# taz.de -- Hitchcock-Fim im Archiv entdeckt: Jäger der vorhandenen Schätze
       
       > Wenn in einem neuseeländischen Filmarchiv unerwartet ein früher Film von
       > Alfred Hitchcock oder John Ford auftaucht, gilt das als Sensation. Wie
       > Filmarchive funktionieren.
       
 (IMG) Bild: Szene aus "The White Shadow" von Alfred Hitchcock aus dem Jahr 1923.
       
       In den frühen 90er Jahren machte der damals noch unbekannte Peter Jackson
       eine sensationelle Entdeckung. In einer Gartenlaube stieß er auf Stapel
       verrosteter Filmdosen. Zu seiner Überraschung enthielten die Dosen Arbeiten
       des neuseeländischen Amateurfilmers und Entrepreneurs Colin McKenzie aus
       den Anfangstagen des Kinos.
       
       Wie eine Inspektion der Rollen im neuseeländischen Filmarchiv ergab, hatte
       der Autodidakt McKenzie lange vor den Pionieren des Kinos mit klassischen
       Filmtechniken wie dem Tracking Shot (mithilfe einer auf einem Fahrrad
       montierten Kamera) oder dem Close-up sowie mit Ton und Farbe
       experimentiert. Unter den Filmen befand sich auch das Fragment eines
       Bibelepos im Stil D. W. Griffiths, für das er ein gigantisches Set im
       Regenwald hatte errichten lassen. Doch McKenzies Visionen waren seinerzeit
       wenig Erfolg beschieden, ebenso wie seiner Erfindung einer Filmemulsion auf
       Eiweiß-Basis. McKenzie starb den Tod eines verkannten Genies.
       
       Colin McKenzie hat es nie gegeben. Jackson hat ihn für sein Mockumentary
       "Forgotten Silver" aus dem Jahr 1994 erfunden, das seinerzeit unkommentiert
       im neuseeländischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Zuschauer empörten sich
       später, weil sie Jacksons sehr überzeugender Täuschung auf den Leim
       gegangen waren.
       
       Ganz aus der Luft gegriffen war die Geschichte jedoch nicht. Denn das
       neuseeländische Filmarchiv zählt zu den wichtigsten Heimstätten verlorener
       und vergessener Filmgeschichte, speziell der US-amerikanischen.
       
       ## Die schiere Menge überfordert
       
       Im vergangenen Jahr machte das Archiv Schlagzeilen, als in seinen
       vergleichsweise überschaubaren Beständen die Kopie des lange verloren
       geglaubten John-Ford-Dramas "Upstream" von 1928 auftauchte. Der Fund wurde
       als Sensation gefeiert, nicht zuletzt weil der Film den Übergang in der
       Arbeitsweise Fords hin zu seinem charakteristischen naturalistischen Stil
       markierte. Die Entdeckung der frühen Hitchcock-Kollaboration "The White
       Shadow" aus dem Jahr 1923 bescherte dem Archiv vor kurzem erneut
       internationale Aufmerksamkeit. Beide Funde sind singuläre medienwirksame
       Ereignisse, die die Arbeit der Filmarchive in ein glamouröses Licht rücken.
       Doch verlorene Filme tauchen heute fast wöchentlich in Archiven auf, nur
       wurden die meisten von ihnen von niemandem vermisst.
       
       Das neuseeländische Filmarchiv arbeitet seit einigen Jahren gemeinsam mit
       der Library of Congress, dem Academy Film Archive und dem George Eastman
       House an der Rückführung von über hundert US-amerikanischen Produktionen,
       die in seinen Beständen identifiziert wurden. "Identifiziert" ist das
       Schlüsselwort, der Begriff "verloren" wirkt in diesem Zusammenhang eher
       irreführend.
       
       Denn das Problem mit den frühen Filmen ist nicht nur ihr Verschwinden -
       obwohl unbestreitbar ist, dass in den beiden großen Vernichtungswellen der
       Studios Anfang der 30er Jahre (dem Beginn der Tonfilms) und zu Beginn der
       50er Jahre (als das leicht entflammbare Nitrofilmmaterial durch das
       vermeintlich stabilere Cellulosetriacetat ersetzt wurde) viele Filme
       unwiederbringlich verloren gingen. Doch was die Filmarchive heute
       überfordert, das ist vor allem die schiere Menge ihrer noch unerschlossenen
       Bestände.
       
       So lagen die drei Rollen von "The White Shadow" bereits seit über zwanzig
       Jahren sicher verwahrt in den Tresoren des neuseeländischen Filmarchivs.
       Allerdings war der Film unter dem Titel "Two Sisters", so der Text des
       ersten Zwischentitels, in der Datenbank registriert; Credits existierten
       keine. Der Irrtum konnte aufgeklärt werden, nachdem eine amerikanische
       Historikerin im Zuge des Repatriierungsprojekts die drei Akte genauer
       untersuchte. Auch die Existenz von "Upstream" war lange bekannt, wie Jamie
       Lean vom New Zealand Film Archive erklärt. Nur hatte zuvor niemand einen
       Bezug zum verlorenen Ford-Film hergestellt. Auch hier fehlte die
       Titelsequenz.
       
       Man muss sich die Situation ein wenig wie das Ende des ersten
       Indiana-Jones-Films "Jäger des verlorenen Schatzes" vorstellen. Ein
       amerikanischer Regierungsbeamter deponiert die Bundeslade in einer riesigen
       Lagerhalle unter hunderten ähnlicher Holzkisten. Das Heiligtum steht offen
       herum und ist doch gut versteckt. Ähnlich sieht es mit vielen vermeintlich
       verlorenen Filmklassikern aus.
       
       ## Kuss-Szenen fehlen und Titelkarten sind vertauscht
       
       Dass verloren geglaubte Filme am anderen Ende der Welt wiederauftauchen,
       ist indes kein Zufall. Gerade vom Weltmarkt abgelegene Länder wie
       Neuseeland, Australien oder Uruguay waren immer wieder für bedeutende Funde
       gut. So überlebten "Upstream" und "The White Shadow" lediglich dank der
       Nachlässigkeit der Filmindustrie. Neuseeland stand lange Zeit am Ende der
       industriellen Verwertungskette. Als die Filmkopien kommerziell ausgewertet
       waren, machte sich niemand mehr die Mühe, die Kopien zurück an die Studios
       zu schicken, wo sie vermutlich vernichtet worden wären. Sie blieben in
       Neuseeland und landeten schließlich in der Obhut von Filmvorführern und
       Sammlern, in den Händen von Menschen wie Jack Murtaugh.
       
       In dessen Privatsammlung, die nach seinem Tode 1989 in den Bestand des
       neuseeländischen Filmarchivs überging, fanden sich neben "Upstream" und den
       drei Akten von "The White Shadow" auch der Technicolor-Film "The Love
       Charm" (1928), frühe Arbeiten der Filmemacherinnen Muriel Ostriche and
       Alice Guy, ein bislang unbekanntes Fragment der Keystone Kops von 1914
       sowie seltene amerikanische Newsreels.
       
       Sammler wie Jack Murtaugh haben großen Anteil daran, dass viele verloren
       geglaubte Filme bis heute überleben konnten. So wurde einer der
       bedeutendsten Filmfunde der letzten zehn Jahre, das Stummfilmdrama "Beyond
       the Rocks" mit Rudolph Valentino und Gloria Swanson, ausgerechnet im
       Nachlass eines holländischen Sammlers entdeckt.
       
       Holland ist ebenfalls für seine zahlreichen Filmfunde berühmt; kürzlich
       stießen Mitarbeiter des niederländischen EYE Film Instituut in einem Keller
       auf Robert Wienes Frühwerk "Die Waffen der Jugend". Das EYE Film Instituut,
       dessen einzigartige Desmet-Kollektion sich aus den Beständen des ehemals
       größten ansässigen Stummfilmverleihers Jean Desmet speist und gerade zum
       Weltkulturerbe erklärt wurde, bemüht sich schon seit einer Weile darum,
       gute Kontakte zu lokalen Sammlern zu pflegen, um den Erhalt ihrer
       Filmsammlungen für die Nachwelt zu gewährleisten.
       
       Doch das Verhältnis von Sammlern zu Filmarchiven und Produzenten, die
       teilweise noch Rechte besitzen, ist schwierig. Als das British Film
       Institute in den 90er Jahren begann, die englische Bevölkerung in die
       systematische Suche nach historischen Fernsehsendungen einzubeziehen (die
       Originalbänder waren, um Geld zu sparen, einfach überspielt worden),
       mussten die Sender zunächst ausdrücklich erklären, nachträglich keine
       rechtlichen Schritte gegen das illegale Mitschneiden ihrer Programme
       einzuleiten.
       
       ## Nachlässige Sammler
       
       Filmsammler gelten auch als eigenwilliger Menschenschlag. Manche von ihnen
       hatten die Angewohnheit, aus ihren Filmen Kompilationen mit Lieblingsszenen
       zur erstellen. So fehlen in einer großen Sammlung des niederländischen
       Filminstituts sämtliche Kuss-Szenen. Andere Sammler waren berüchtigt dafür,
       Szenen neu zu arrangieren, die Credits-Sequenzen und Startbänder
       abzuschneiden oder Titelkarten zu vertauschen. Alles Eigenarten, die die
       sowieso schon komplizierte archäologische Arbeit am Stummfilm zusätzlich
       erschweren. Dass auch die Sammler bei aller Leidenschaft nicht immer allzu
       sorgsam mit ihren Schätzen umgingen, zeigt das Beispiel Jack Murtaugh.
       Seine Filme wurden, auch hier lag Jackson nicht ganz falsch, aus einer
       Gartenlaube geborgen. Es bedurfte, so Jamie Lean, viel Zeit und Geduld, die
       250 Dosen umfassende Sammlung korrekt zu erfassen.
       
       Der Terminus "Verlorener Film" bezieht sich natürlich auf eine kanonisch
       gesicherte Filmgeschichte. Sieht man sich die offizielle Liste verlorener
       Filme einmal genauer an, wird schnell deutlich, dass es vor allem um das
       Schließen filmografischer Lücken und das Festigen von Kanons geht. Bisher
       freilich hat kein Fund die Filmgeschichte umgeschrieben. Wie subjektiv (und
       damit auch weitgefasst) die Auslegung des Begriffs letztendlich ist,
       unterstreicht eine Aussage des Filmhistorikers und Kurators Paolo Cherchi
       Usai. Auf die Frage nach einem verlorenen Film, den er unbedingt noch
       finden möchte, antwortete Cherchi Usai, dass er schon länger einen
       Werbefilm der amerikanischen Fluggesellschaft Pan Am aus den späten 80er
       Jahren suche. Er bezweifele allerdings, dass diese Suche jemals von Erfolg
       gekrönt sein werde.
       
       Einen Werbefilm, noch dazu aus den 80er Jahren, sucht man auf der Liste der
       wichtigsten verlorenen Filme bislang vergeblich. So wie mutmaßlich hunderte
       andere verlorene Filme, deren historische Bedeutung wir nach heutigem
       Wissensstand nicht einmal erahnen.
       
       Am Ende wäre es vielleicht sogar möglich, dass irgendwo in einem Kellerloch
       oder irgendwo in einer Gartenlaube das größte unbekannte Meisterwerk der
       Kinogeschichte, ein echter Colin McKenzie sozusagen, seiner Entdeckung
       harrt, während wir ahnungslos auf den letzten noch fehlenden John-Ford-Film
       hoffen.
       
       25 Aug 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Busche
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Netflix
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Netflix-Film „Rebecca“: Böse Frau, gute Frau
       
       Nach Hitchcock hat Ben Wheatley den Roman „Rebecca“ für Netflix verfilmt –
       mit queerem Subtext und altbackenen Frauenbildern.