# taz.de -- Debatte Vereinigtes Europa: Der deutsche Europäer
       
       > Gerade die Krise zeigt, wie sehr wir die Vereinigten Staaten von Europa
       > brauchen. Nicht zuletzt auch, um den deutschen Wohlstand zu halten.
       
 (IMG) Bild: Der Fluchtweg sollte in Richtung Europa gehen, nicht von ihm weg.
       
       Kleines Identitätsexperiment: Auf die Frage "Where are you from?" während
       der Reise durch die USA antwortete ich: "Berlin, Europe." Kurze
       Ratlosigkeit beim Frager. "Du meinst Berlin in Deutschland?"
       
       Nicht ganz. Berlin in Europa. Ein gutes Gefühl im Gespräch - zumindest
       testweise. Aber irgendwie stimmt diese Herkunftsbezeichnung nicht. Zu
       allererst bin ich Deutscher. Das einzuräumen habe ich lange gebraucht als
       Sohn eines Weltkrieg-II-Soldaten, welcher persönlich in Polen und
       Frankreich einmarschiert ist.
       
       ## Kleinkram Deutschland
       
       Und jetzt will man uns dieses neue, unbelastetere Deutschsein schon wieder
       nehmen, unsere Identität auflösen in einem Größeren? Wir sollen uns auf den
       Weg begeben in die Vereinigten Staaten von Europa, hat Ministerin Ursula
       von der Leyen unlängst postuliert. Und auch in Intellektuellenkreisen wird
       dieser Gedanke diskutiert. 
       
       Welchen Sinn aber hat diese Idee - gerade jetzt, da Europa unter der
       Schuldenkrise beinahe in die Knie geht? Oberflächlich mag sich von der
       Leyen erhoffen, die verschwenderischen Griechen deutsche Sparsamkeit lehren
       zu können. Aber auch von solch euro-nationalistischen Motiven abgesehen
       treibt die Schuldenkrise die europäische Integration voran. Der
       Stabilisierungsfonds EFSF gibt längst gemeinsame europäische Staatsanleihen
       heraus, die Union und FDP noch verhindern wollen.
       
       Und weitere Schritte einer supranationalen Finanzpolitik werden folgen.
       Staaten mit einheitlicher Währung, die sich gemeinsam verschulden, müssen
       ihre Schulden auch gemeinsam reduzieren. Das kann ein europäischer
       Finanzminister mit eigenen Abgesandten in den 17 Euro-Hauptstädten viel
       effektiver als der heute regierende Rat der nationalen Finanzminister, die
       im Konfliktfall lieber ein gemeinsames Foto machen als harte Entscheidungen
       zulasten eines Mitgliedslandes zu treffen. Aber brauchen wir wirklich mehr
       Europa? Was würde das bringen - jenseits der Schuldenkrise?
       
       Als Deutscher denkt man intuitiv, wir seien eine große Nummer. Gewiss sind
       Porsches, Panzer und Fotovoltaik-Module aus hiesiger Produktion überall
       gefragt. Trotzdem: Wenn ein deutscher Wirtschaftsminister bei irgendeiner
       internationalen Tagung etwas sagt, hören ihm vielleicht die Letten zu. 80
       Millionen Einwohner, 2.500 Milliarden Euro Wirtschaftsleistung? Kleinkram
       in den Augen der Chinesen, Inder und Brasilianer. Diese Haltung der
       Newcomer mag großkotzig sein, ist in der Tendenz aber berechtigt.
       
       ## Europäer aus reinem Egoismus
       
       Eine ganz andere Rolle spielen wir als Teil der Europäischen Union: 500
       Millionen Einwohner, 12.700 Milliarden Euro gemeinsames
       Bruttoinlandsprodukt. Die EU ist die größte Wirtschaftsmacht der Welt. Wenn
       der europäische Wirtschaftskommissar beim Treffen der G-20-Gruppe im Namen
       der 27 Staaten sagen würde: Nein, so läuft das nicht, könnten auch die USA
       und China nicht daran vorbei.
       
       Heute kommt das zu selten vor. Im Kreis der G 20 sitzen die Deutschen, die
       Franzosen, die Italiener, die Briten und widersprechen sich gegenseitig bei
       jedem zweiten Tagesordnungspunkt. Würde Europa nur durch einen
       Repräsentanten vertreten, hätte seine Stimme viel größeres Gewicht.
       
       Das liegt in meinem Interesse - und bildet den Kern der Chiffre "Vereinigte
       Staaten von Europa": Sie kann die persönlichen Interessen der Bürger wieder
       mit einer Idee von Europa verknüpfen. Dieses positive Bild besteht darin,
       unser vergleichsweise gutes Leben aufrechtzuerhalten, indem wir unsere
       Wohlstandsproduktion schützen. Einfach gesagt: Ein guter Teil der neuen
       Elektroautos muss in Europa hergestellt werden, nicht in China oder Indien.
       Mit Wirtschaftsimperialismus oder Hartherzigkeit gegenüber armen Ländern
       hat das nichts zu tun.
       
       Es geht darum, unsere Lebensqualität zu sichern und in den kommenden
       Jahrzehnten nicht allzu viel einzubüßen. Politische Macht bedeutet
       wirtschaftliche Macht. Diese wiederum bringt Gewinne, Steuereinnahmen und
       Sozialbeiträge. Das heißt: Als Vereinigte Staaten von Europa können wir uns
       ein höheres Sozialniveau leisten. Wir haben mehr Geld für Kitas, Schulen,
       Krankenkasse und Arbeitslosenversicherung.
       
       ## Der Mindestlohn wird kommen
       
       Das gilt grundsätzlich - eine wichtige Einschränkung. Heute suggerieren
       Nationalregierungen und EU-Kommission oft, sie wollten soziale Sicherheit
       für alle Europäer, betreiben in Wirklichkeit aber Deregulierung. Das
       braucht nicht so zu bleiben. Beispiel Mindestlohn: Viele unserer Nachbarn
       haben eine gesetzliche Lohnuntergrenze, wir nicht. Doch auch Deutschland
       wird allmählich europäisch. Jetzt fordern schon Leute in der CDU einen
       Mindestlohn für alle. Er wird kommen. Europa zivilisiert Deutschland. Das
       ist gut für die Beschäftigten hier.
       
       Doch die Bürokratie von Brüssel - wollen wir davon etwa auch mehr? Der
       Moloch der Euro-Beamten, so weiß die Öffentlichkeit, macht die Gurke gerade
       und vereinheitlicht die Größe des Hühnereis. Er plant das, was nicht
       geregelt werden muss, und lässt liegen, was man erledigen sollte, kurz: Er
       sitzt den Menschen im Nacken, anstatt sie zu unterstützen.
       
       Solche Vorurteile sind Indizien für die Fehlsteuerung der EU. Die
       Verwaltung ist zu stark. Es fehlt eine effektive gemeinsame Regierung, die
       die Beamten anweist, sich um die wichtigen Dinge zu kümmern. Außerdem
       mangelt es der EU an demokratischer Legitimierung. Wenn die Vereinigten
       Staaten von Europa eine Zukunft haben sollen, dann nur mit vollen Rechten
       des Parlaments in Straßburg. Denn solange die Bürger nicht die Gewissheit
       haben, auf europäischer Ebene wirksam vertreten zu werden, wollen sie ihren
       Einfluss lieber in den nationalen Parlamenten konservieren und
       widersprechen dem Machtzuwachs europäischer Institutionen.
       
       Heute mögen die Vereinigten Staaten von Europa unrealistisch erscheinen.
       Aber als mein Vater zusammen mit anderen europäischen Föderalisten 1950 die
       Schlagbäume an der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich abbaute,
       konnte er sich auch nicht vorstellen, dass man heute von Helsinki nach
       Lissabon ohne Pass reisen kann.
       
       5 Sep 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hannes Koch
       
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