# taz.de -- Debatte Schuldenbremse: Primitiver Zahlenglaube
       
       > Die Politik darf sich nicht an statistische Indikatoren festketten. Darum
       > ist es falsch, die Schuldenbremse in Verfassungen festzuschreiben.
       
 (IMG) Bild: Sinnvoll oder nicht? Die Schuldenbremse mach Halt vor dem Bundesfinanzministerium.
       
       Die Öffentlichkeit, eifrig unterstützt von Wissenschaftlern, wünscht sich
       immer mehr, dass sich die Politik an Regeln hält, die in Form statistischer
       Größen (und Indikatoren) quasi objektiv messbar sind. Statistisches Wissen
       soll die Politik, die in Deutschland seit jeher sehr skeptisch gesehen
       wird, gewissermaßen entpolitisieren.
       
       Befeuert durch die Schuldenkrisen in Südeuropa, wird die ab 2016 wirksam
       werdende "Schuldenbremse" derzeit als ein solcher neuer Indikator hoch
       gehandelt. Die im deutschen Grundgesetz festgeschriebene Regelung verlangt
       vom Staat bei der Nettoneuverschuldung, falls keine konjunkturellen
       Besonderheiten vorliegen, 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP)
       nicht zu überschreiten.
       
       Das ist wenig angesichts dessen, dass die neuen Schulden in den letzten
       Jahren mehrmals die 3-Prozent-Marke überschritten, die im europäischen
       Stabilitätspakt festgeschrieben ist. Wegen der Krisen in mehreren
       EU-Ländern haben die deutsche und die französische Regierung beschlossen,
       überall in Europa eine scharfe Schuldenbremse zu installieren.
       
       ## Die Grenzen der Statistik
       
       Das hört sich plausibel an. Doch ist eine direkte Steuerung der Politik
       durch Zielindikatoren wirklich sinnvoll? Menschliches Handeln läuft nicht
       regelgebunden ab. Daher sind statistische Zielindikatoren oft viel zu
       einfach gestrickt. Betrachten wir etwa die 3-Prozent-Neuverschuldungs-Regel
       des EU-Paktes: Sie wäre dann sinnvoll, wenn man wüsste, dass die Kosten
       einer höheren Neuverschuldung in jedem Fall die Kosten des regelkonformen
       Verhaltens überschreiten. Das weiß man aber nicht.
       
       So hielt es nach der Lehman-Insolvenz niemand, der ernst zu nehmen war, für
       sinnvoll, die Staaten unter Inkaufnahme einer schweren Rezession und des
       Zusammenbruchs des Bankensystems auf die Einhaltung der
       3-Prozent-Neuverschuldungs-Regel zu verpflichten. Und ob - um ein ganz
       anderes Feld herauszugreifen - die Pisa-Indikatoren wirklich für ein
       Schulsystem sorgen, das Jugendliche besser für das Leben ertüchtigt als das
       konventionelle, ist bislang völlig offen. Lehrer, die bei Pisa gut
       abschneiden wollen, vernachlässigen womöglich wichtige Erziehungsziele, die
       jenseits der Pisa-Welt liegen.
       
       Auch die "Schuldenbremse" ist ein Beispiel für die oft höchst zweifelhafte
       statistische Fundierung von Zielindikatoren. Das zulässige sogenannte
       strukturelle Defizit hängt vom sogenannten Potenzialwachstum, also vom
       möglichen Wachstum ab. Das ist aber nicht direkt messbar, sondern muss
       statistisch geschätzt werden. Das Schätzverfahren kann zwar normiert
       werden, etwa indem die EU-Kommission die Berechnung vornimmt, automatisch
       richtig ist es deshalb nicht.
       
       Zurzeit geht das EU-Verfahren für Deutschland wegen der angestiegenen Zahl
       von Erwerbspersonen in den letzten zwei Jahren von einem recht hohen
       Potenzialwachstum aus. Folglich ist auch die danach berechnete zulässige
       Nettoneuverschuldung hoch. Niemand weiß jedoch, ob das Mehr an
       Erwerbspersonen lediglich konjunkturell bedingt oder von Dauer ist.
       
       ## Akademische Idealwelten
       
       Man muss es deutlich aussprechen: Zielindikatoren glänzen nur so lange, wie
       sie in akademischen Idealwelten bleiben. Sie scheitern hingegen regelmäßig
       an der komplexen Realität. Und zwar nicht deswegen, weil die Politik
       grundsätzlich ignorant oder böswillig wäre, sondern weil Wirtschafts- und
       Sozialindikatoren einfach noch nicht leisten, was sie versprechen.
       
       Ältere könnten sich noch daran erinnern, was mit dem Zielindikator
       "Geldmenge" passiert ist. Die Monetaristen unter den Ökonomen hatten in den
       70er Jahren Zentralbanken davon überzeugt, ihre Geldpolitik an der
       umlaufenden Geldmenge zu orientieren. Die Idee war im Prinzip einfach: Wenn
       die Geldmenge nicht schneller wächst als die Volkswirtschaft insgesamt,
       dann kann es keine Geldentwertung (Inflation) geben. Deren schädlichen
       Folgen - in den Augen der Monetaristen vor allem hohe Staatsausgaben -
       werden so wirksam verhindert.
       
       ## Irrweg der Geldmengenpolitik
       
       Auch die Deutsche Bundesbank hat jahrelang versucht, eine
       geldmengenorientierte Politik zu betreiben. Es hat sich aber
       herausgestellt, dass die Geldmenge wegen des bargeldlosen Zahlungsverkehrs
       sehr schwer messbar ist. Geld ist ja nicht einfach die Summe aller Münzen
       und Geldscheinen - viel wichtiger sind heutzutage bargeldloser
       Zahlungsverkehr und Geldschöpfung durch Kredite. Auch ist der Zusammenhang
       zwischen Geldmenge, Inflation und Wirtschaftswachstum nicht so einfach, wie
       die Monetaristen glaubten. Faktisch ist die Geldmengenregel längst außer
       Kraft. Zum Glück wurde dieser Zielindikator - anders als die Schuldenbremse
       - nie ins Grundgesetz geschrieben.
       
       Es mag ja sein, dass die Politik wissenschaftliche Ergebnisse zu wenig
       ernst nimmt und dadurch politische Entscheidungen nicht so gut sind, wie
       sie es sein könnten, wenn wissenschaftlich erarbeitete Evidenz systematisch
       einfließen würde. Aber das kann nicht bedeuten, dass man sehenden Auges von
       der Politik verlangt, dass sie sich wie ein Roboter an Indikatoren bindet,
       von denen man weiß, dass sie auf unrealistischen, vereinfachenden Annahmen
       aufbauen.
       
       Indikatoren sind sinnvoll, wenn sie Informationen schaffen, die sonst nicht
       zur Verfügung stünden, und wenn sie durch die Schaffung von Transparenz die
       notwendigen Diskussionen und Entscheidungen verbessern. Sie können
       politische Auseinandersetzungen rationaler machen, solange sie nur die
       Grundlage für Diskurs und Streit sind - sie können diesen Streit aber nicht
       ersetzen. Darum ist es falsch, sie mit automatisierten Entscheidungsregeln
       zu verbinden.
       
       Trotz Schuldenbremse wird am Ende über die Verschuldung - in Deutschland
       wie in Europa - politisch gestritten und entschieden werden. Im Zweifel an
       der Wahlurne. Da gehören wichtige Entscheidungen auch hin.
       
       25 Aug 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) G. Wagner
 (DIR) D. Schäfer
       
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