# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Ramadan und Revolution
       
       > Beim Versuch, die Rolle der Religion in den arabischen Aufständen zu
       > ergründen, scheitern nichtmuslimische Beobachter oft am eigenen
       > Schematismus.
       
 (IMG) Bild: Fastenbrechen in Islamabad, Pakistan.
       
       Zum Zuckerfest, am Ende des Ramadan, bauten islamische Herrscher in
       früheren Jahrhunderten ganze Schlösser aus Süßwerk, die vom Volk
       eingerissen und vernascht werden durften. Das erscheint heute wie eine
       Metapher, und so war es auch gemeint: Jeder Ansatz von Aufbegehren sollte
       in Zucker erstickt werden.
       
       Während der Fastenzeit ist das Gerechtigkeitsempfinden in muslimischen
       Gesellschaften besonders wach. Vorbeugend wurde der Ramadan darum in den
       autoritär regierten arabischen Ländern in jüngerer Zeit zum Monat der
       kleinen Freiheiten: In Fernsehserien, eigens für die Fastenzeit produziert,
       kämpften historische Rebellen ersatzweise für Anstand und Würde; politische
       Sketche fanden gnädige Zensoren. Bei den kleinen Freiheiten tat sich
       besonders Syrien hervor; reziprok dazu die Genügsamkeit der Untertanen –
       alles wie aus einer anderen Zeit.
       
       Nun, den ganzen August über, der Ramadan der Revolution. Die religiösen
       Vibrationen werden die politischen Ereignisse beschleunigen, in Jemen,
       Syrien, Libyen, Tunesien, Ägypten, mit chronisch ungewissem Ergebnis. In
       Ägypten hat der regierende Militärrat den Hauptprozess gegen Mubarak
       beginnen lassen. Der Bettlägerige im Käfig– war der spektakuläre Auftakt
       nur ein Manöver, um dem Volk in übertragenem Sinne Zucker zu geben? In
       Tunesien steht bereits der dritte Prozess gegen Ben Ali an; der erholt sich
       wie Jemens Ali Abdullah Saleh ausgerechnet im Land des Propheten.
       
       Gerechtigkeit also. Für die Maßlosigkeit bisherigen Unrechts nur ein
       einziges Beispiel: Der ägyptische Rechnungshof schätzt, es könnten 13
       Milliarden Dollar Verlust wieder hereingeholt werden, die dem Staat allein
       durch "Landmissbrauch" entstanden: als Luxussiedlungen auf Bauernland
       gebaut wurden. Ein saudischer Prinz konnte ein Stück Boden zum Bruchteil
       dessen erwerben, was ein siedlungswilliger junger Ägypter dafür bezahlen
       musste. Dieses strukturelle Unrecht hat bisher tausende
       Korruptionsverfahren ausgelöst; sie zu bewerten, ist noch zu früh.
       
       ## Arm in Arm mit den Jugendlichen vom Tahrirplatz
       
       Dass die Aufarbeitung stockend verläuft, kann kaum verwundern: Die meisten
       Verfahren liegen in den Händen von Justizoffiziellen des alten Regimes.
       Westliche Medien, die an diesem Regime früher wenig auszusetzen fanden,
       gefallen sich nun darin, Arm in Arm mit den Jugendlichen vom Tahrirplatz
       die schleppende Ahndung von Unrecht zu beklagen. Das eigentlich
       Bemerkenswerte ist jedoch: Wie schnell und wie vehement in Ägypten die
       juristische Aufarbeitung der Vergangenheit gefordert wird, nicht nur von
       gebildeten Agenten des Wandels, sondern von breiten Schichten des Volkes.
       Anderswo hat das Jahre, wenn nicht Jahrzehnte gedauert, von Franco-Spanien
       über Lateinamerika und Afrika bis zum Balkan.
       
       Die öffentliche Auseinandersetzung um das Tempo der Aufarbeitung
       konzentriert sich auf die Opfer der Revolution. Es bedurfte
       Straßenschlachten, damit nun endlich alle beschuldigten Polizeioffiziere
       suspendiert werden. Gewiss, das Thema ist griffiger als das komplizierte
       strukturelle Unrecht; doch damit allein erklärt sich nicht, warum die
       Märtyrer und ihre Familien so sehr im Fokus stehen. Auch die Klage gegen
       Mubarak lautet: Mitverantwortung für den "vorsätzlichen Mord" an 846
       Märtyrern sowie für den versuchten Mord im Falle tausender Verletzter. Als
       seien die drei Jahrzehnte seiner Herrschaft zusammengeschnurrt auf 18 Tage
       Revolution. Die Forderung, Mubarak solle gehenkt werden, kam damals erst
       nach der sogenannten Kamelschlacht auf, als das Regime Schlägerbanden und
       Kriminelle gegen die Demonstranten hetzte. Vorher war Mubarak ein
       schlechter Herrscher, nun war er ein Mörder.
       
       Schahid: Im arabischen Wort für Märtyrer steckt wie im Griechischen
       sprachlich der Begriff der Zeugenschaft. Ein Zeuge, ein Bezeuger des einen
       Gottes zu sein, ist ohnehin der Kern des Muslimseins. Aschhadu, "ich
       bezeuge", heißt es in jedem Gebetsruf, und manche gehen so weit, jeden
       Muslim, der gläubig stirbt, einen Märtyrer zu nennen. Wer im Zuge der
       Revolution getötet wurde, bezeugt diese Revolution und ihre Ziele. Die
       Überlebenden haben den Märtyrern gegenüber die kollektive Verpflichtung,
       die Revolution fortzusetzen.
       
       ## Willensbekundung und Volksislam
       
       So verschmelzen in der Märtyrerverehrung politische Willensbekundung und
       Volksislam. In Tunesien steckte mir eine Märtyrermutter das Bild ihres
       getöteten Sohns ins Dekolletee und rieb das Foto über meine Haut, damit ich
       am Märtyrersegen teilhabe und ins Paradies komme. Beim Versuch, die Rolle
       der Religion in den arabischen Aufständen zu ergründen, scheitern
       nichtmuslimische Beobachter oft am eigenen Schematismus: Wenn Religion sich
       nicht als Protagonist zu erkennen gibt, ist die Bewegung säkular.
       Tatsächlich vermischen sich religiöse und politische Motive viel subtiler,
       und religiöse Prägungen beeinflussen unterschwellig politische
       Äußerungsformen. Nur so ist die überragende Rolle der Märtyrerfamilien zu
       verstehen.
       
       Nach klassischer islamischer Rechtsdoktrin sind die Strafverfolgung und die
       Exekution einer Strafe abhängig vom Willen des Opfers beziehungsweise
       seiner nächsten Angehörigen. Wenn die Familien der Revolutionstoten jetzt
       auf die rasche Ahndung der Verbrechen drängen, pochen sie auf ihr religiös
       verbrieftes Recht, Vergeltung zu verlangen. Nach dem säkularen ägyptischen
       Strafgesetz bedeutet dies: Hinrichtung. Ein Großteil der Ägypter
       unterstützt dieses Verlangen. Wer daran erinnert, dass der Koran auch
       auffordert, einem Täter zu verzeihen, wird leicht für einen
       Mubarak-Anhänger gehalten.
       
       Von ganz anderer Natur ist der Haftbefehl für Gaddafi durch den
       Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Auch hier schnurrt die
       Verantwortlichkeit allerdings erstaunlich zusammen, auf fünf Tage
       "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" im Februar. War Gaddafi menschlicher,
       als er früher im Bund mit dem Westen afrikanische Migranten in wüstenheißen
       Containern verdursten ließ? Die Afrikanische Union hat ihre Mitgliedstaaten
       aufgefordert, den Haftbefehl nicht zu vollstrecken: weil das Gericht bei
       der Wahl seiner Angeklagten generell diskriminiere. In der Tat zählen zu
       ihnen nie die Angehörigen mächtiger Staaten. Ägypten, wo nun das
       Gerechtigkeitsverlangen der Straße so stark ist, hat die Haager
       Gerichtsbarkeit nie anerkannt. Heute erschiene es den meisten Ägyptern
       völlig absurd, die Ahndung der Staatsverbrechen Fremden zu überlassen, noch
       dazu einer westlich dominierten Institution.
       
       Der Strang: In Libyen, Tunesien, Ägypten ist er auf Hauswänden und
       Transparenten ein populäres Motiv geworden. Kairoer Taxifahrer hängen sich
       an den Rückspiegel einen Minigalgen, an dem Exinnenminister al-Adly
       baumelt, und Mubaraks Hinrichtung zu fordern, gehört auf dem Tahrirplatz
       zum guten Ton. Dem alten Herrscher soll öffentlich ein Ende gemacht werden,
       sein Name ist schon getilgt, abgekratzt von tausenden Schildern, manche
       wollen ihn nicht einmal in ägyptischer Erde begraben sehen, andere ihn aus
       den Filmarchiven tilgen. Als hätte Mubarak nie existiert. Als ließe sich
       jede Erinnerung an ihn löschen– und damit auch die heimlich empfundene
       Schande, seine Herrschaft so viele Jahre geduldet zu haben. Psychologie,
       Politik, Religion – nicht jeder will tatsächlich Mubaraks physische
       Liquidierung. Aber alle wollen ein Signal, das weit über Ägyptens Grenzen
       hinausreicht: Gerechte Strafe ereilt auch höchste Ränge. Eine Lektion für
       die ganze Region. Die politisch Bewussten sagen: Der Prozess müsse fair
       sein; das sei wichtig für Ägyptens Geschichte.
       
       ## Gequält, gedemütigt, des Passes beraubt
       
       Was also wird in diesem Ramadan geschehen? Hat Saudi-Arabien tatsächlich,
       wie viele argwöhnen, seine Finanzhilfe für Ägypten an die Bedingung
       geknüpft, der regierende Militärrat müsse eine Hinrichtung Mubaraks
       verhindern, am besten überhaupt eine Verurteilung? Im Zweifelsfall durch
       eine Dosis Gift im Essen? Im eigenen Land sind die Saudis keineswegs
       zurückhaltend mit Hinrichtungen. Gerade erst wurde eine 54-jährige
       Indonesierin enthauptet, ein sogenanntes Hausmädchen; gequält, gedemütigt,
       ihres Passes beraubt, war die Frau durchgedreht und hatte ihre Peinigerin
       mit einem Küchenmesser erstochen.
       
       Eine Migrantin öffentlich zu exekutieren, die sich in finaler Verzweiflung
       gegen ihr Schicksal aufgelehnt hat, das ist eine Lektion: Im Sinne der
       Saudis so logisch wie die Verhinderung jener anderen Lektion, einen
       arabischen Autokraten beispielgebend zu richten. Der Islam als Verurteilung
       zur Unmündigkeit. Oder als Unterstützung bei der Erhebung von Mündigen.
       Auch dies ist das Thema des diesjährigen Ramadan. Und jeder Muslim, jede
       Muslimin kann sich entscheiden. Übrigens heißt es, im Ramadan seien die
       Tore des Himmels weit geöffnet und die Tore der Hölle verschlossen. Allzu
       große Eile ist im Prozess gegen Mubarak also nicht geboten.
       
       ©[1][" Le Monde diplomatique], Berlin
       
       Le Monde diplomatique vom 12.8.2011
       
       21 Aug 2011
       
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