       zu verhindern, sollten bereits Jahrzehnte im Voraus zusätzliche
       Arbeitskräfte aus dem Ausland angeworben werden. Ebenso gut hätte man
       empfehlen können, die Sonnenbrillen nachts zu tragen, weil tagsüber die
       Sonne scheint.
       
       Der Druck auf die viel beklagten "Lohnkosten" sollte gesteigert werden, um
       die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen noch mehr zu pushen.
       Billiglöhne entstehen nur dann, wenn ein unbegrenztes Heer von
       Arbeitskräften nach Belieben abrufbar und manövrierbar ist - das gilt für
       polnische Pflegekräfte, rumänische Bauarbeiter und indische IT-Experten.
       
       Am besten ist es für die deutsche Wettbewerbsfähigkeit, wenn die weitaus
       ärmeren Herkunftsländer die Kosten für die Fachausbildungen tragen, von
       denen die deutschen Unternehmen profitieren. So bleibt der Vorsprung auf
       dem Weltmarkt sicher, die Konkurrenten werden kleingehalten, müssen
       deutsche Waren importieren und sich bei den deutschen Banken dafür
       verschulden.
       
       Wer den deutschen Billiglöhnen als Fachkraft entkommen will, kann zum Glück
       auswandern. In Norwegen verdienen Pflegekräfte und Verkäufer mindestens das
       Doppelte wie hierzulande. Der Abstand zu den Reichen ist geringer, aber die
       Wirtschaft stabil. Die deutsche Elite hingegen braucht die breite
       Einkommensschere für ihr Selbstbewusstsein auf hohem Ross. Man lässt die
       Leute lieber ziehen, als sie leistungsgerecht zu bezahlen.
       
       Zu hoffen bleibt nur, dass der gefühlte Fachkräftemangel so schnell wie
       möglich Wirklichkeit wird: so stark und heftig, dass die Löhne endlich
       steigen müssen.
       
       7 Jun 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Reiner Kreuzer
       
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