# taz.de -- Neuanfang in Libyen: Chaos oder Chance?
       
       > In Libyen vermischen sich alte Strukturen und revolutionäre,
       > islamistische und säkulare. Geht das gut? Sicher ist: Die Menschen auf
       > den Straßen haben zu viele Waffen.
       
 (IMG) Bild: Die Wut der vielen bewaffneten jungen Männer könnte im Chaos münden. Rebellen am Checkpoint zwischen Tarthouna und Bani Wali.
       
       TRIPOLIS taz | "Die Wahrscheinlichkeit, dass Gaddafi zurückkommt, ist so
       groß wie die Möglichkeit, dass er mit seiner Zunge sein Ohr erreicht",
       erklärte vergangene Woche ein Einwohner von Tripolis.
       
       Doch während man sich sicher sein kann, dass es nach 42 Jahren mit dem
       Regime von Muammar al-Gaddafi endgültig vorbei ist, besteht die Zukunft des
       Landes aus vielen Unbekannten. Wenn die letzten Kämpfe um Sirte und einige
       kleinere Wüstenstädte vorbei sind, bleibt vor allem die Frage, wie das
       politische Vakuum ausgefüllt wird.
       
       In Libyen geht es nicht nur darum, ein Regime und einen Staat zu trennen
       und den Staat mit neuen Vorrausetzungen weiterzuführen. In Libyen muss der
       Staat von Grund auf neu aufgebaut werden. Ein Szenario, das man auf jeden
       Fall verhindern möchte, ist, dass sich mit dem Ende des Regimes der ganze
       Staat auflöst.
       
       Am besten lässt das sich an der Frage der künftigen Armee zeigen. Während
       in Tunesien und in Ägypten etwa die Armee die Übergangszeit bis zu den
       Wahlen, manchmal mehr schlecht als recht, aber immerhin organisiert, muss
       in Libyen eine Armee, wie viele andere staatliche Institutionen, völlig neu
       aufgebaut werden.
       
       Einziges selbsternanntes Gremium zur Überbrückung bis zu den Wahlen ist der
       Nationale Übergangsrat der Rebellen, der nun endgültig von seinem
       bisherigen Zentrum Bengasi nach Tripolis umziehen will. Erst hatte er sich
       als politisches Gesicht der Rebellion präsentiert, inzwischen ist er von
       zahlreichen Staaten diplomatisch anerkannt. Dieser Übergangsrat hat einen
       Vorteil: er wurde nicht erst mit dem Sturz des Diktators, sondern bereits
       ein halbes Jahr zuvor mit dem Beginn des Aufstandes in Bengasi gegründet.
       
       Sechs wertvolle Monate, um miteinander das Regieren auszuprobieren. Dabei
       wurde der Übergangsrat, anfangs von ein paar Anwälten in Bengasi gegründet,
       schnell auf eine breite Basis gestellt. Vertreter des alten Regimes finden
       sich ebenso darin wie Stammesfürsten oder bisher unbekannte Repräsentanten
       des neuen Faktors in der libyschen Politik: den zahlreichen jungen Leuten,
       die ihre Arbeitsplätze verlassen und als ersten politischen Akt ihres
       Lebens zur Waffe gegen Gaddafi gegriffen haben. Die Vertreter des alten
       Regimes waren wichtig, um als Überläufer Signale zu setzen und das Regime
       Gaddafi von innen her zu zersetzen.
       
       ## Konfliktlinien werden sichtbar
       
       Eine Rechnung, die offensichtlich aufgegangen ist, denn die große Schlacht
       um Tripolis ist ausgeblieben. Die Neulinge in der Politik, waren wichtig,
       um den Rebellen Legitimität zu verleihen. Dazwischen gibt es nichts, denn
       Gaddafi hat keine Opposition zugelassen.
       
       Was bisher ein großer Vorteil war, die Zusammenarbeit zwischen Alt und Neu,
       wird nun schnell zur Zerreißprobe für den Übergangsrat werden. Nachdem
       zunächst die Wiederherstellung der Infrastruktur im Fokus stand, könnte
       sich der Kampf zwischen Alt und Neu ziemlich schnell in die Reihen der
       Übergangsregierung selbst verlagern.
       
       Ägypten und Tunesien haben in den ersten Monaten nach dem Sturz des
       Diktators mehrmals ihre Regierungen gewechselt, und es gibt keinen Grund,
       warum das in Libyen anders verlaufen soll. Die Bruchlinien werden auch in
       Tripolis zwischen jenen verlaufen, die die alte Zeit teilweise
       herüberretten wollen, und jenen, die einen völligen Bruch fordern. Das
       gehört inzwischen zum post-revolutionären arabischen Standard.
       
       Und auch eine weitere politische Nahtstelle wird in Libyen, wie in Ägypten,
       zum Tragen kommen: die zwischen Islamisten und Säkularisten, die eine
       Trennung zwischen Religion und Staat fordern. Manchmal vermischen sich auch
       die Grenzen von Alt und Neu, von Islamisten und Säkularisten. Abdel Hakim
       Belhadsch, der eine militante islamistische Gruppe geführt hatte, von der
       CIA an Gaddafi ausgeliefert wurde und heute als Militärchef von Tripolis
       agiert, rief den Übergangsrat zum Rücktritt auf, weil er zu sehr aus Resten
       des alten Regimes bestünde.
       
       Ismail al-Salabi von der Rebellenmiliz "17. Februar" in Bengasi fordert den
       Rücktritt des Chefs des Exekutivkomitees des Übergangsrates und damit des
       de facto Regierungschefs Mahmud Dschibril, wettert gegen die Säkularisten
       und warnt davor, dass das frei gewordene Vermögen des Gaddafi-Regimes in
       die Hände der gleichen Leute gegeben wird, die es bereits früher verwaltet
       haben.
       
       Ist die neue Zeit in Staaten wie Tunesien und Ägypten von einem gewissen
       Grad an Chaos gekennzeichnet, dürfte das für Libyen aufgrund der
       verschärften Umstände umso mehr gelten. Das gilt nicht nur für
       Streitigkeiten im Übergangsrat. Es gibt viele Möglichkeiten, wie dieses
       Chaos in Libyen aussehen könnte. Ohne eine Armee, die für Ordnung sorgt,
       könnten die Menschen selbst Rache an den Vertretern des alten Regimes
       nehmen. Jeder in Libyen weiß, wer im alten Regime für was zuständig war.
       
       ## Gefahr der Selbstjustiz
       
       Im Suq-al-Jumaa-Viertel in Tripolis zeigte vergangene Woche ein
       Universitätsprofessor seinen Garten. Sein Nachbar ist ein hochrangiger
       Offizier von Gaddafis Miliz. Ihm wurde jetzt ein Ultimatum gestellt, sein
       Haus zu verkaufen und wegzuziehen, sonst würde die Nachbarschaft das auf
       ihre eigene Art erledigen und das würde der Offizier nicht überleben. Dann
       deutete der Professor in die andere Richtung. Dort wohne jener Mann, der
       Spitzelberichte geschrieben habe. Den werde man anzeigen, sobald die
       Gerichte arbeiten, kündigte der Professor an.
       
       Offene Rechnungen gibt es viele, und die Frage ist, ob diese in Eigenregie
       oder vor Gericht bezahlt werden.
       
       Dann gibt es noch das Problem der überall sichtbaren bewaffneten jungen
       Männer, die sich selbst zu Recht als die Träger des Aufstandes sehen. Von
       ihnen geht, wie von den Menschen auf dem Tahrirplatz, die größte
       Legitimität aus. Sie haben die Opfer gebracht und wollen mitbestimmen, wie
       es weitergeht. Sie haben kaum Vorstellungen, wie Politik gemacht wird oder
       wie man eine Partei gründet, aber sie werden sich nicht an die Seite
       drängen lassen.
       
       Der Faktor Straße wird wie in Tunesien und in Ägypten eine wichtige Rolle
       für die zukünftige Politik spielen. Die Gefahr in Libyen: hier sind die
       Akteure der Straße bewaffnet. Der Streit zwischen Alt und Neu könnte leicht
       bewaffnete Formen annehmen. Viel hängt nun von der Geschicklichkeit des
       Übergangsrates ab. Sicherlich lassen sich die Waffen nicht über Nacht
       einsammeln.
       
       Aber viele Kämpfer werden früher oder später wieder an ihre Arbeitsstätten
       zurückkehren, der Rest muss in die künftigen Sicherheitsapparate und ins
       Militär integriert werden. Allerdings ließe sich dieser Prozess leicht
       sabotieren. Ein paar Anschläge und ein paar Aktionen einer Gaddafi-Guerilla
       und sofort würde der Ruf nach den bewaffneten Jugendlichen "zur
       Verteidigung der Revolution" laut.
       
       ## Libyen ist kein Bittsteller
       
       So viele Hürden das neue Libyen zu überwinden hat, so groß sind seine
       Möglichkeiten. Das Land ist kein Bittsteller gegenüber der internationalen
       Gemeinschaft. Zum Neuaufbau reichen zunächst die Milliarden im Ausland
       eingefrorener Gelder des alten Regimes. Wenn dann die Ölproduktion einmal
       anläuft, kann Libyen einen eigenständigen Boom zustande bringen, von dem
       auch seine Nachbarn profitieren können. Denn wahrscheinlich wird der
       Wiederaufbau Libyens auch zahlreiche ägyptische und tunesische
       Arbeitskräfte absorbieren.
       
       Dabei wird es für Libyen auch darum gehen, einen neuen Platz in der
       arabischen Welt zu finden. Seine ersten natürlichen Partner werden dabei
       seine "revolutionären" Nachbarn Tunesien und Ägypten sein.
       
       Dass es jetzt von der algerisch-tunesischen Grenze bis zum Suezkanal ein
       zusammenhängendes Territorium gibt, in dem eine neue arabische Welt mit all
       ihren Schwierigkeiten aufgebaut wird, kann man kaum überschätzen. Die
       Schnittstelle zwischen den Maghreb-Staaten und dem ostarabischen Raum löst
       sich damit auf. Das afrikanische Element wird gegenüber dem ostarabischen
       Raum in der arabischen Welt verstärkt.
       
       Und es werden andere arabische Länder wie Saudi-Arabien sein, die versuchen
       werden, diesen Prozess zu torpedieren. Ähnlich wie in Ägypten wird
       Saudi-Arabien versuchen, über radikale islamistische Elemente und
       Salafisten in Libyen an Einfluss zu gewinnen, um die arabische
       Aufstandsbewegung auszubremsen.
       
       Der Westen sollte sich davor hüten, jetzt seine Beute für den
       Nato-Militäreinsatz einholen zu wollen. Selbstverständlich wird sich die
       Geschäftswelt in Tripolis die Klinke in die Hand geben, um von den
       Ressourcen des Landes und lukrativen Wiederaufbauprojekten zu profitieren.
       
       ## Von Einmischung absehen!
       
       Von jeder politischen Einmischung sollten Europa und die USA allerdings
       Abstand nehmen. Der Prozess des politischen Aufbaus sollte nicht durch
       ausländische Einmischung seine Legitimität verlieren. Je offener die
       Einmischung von außen ist, desto mehr untergräbt sie die innere Autorität,
       die jetzt wachsen muss.
       
       Es ist verwegen zu glauben, man könne den Libyern jetzt Bedingungen
       diktieren. Wenn die jetzigen Versorgungsengpässe überwunden und libysche
       Gelder im Ausland freigegeben sind und die Ölproduktion anläuft, kann man
       den Libyern kaum mehr auferlegen, wo es langgehen soll. Abgesehen davon
       würde jeder Versuch von außen, das innere Kräftegleichgewicht zu verändern,
       die Stabilität gefährden, die der Westen braucht, um mit Libyen ins
       Geschäft zu kommen und von seinen Ressourcen zu profitieren.
       
       Schon jetzt wird eine Polarisierung in Libyen rund um den
       Nato-Militäreinsatz deutlich. Indem sie sich von ihm distanzieren, wittern
       gerade islamistische Gruppierungen ihre Chance.
       
       Der beste Rat für Paris, London und Washington ist, der Verlockung, jetzt
       ein politisch maßgeschneidertes Libyen aufbauen zu wollen, fern zu bleiben.
       Der Westen wird sich noch wundern, wie stark unter den Libyern der
       Patriotismus und der arabische Nationalismus sind sowie das weitverbreitete
       Gefühl, ihr Land trotz des militärisch entscheidenden Nato-Einsatzes nicht
       an den Westen auszuverkaufen.
       
       9 Sep 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Karim Gawhary
 (DIR) Karim El-Gawhary
       
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