# taz.de -- Aus "Le Monde diplomatique": Neue demografische Landschaften
       
       > Im Jahr 2050 werden etwa 9,1 Milliarden Menschen auf der Erde leben. Dass
       > wir immer mehr werden, macht nichts. Aber dass wir immer älter werden,
       > ist ein Problem.
       
 (IMG) Bild: Alle 15 Schaubilder aus dem Dossier Weltbevölkerung hat Philippe Rékacewicz gezeichnet.
       
       Was alles für Phrasen im Zusammenhang mit der Demografie gedroschen werden.
       Ein paar Beispiele: "Die Menschheit vermehrt sich hemmungslos." Falsch, die
       Geburtenraten nehmen seit Jahrzehnten überall deutlich ab, und zwar im Zuge
       des sogenannten demografischen Übergangs - der Phase, in der zunächst sehr
       hohe Geburten- und Sterberaten wieder rückläufig sind.
       
       "Wir stehen vor einer regelrechten Bevölkerungsexplosion." Keine Angst, die
       Bombe wird nicht explodieren. Das Hauptproblem des 21. Jahrhunderts wird
       nicht das rapide Wachstum der Bevölkerung sein, sondern ihre Alterung. "Wir
       werden in einer hoffnungslos überbevölkerten Welt leben." Auch das werden
       wir nicht, weil die Zusammenballung auf relativ engen Räumen, als Folge der
       Verstädterung, in anderen Regionen zu Entvölkerung führt.
       
       "Die Migrationsströme aus dem Süden werden uns überfluten." Dabei wird
       übersehen, dass die neuen Migrationsbewegungen in alle Richtungen gehen -
       insbesondere auch von Süden nach Süden.
       
       "Die Weltbevölkerung" gibt es eben nicht. Wer das behauptet, konstruiert
       eine sinnlose Gesamtmenge und addiert Wirklichkeiten, die so verschieden
       sind wie Kraut und Rüben. Guinea und Portugal haben praktisch die gleiche
       Bevölkerungszahl (10,8 beziehungsweise 10,7 Millionen).(1) Sind sie deshalb
       demografisch vergleichbar? Nicht unbedingt. Die Indikatoren gehen allesamt
       auseinander: die natürliche Wachstumsrate - die Differenz von Geburten und
       Sterbefällen - von Guinea ist eindeutig positiv (+ 3 Prozent), während sie
       in Portugal rückläufig ist (- 0,1 Prozent).
       
       Wer die Entwicklung der Weltbevölkerung anhand demografischer Indikatoren
       darzustellen versucht, verschleiert die tatsächlichen Entwicklungstendenzen
       - etwa von Ländern mit hoher Geburtenrate und niedriger Lebenserwartung
       (wie Niger und Mali) oder von Ländern mit einer unter der Sterberate
       liegenden Geburtenrate (wie Russland oder Japan). Im Falle Japans ist der
       deutliche Anstieg der Mortalität in den nuller Jahren nicht durch ungesunde
       Lebensweisen oder schlechtere Gesundheitsfürsorge bedingt, sondern einzig
       und allein durch die Alterung. In Russland sieht es ganz anders aus.
       
       Die Welt besteht aus vielen unterschiedlichen Bevölkerungen, die durch die
       verschiedensten demografischen Indikatoren und Bevölkerungszahlen
       gekennzeichnet sind. Man sieht es an den gewaltigen Unterschieden in der
       Bevölkerungsdichte (von 5,9 Einwohnern pro Quadratkilometer in Gabun bis zu
       1 141 Einwohnern in Bangladesch). Diese Vielfältigkeiten auf
       Durchschnittswerte zu reduzieren, macht blind für die Realitäten.
       
       ## Historisch rückläufige Fertilität
       
       Das 20. Jahrhundert hat eine beispiellose Entwicklung erlebt. Die
       Erdbevölkerung hat sich fast vervierfacht (von 1,6 Milliarden im Jahr 1900
       auf 6,1 Milliarden im Jahr 2000). Dieses Wachstum kam durch das
       Zusammenwirken von vier Faktoren zustande. Seit Ende des 18. Jahrhunderts
       hatten manche Länder der nördlichen Hemisphäre nach und nach einen Rückgang
       der Sterberaten (bei Kindern, Heranwachsenden und Müttern) erlebt, der im
       19. und 20. Jahrhundert auch die Länder des Südens erfasste (Indien zum
       Beispiel seit den 1920er Jahren). Dann gab es erhebliche Fortschritte in
       der Medizin und Herstellung neuer Arzneimittel, verbesserte
       Hygienebedingungen und technische Innovationen in der Landwirtschaft, die
       eine regelmäßigere und abwechslungsreichere Ernährung ermöglichten.
       
       Innerhalb von zwei Jahrhunderten sank der Anteil der Neugeborenen, die vor
       dem ersten Lebensjahr starben, weltweit um "durchschnittlich" 80 Prozent -
       in den am stärksten entwickelten Ländern sogar um 98 Prozent. Die
       Mortalität von Kleinkindern und Jugendlichen ging noch mehr zurück. Ebenso
       die von Müttern im Kindbett, was sich auf die Bevölkerungsanteile von
       Männern und Frauen ausgewirkt hat.
       
       Frauen sind heute demografisch das "starke" Geschlecht - das hat es in der
       Geschichte der Menschheit noch nie gegeben.
       
       Darüber hinaus leben die Menschen länger. Die Gründe liegen in der
       medizinischen Versorgung (die sich seit den 1970er Jahren weiter verbessert
       hat) und in gesünderen Lebensverhältnissen. Auch hat die Technisierung
       bestimmter Tätigkeiten zu verbesserten Arbeitsbedingungen geführt, was
       gleichfalls zu einer höheren Lebenserwartung beiträgt. Zwischen 1900 und
       2010 hat sie sich von 37 auf 69 Jahre fast verdoppelt.
       
       Die historisch rückläufige Fertilität führt zu einer spürbaren
       demografischen Entschleunigung. Das durchschnittliche Bevölkerungswachstum
       sank von seinem historischen Höchststand von jährlich 2 Prozent Ende der
       1960er Jahre (als viele Länder mitten in ihrem demografischen Übergang
       steckten) auf 1,2 Prozent im Jahr 2010.
       
       Innerhalb von fünfzig Jahren hat die Weltbevölkerung damit um 142 Prozent
       zugenommen - von 2,5 Milliarden 1950 auf 6,1 Milliarden im Jahr 2000. Nach
       der mittleren Projektion der Vereinten Nationen dürfte sie bis 2050 auf 9,1
       Milliarden anwachsen. Müssen wir deshalb von Übervölkerung sprechen? Wenn
       diese 9,1 Milliarden geschlossen in die Vereinigten Staaten einwandern
       würden und der Rest der Welt völlig menschenleer bliebe, wären die USA
       immer noch dünner besiedelt als heute die Region Île-de-France.
       
       Das neue demografische Phänomen des 21. Jahrhunderts wird die Alterung der
       Weltbevölkerung sein. Beziffern lässt sich das Alter einer Bevölkerung
       entweder durch den Anteil älterer Menschen - als solche gelten für die
       Statistiken die über 60-Jährigen - oder durch das sogenannte Medianalter,
       das die Bevölkerung in zwei gleichgroße Gruppen teilt - die eine Hälfte ist
       jünger und die andere älter als das Medianalter. Der Anteil der Älteren
       betrug 1950 noch 5,2 Prozent, 2010 hatte er bereits 7,6 Prozent erreicht,
       und er wird laut UN-Prognosen bis 2050 auf 16,2 Prozent ansteigen. Das
       Medianalter lag 1950 bei 24 Jahren, 2010 bei 29 Jahren und wird 2050 rund
       38 Jahre betragen.(2)
       
       ## Alterung und "Altenzuwachs"
       
       Aufgrund der höheren Lebenserwartung vergrößert sich der Kreis der Menschen
       im dritten Lebensabschnitt, während auf der anderen Seite mit dem Rückgang
       der Geburtenrate der Anteil der Jungen abnimmt, was besonders jene Länder
       zu spüren bekommen, die ihren "demografischen Winter" erleben - in denen
       also die Fertilität in den letzten Jahrzehnten deutlich unter der
       Reproduktionsrate von durchschnittlich 2,1 Kinder pro Frau lag. Diese
       Länder ließen sich nur durch eine kräftige Ankurbelung der Geburtenrate
       (die nicht zu spät kommen darf, weil die Anzahl der Frauen im
       fortpflanzungsfähigen Alter deutlich abnimmt) oder durch die Zuwanderung
       junger Menschen wieder über die Reproduktionsschwelle hieven.
       
       Die Alterung wird gewöhnlich durch den steigenden Anteil älterer Menschen
       an der Gesamtbevölkerung gemessen. Es ist aber auch wichtig, die absolute
       Zahl der über 65-Jährigen zu beziffern. Sie ist von 130 Millionen im Jahr
       1950 auf 417 Millionen im Jahr 2000 gestiegen und könnte 2050 bei 1,486
       Milliarden liegen.
       
       Mit der Unterscheidung von Alterung und "Altenzuwachs" werden Tendenzen
       erfassbar, die von Land zu Land stark variieren. In manchen Ländern
       entwickelt sich beides ganz unterschiedlich, wenn etwa eine bestimmte
       Einwanderungspolitik junge Bevölkerungsgruppen ins Land holt und ältere
       abwandern lässt.
       
       Ein weiteres für die Bevölkerungsentwicklung sehr wichtiges Phänomen ist
       die Verstädterung. Laut UN-Daten (die im Kern weitgehend unstrittig sind)
       lag die Zahl der Stadtbewohner im Jahr 2008 erstmals über der der
       Landbevölkerung.(3)
       
       Das ist die Paradoxie des 21. Jahrhunderts: Nie war die Weltbevölkerung so
       groß, und nie lebte sie so zusammengedrängt. Drei Faktoren treiben die
       "Metropolisierung" der Welt an. Zum einen zieht der expandierende
       Dienstleistungssektor in den Ballungsräumen Erwerbstätige an, die durch
       Produktivitätszuwächse und Rationalisierungsmaßnahmen in der Landwirtschaft
       freigesetzt worden sind.
       
       Zweitens bieten sich in einer diversifizierten Berufswelt für die - mehr
       oder weniger freiwillig - mobilen Arbeitskräfte, die der ländlichen Armut
       entkommen wollen, im Rahmen der haushaltsnahen Dienstleistungen allerlei
       Beschäftigungsmöglichkeiten.
       
       Und schließlich sind es die Metropolen, die dem "globalen Dorf" am nächsten
       kommen, weil sich hier Verbindungen aller Art leichter knüpfen lassen. Ihre
       Attraktivität beziehen die Metropolen freilich auch daher, dass sie als
       Haupt- und Kreisstädte politische und ökonomische Machtzentren sind.
       Multinationale Unternehmen und internationale Organisationen lassen sich
       bekanntlich fast immer in Großstädten nieder.
       
       Der Grad der Bevölkerungskonzentration bleibt jedoch von Land zu Land
       unterschiedlich: In Indien leben 29 Prozent der Einwohner in Städten, im
       Kongo 33 Prozent, in Deutschland 73 Prozent, in den Vereinigten Staaten
       sind es 79 Prozent. Das hängt mit sehr verschiedenen Faktoren zusammen.
       
       ## Urbanisierung und Verstädterung
       
       Der hohe Urbanisierungsgrad in Brasilien ist im Wesentlichen auf das
       koloniale Erbe zurückzuführen - die Städte sollten die politische und
       wirtschaftliche Kontrolle des Territoriums sichern und die
       Verkehrsbeziehungen zum portugiesischen Mutterland zentralisieren.
       
       Der niedrige Verstädterungsgrad in China ist stark durch den Kommunismus
       bedingt, der über lange Zeit dafür gesorgt hat, dass die Landarbeiter an
       Ort und Stelle blieben. Insofern ist Peking mit seinen 12 Millionen
       Einwohnern - bezogen auf die 1,3 Milliarden Menschen in diesem
       bevölkerungsreichsten Land der Welt - eine eher bevölkerungsarme
       Hauptstadt. Andernorts haben soziale Konflikte die Landbevölkerungen
       entwurzelt, was die demografischen Probleme in Städten wie Bogotá, Amman,
       Kalkutta oder Kinshasa verschärft.
       
       Stark zentralisierte Länder wie Frankreich oder der Iran haben eine
       makrozephale (wasserkopfartige) Urbanisierungsstruktur, in der die
       Hauptstadt wirtschaftlich, finanziell, wissenschaftlich und kulturell alles
       beherrscht. Länder wie Spanien oder Bolivien hingegen haben eine bizephale
       Urbanisierung mit zwei dominanten Städten (Madrid und Barcelona, La Paz und
       Santa Cruz). Deutschland verfügt über ein ausgeglicheneres "urbanes Netz"
       mit starken regionalen und föderalen Strukturen, in denen die Städte zum
       Teil gut kooperieren oder einander kräftig Konkurrenz machen.
       
       Demografische Übergangssituationen in etlichen Ländern des Südens,
       "demografischer Winter" in einigen Ländern des Nordens, alternde
       Bevölkerungen, eine nie dagewesene Verstädterung - das umschreibt grob die
       demografische Landschaft im 21. Jahrhundert. Hinzu kommt die Frage der
       Migrationsströme: Laut UN-Bevölkerungsbericht (2009) leben 214 Millionen
       Menschen dauerhaft außerhalb ihres Geburtslands, Flüchtlinge oder
       Vertriebene nicht eingerechnet.
       
       Allen Vorurteilen zum Trotz handelt es sich bei der Migration um ein
       gleichmäßiges und permanentes Phänomen - und in den allermeisten Fällen um
       legale Zuwanderung. Die illegale Einwanderung, auf die sich die Medien gern
       stürzen, ist statistisch vernachlässigbar.
       
       ## Partnerschaften zwischen Ländern
       
       Die Migration hat auf ihre Weise auch "Partnerschaften" zwischen bestimmten
       Ländern gestiftet. Diese ergeben sich oft aus der geografischen Nähe, wie
       bei Burkina Faso und der Elfenbeinküste, Kolumbien und Venezuela, Mexiko
       und den USA, Malaysia und Singapur, Italien und der Schweiz - oder aus der
       gemeinsamen Geschichte, wenn Bindungen aus der Kolonialzeit auch nach der
       Entkolonisierung formell oder faktisch erhalten blieben - siehe die
       Philippinen und die USA, Algerien und Frankreich, Indien und
       Großbritannien.
       
       Wie bei der Urbanisierung ist auch bei der Emigration in ein anderes Land -
       sofern die Betroffenen nicht vor Krieg, Bürgerkrieg oder diktatorischen
       Regimes fliehen - die wirtschaftliche Situation die wichtigste
       Antriebsfeder. Im 19. Jahrhundert hat die Armut viele Spanier, Schweizer
       und Italiener nach Lateinamerika auswandern lassen. Die Demografie selbst
       ist ein dritter Faktor der Migration: Im 19. Jahrhundert war zum Beispiel
       Frankreich aufgrund des sehr frühen Rückgangs seiner Geburtenrate das
       einzige europäische Einwanderungsland. Im frühen 21. Jahrhundert veranlasst
       der Rückgang der Erwerbsbevölkerung mehrere entwickelte Länder zu einer
       Einwanderungspolitik, die den Arbeitskräftemangel insbesondere im
       Niedriglohnsektor abfangen soll.
       
       Im Übrigen hat der Gegensatz zwischen Einwanderungs- und
       Auswanderungsländern seine Bedeutung längst verloren. Die
       Migrationsbewegungen verlaufen zunehmend zirkulär. Marokko zum Beispiel ist
       ein Auswanderungsland gegenüber Europa und Nordamerika, ein Durchgangsland
       für subsaharische Afrikaner, die nach Europa wollen, und ein
       Einwanderungsland für subsaharische Afrikaner, die dort gestrandet sind.
       
       Ebenso ist Spanien ein Auswanderungsland vor allem Richtung Nord- und
       Lateinamerika, ein Transitland für Afrikaner, die nach Frankreich wollen,
       und ein Einwanderungsland für Marokkaner, Rumänen oder Südamerikaner. Das
       Bild, das Migrationsbilanzen zeichnen, verschleiert das tatsächliche Ausmaß
       der Ein- und Auswanderungsströme - denn für die meisten Länder der Welt
       gilt, dass sie inzwischen alle drei Funktionen ausfüllen.
       
       Fußnoten:
       
       (1) Wenn nicht anders vermerkt, stammen die Zahlen aus dem Artikel von
       Jean-Paul Sardon, "La population des continents et des pays", "Population &
       Avenir, Nr. 700, Nov./Dez. 2010.
       
       (2) Angaben der UN Population Division.
       
       (3) Siehe "Dossier Stadtwelten", "Le Monde diplomatique, April 2010.
       
       Aus dem Französischen von Thomas Laugstien 
       
       [1][Le Monde diplomatique] vom 10.6.2011
       
       10 Jun 2011
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gérard Dumont
       
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