# taz.de -- Debatte Israel: Fünf Fragen an Deutschland
       
       > Noch nie war Israel auf internationalem Parkett so isoliert wie heute. Es
       > wäre Aufgabe der Deutschen, das Land vor dem Selbstmord zu bewahren.
       
       Aus Auschwitz kehrte mein Vater im Frühjahr 1945 zurück mit dieser
       Überzeugung, an der er bis heute, mit 88 Jahren, festhält: Weit entfernt
       davon, um die Kritik des Historikers Ian Kershaw zu paraphrasieren, nur
       "eine Geschichte zwischen Juden und Deutschen zu sein", gehe die Shoah die
       ganze Menschheit an.
       
       Ich verstehe natürlich, dass die Nachkommen jener, die eines der
       schrecklichsten Massaker der Geschichte verübt haben, sich um die Zukunft
       eines Teils ihrer Opfer und deren Nachkommen sorgen, die sich - aus welchen
       Gründen auch immer - dafür entschieden haben, in Israel zu leben. Aber die
       Art und Weise, wie das geschieht, wirft mindestens fünf grundsätzliche
       Fragen auf.
       
       Erstens versuchen manche, Antizionismus und Antisemitismus gleichzusetzen.
       Mir ist klar, dass einige hinter ihrem Antizionismus nur ihren Hass auf
       Juden verstecken. Aber dieses Täuschungsmanöver, das gewöhnlich niemanden
       irrezuführen vermag, kann nicht bedeuten, dass man die Geschichte neu
       schreiben müsste. Bis zum Zweiten Weltkrieg bildeten die zionistischen
       Bewegungen in den meisten jüdischen Gemeinden nur eine Minderheit. Wer
       würde es wagen, ihre Gegner - Kommunisten, Bundisten, Liberale, Orthodoxe -
       zu Antisemiten abzustempeln? Einen Jidah Magnés oder einen Martin Buber
       etwa, die für ein binationales Palästina eintraten?
       
       Der Zionismus hat seit dem 14. Mai 1948 sein Ziel erreicht: Israel
       erblickte das Licht der Welt, und seitdem dreht sich die politische Debatte
       weniger um die Ideologie, die zu der Geburt dieses Staats geführt hat, als
       um dessen Innen- und Außenpolitik.
       
       ## Wer Israels Existenz gefährdet
       
       Das führt mich, in diesem Fall, zu meiner zweiten Frage: Wer gefährdet
       derzeit die Existenz Israels und trägt zugleich zu einem Anwachsen des
       Antisemitismus weltweit bei? Jene die, in Israel oder im Ausland, die
       Verblendung der Regierung Netanjahu/Lieberman/Barak anprangern, die
       fortlaufend internationales Recht verletzt und jede Perspektive auf Frieden
       sabotiert? Oder jene israelischen Anführer selbst, die ihren Staat und ihre
       Gesellschaft in den Selbstmord steuern?
       
       Es geht dabei nicht nur um eine Frage des Stils: Der arabische Aufstand
       nagt am Status quo, mit dem Israel Besatzung und Kolonisierung
       aufrechterhält. Er hat ein Ende des Quasi-Bürgerkriegs zwischen Fatah und
       Hamas eingeläutet und für Oktober die internationale Anerkennung eines
       palästinensischen Staats in den Grenzen von 1967 und mit Jerusalem als
       Hauptstadt sowie dessen Beitritt zur UNO auf die Tagesordnung der
       Generalversammlung der Vereinten Nationen gesetzt.
       
       Nie zuvor in seiner Geschichte war Israel auf dem diplomatischen Parkett
       und in der Weltöffentlichkeit so isoliert wie heute. Und auch wenn die
       proisraelische Lobby den Bewegungsspielraum von Barack Obama einengt, so
       wiegen die Kosten der bedingungslosen Unterstützung Israels für die USA
       doch schwerer und schwerer. Kurz gesagt, die dauerhafte Integration Israels
       in seine arabisch-muslimische Umwelt könnte, in Abwesenheit eines
       schnellen, echten Friedensvertrags, auf den UN-Resolutionen und einer
       allmählichen Normalisierung der Beziehungen zur arabischen Welt beruhen,
       basierend auf dem Angebot des Beiruter Gipfels von 2002. Die Geschichte
       bringt, wie man weiß, solche Gelegenheiten nur selten wieder.
       
       ## Von wegen "Antisemitismus"
       
       Sich unter diesen Umständen für mehr internationalen Druck auf die
       israelische Regierung auszusprechen bedeutet nicht, ein Feind Israels zu
       sein, sondern dessen Freund. Das Spektrum möglicher Sanktionen reicht von
       einer temporären Suspendierung des Assoziierungsabkommens zwischen Israel
       und der EU bis zum Boykott von Produkten aus den israelischen Kolonien im
       Westjordanland, die nach internationalem Recht illegal sind.
       
       Und es wäre absurd, all jene als "Antisemiten" abzustempeln, die in
       Deutschland oder anderswo die gleichen Ideen vertreten wie jene "Neuen
       Historiker" in Israel, welche die Wahrheit über die Vertreibung der
       Palästinenser im Jahre 1948 ans Licht gebracht haben, jene Pazifisten, die
       gegen die Kolonisierung kämpfen, oder all jene israelischen
       Persönlichkeiten, die auf die Anerkennung eines palästinensischen Staates
       drängen.
       
       Dritte Frage: Tragen die Palästinenser die mindeste Verantwortung für die
       Shoah? Ein aktuelles Buch von Gilbert Achar zeigt, dass die überwiegende
       Mehrheit von ihnen am Kampf der Alliierten gegen Nazideutschland
       teilgenommen hat, während die Kollaboration des Muftis von Jerusalem und
       seiner SS-Legion, die ausschließlich aus Muslimen vom Balkan bestand, ein
       marginales Phänomen darstellte. Warum also sollen sie, 66 Jahre nach dem
       Zweiten Weltkrieg und 64 Jahre nach dem UN-Teilungsplan für Palästina,
       weiter damit fortfahren, die "Rechnung" für den Völkermord der Nazis zu
       bezahlen?
       
       Vierte Frage: Eine der universellen Lehren aus dem Völkermord der Nazis
       besagt, dass ökonomische, soziale, politische, nationale und moralische
       Ungerechtigkeiten den Nährboden jedes Krieges und jedes Genozids bilden.
       Rückschrittliche Kräfte benutzen das, um ihre Ziele zu erreichen. Den
       Palästinensern ihre Rechte zu verweigern und ihre Wünsche zu missachten:
       schafft das nicht die Voraussetzung für neue Tragödien, dort und hier?
       
       ## Sonst ein binationaler Staat?
       
       Das bringt mich zu meiner letzten Frage. Besteht die Aufgabe der Deutschen
       darin, die Politik der israelischen Regierung bedingungslos zu
       unterstützen, weil sie eine "kollektive Schuld" an der Shoah empfinden -
       ein absurdes und gleichzeitig bequemes Konzept, denn wenn alle schuldig
       sind, ist es keiner persönlich. Oder bestünde sie nicht darin, diese zu
       kritisieren oder gar zu sanktionieren mit dem Ziel, die letzte Chance auf
       eine Zweistaatenlösung des Konflikts zu wahren?
       
       Die aktuelle Blockade, für die die israelische Regierung die größte
       Verantwortung trägt, sowie die aktuellen Kräfteverschiebungen werden sonst
       zweifellos zu einem binationalen Staat führen, wie ihn zahlreiche
       zionistische und nicht-zionistische Denker seit den 30er-Jahren gefordert
       haben.
       
       Die "moralische Aufgabe" für das vereinigte Deutschland besteht meiner
       Meinung nach darin, die Anführer und die israelische Bevölkerung dazu
       aufzurufen, entweder die letzte Chance für eine Zweitstaatenlösung zu
       ergreifen oder die Perspektive eines binationalen Staats zu akzeptieren.
       
       Deutschland hat seinen Platz im Konzert der Nationen eingenommen, indem es
       sich mutig und ohne falsche Scham seiner Vergangenheit gestellt hat - im
       Unterschied zu Österreich und vielen anderen europäischen Ländern, wo die
       Kollaboration mit der Nazi-Besatzungsmacht und dem Völkermord teilweise
       tabu geblieben ist.
       
       Kurz gesagt basiert seine "Erlösung" auf der Akzeptanz und der Verteidigung
       des internationalen Rechts, die es ihm erlaubt haben, in der Mitte der
       Weltgemeinschaft eine aktive Rolle zu spielen. Was aber bleibt von diesen
       Prinzipien, wenn im Nahen Osten eine zynische Politik des doppelten
       Standards Anwendung findet? Jenseits von Israel und Palästina geht es in
       dieser Debatte darum auch um die Zukunft Deutschlands.
       
       1 Sep 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominique Vidal
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA