# taz.de -- Kretschmann über die Grünen: "Keine schwarz-grüne Koalition"
       
       > Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann über Stuttgart
       > 21, zukünftige Koalitionspartner seiner Partei und Probleme mit der
       > Glaubwürdigkeit.
       
 (IMG) Bild: Amüsiert über den Kult um seine Person: Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann.
       
       taz: Herr Kretschmann, Sie regieren jetzt fast ein halbes Jahr - Zeit für
       eine schnelle Bilanz. Ist Regierung eigentlich Mist? 
       
       Winfried Kretschmann: Nein. Regieren ist eine große und spannende
       Herausforderung.
       
       Blödes Gefühl, wenn Grüne von Stuttgart 21-Gegnern auf Demonstrationen als
       "Lügenpack" beschimpft werden? 
       
       Das ist schon eine harte Ansage. Aber ich habe von diesem Ruf schon nichts
       gehalten, als er noch gegen meinen CDU-Vorgänger Stefan Mappus gerichtet
       war.
       
       Haben Sie schon einen Freund verloren? 
       
       Gott sei Dank noch nicht.
       
       Ihr größter Sieg? 
       
       Dass ich im Bundesrat kräftig daran mitwirken konnte, die Bundesregierung
       zum stufenweisen Atomausstieg zu zwingen.
       
       Ihre größte Niederlage? 
       
       Dass wir den Stresstest zu Stuttgart 21 nicht eindeutig gewonnen haben.
       
       Nervt Sie der Kult um Kretschmann? 
       
       Nein, er amüsiert mich eher.
       
       Ihre Partei bereitet sich im Bund aufs Regieren vor. Sehen Sie - der im
       Land immer mit Schwarz-Grün geliebäugelt hat - diese Option für 2013? 
       
       Nein. Meine Prognose ist: 2013 wird es keine schwarz-grüne Koalition geben.
       
       Warum nicht? 
       
       Mein Anliegen für eine mögliche Koalition mit der CDU war immer, Ökologie
       und Nachhaltigkeit mit einer wirtschaftsnahen Partei in der Ökonomie zu
       installieren - und damit in der Mitte der Gesellschaft. Das tun wir jedoch
       längst, und zwar an der CDU vorbei. Denn die Unternehmen sind bereits viel
       weiter, als es diese Partei ist. Neulich war ich ja auf der Internationalen
       Automobil-Ausstellung...
       
       ...wo man den Mann, der öffentlich weniger Autos fordert, sicher herzlich
       begrüßt hat. 
       
       Ach, darüber sind die längst weg. Was aber auffiel ist, dass die
       Unternehmen inzwischen Autos mit ökologischem Design in den Vordergrund
       rücken, anders als noch vor ein paar Jahren. Die Wagen sehen aus, als kämen
       Sie aus Science-Fiction-Heften meiner Kindheit. Die Unternehmen haben -
       auch in anderen Branchen und auf breiter Front - begriffen, dass grüne
       Produkte riesige Chancen auf dem Weltmarkt eröffnen. So weit ist die CDU
       noch nicht.
       
       Das heißt, die Realität hat diese Koalition überholt? 
       
       Ja. Die CDU hat den Anschluss an viele moderne Entwicklungen einfach
       verloren, sie ist orientierungslos. Auch Stuttgart 21 - wo Mappus einen
       verbohrten, bürgerfernen Kurs fuhr - ist ein Beispiel dafür. Ich denke,
       Frau Merkel und ihre Partei werden 2013 in der Opposition landen. Da
       gehören sie auch hin. Denn Opposition ist nicht Mist, sondern die Chance,
       sich neu zu orientieren. Natürlich wird es auch weiter schwarz-grüne
       Koalitionen geben, wenn es anders nicht reichen sollte. Aber eben nur dann.
       
       Die erfolgsverwöhnten Grünen haben in Berlin gerade einen kräftigen Dämpfer
       bekommen. Was haben sie dort falsch gemacht? 
       
       Aus meiner Sicht hätte der Zuwachs der CDU, vor allem im Westen der Stadt,
       nicht sein müssen. Dort lebt das klassische Bürgertum, diese Wähler hätten
       wir möglicherweise besser in den Blick nehmen müssen. Aber eigentlich kann
       ich die Berliner Situation zu wenig beurteilen, die Stadt tickt ganz anders
       als Baden-Württemberg.
       
       Muss nicht eine Lehre lauten: Wenn sich Grüne überschätzen, werden Sie
       bestraft? 
       
       Ich habe immer gesagt, das Amt muss zum Mann kommen. Meine Linie muss aber
       auch nicht in jeder Situation richtig sein. Mir ist in den vergangenen
       Monaten, die für meine Parteifreundin Renate Künast sicher nicht einfach
       waren, vor allem eines aufgefallen: Die Umfragen machen mehr Wahlkampf, als
       alle Parteien zusammen.
       
       Was heißt das? 
       
       Diesen ständigen Wasserstandsmeldungen sind Sie als Politiker machtlos
       ausgeliefert. Da gilt ein sich selbst verstärkendes Prinzip: Wer absackt,
       wird von den Medien runtergeschrieben, die Leute wollen auf der Seite der
       Sieger stehen - und ähnliche Phänomene. Entweder man hat einen Lauf oder
       eben nicht. Für Wahlkämpfer ist es fürchterlich, wenn die Umfragen
       runtergehen, ich habe das ja selbst oft erlebt. Vor allem braucht man eine
       sehr, sehr große Gelassenheit.
       
       Die Piraten haben ein sensationelles Ergebnis eingefahren. Sind sie für die
       Grünen gefährlich? 
       
       Ich halte die Piratenpartei für ein klassisches Protestphänomen, wenn auch
       ein durchaus pfiffiges. Dafür gibt es eindeutige Belege: Wer kostenlose
       S-Bahn-Fahren fordert, gleichzeitig die Verschuldung seiner Stadt nicht
       kennt und trotzdem von Vielen gewählt wird, profitiert von genervten
       Protestwählern. Muss ja auch nicht schlecht sein, man kann ja froh sein,
       dass der Protest sich in einer solchen, und nicht in einer
       rechtspopulistischen Richtung manifestiert.
       
       Wie wichtig ist der Erfolg Ihrer Regierung für die Chance auf Rot-Grün im
       Bund? 
       
       Sehr wichtig. Es ist gar keine Frage, dass wir unter genauer Beobachtung
       stehen. Insofern tragen wir eine große Verantwortung.
       
       Wie sollen sich die Grünen für eine Bundesregierung aufstellen? Die Partei
       diskutiert etwa, ob sie den Spitzensteuersatz von 45 auf 49 Prozent anhebt. 
       
       Ich bin für einen Spitzensteuersatz von 49 Prozent. Allerdings unter der
       Voraussetzung, dass die Grünen nicht gleichzeitig noch andere Steuern
       erhöhen oder einführen, z.B. eine befristete Vermögensabgabe oder eine
       Vermögenssteuer. Steuererhöhungen müssen wir sorgfältig gegeneinander
       abwägen, sonst treffen sie dieselben Kohorten zu stark.
       
       Müssten die Grünen nicht gerade diese Kohorten - nämlich Vermögende - in
       diesen Zeiten stärker ins Visier nehmen? 
       
       Die trifft man mit einem hohen Spitzensteuersatz auch. Eine Vermögensabgabe
       oder -steuer halte ich problematisch. Sie ist extrem aufwändig zu erheben.
       Ihre Einführung würde mehr Aufwand, mehr Personal und letztlich hohe Kosten
       in den Ämtern bedeuten, das trifft die Länder. Für eine Erhöhung der
       Spitzensteuer braucht man keine einzige Stelle mehr.
       
       Die Grünen wollen im kommenden Jahr klären, welche Ideen ins Programm
       kommen und welche zu teuer sind. Was muss an erster Stelle stehen? 
       
       Wir müssen in zwei Hauptfeldern investieren: in Bildung und ökologische
       Modernisierung. Der demographische Druck ist enorm, deshalb müssen wir das
       Bildungssystem umgestalten. Dabei brauchen wir die Begabung jedes Kindes.
       
       Ökologische Modernisierung wollen Sie auch in Ihrem Bundesland
       vorantreiben. Was sind Ihre Erfahrungen? 
       
       Es tut sich zwar viel in der Wirtschaft, bei uns und in der ganzen
       Republik. Aber eine Erfahrung aus meiner kurzen Regierungszeit ist, dass
       alles viel, viel länger dauert, als ich gedacht hätte. Dabei müssen wir
       aufs Tempo drücken: Das Zeitfenster für einen dramatischen Klimawandel ist
       noch einmal kleiner, als es mal prognostiziert wurde.
       
       Ein weiteres dickes Brett ist der Dauerstreit um S21. Im November steht die
       Volksabstimmung an, das hohe Quorum ist allerdings kaum zu erfüllen. Ist
       die Abstimmung eine Farce? 
       
       Nein. Diese Regierung hat die Entscheidung dem Volk übertragen - eine
       andere hätte einfach gebaut. Leider konnten wir die CDU nicht dafür
       gewinnen, das Quorum abzusenken. Politik ist eben die Kunst des Möglichen.
       
       Auch Grüne sagen hinter vorgehaltener Hand: Hoffentlich ist das bald
       vorbei, wir wollen wieder über anderes reden. Trügt der Eindruck? 
       
       Selbstverständlich treten bei so einem Konflikt Ermüdungserscheinungen ein.
       Das ist ja überhaupt nicht verwunderlich. Wir haben aber, wenn wir
       verlieren sollten, den Konflikt überhaupt nicht von der Backe. Nehmen wir
       an, Stuttgart 21 würde gebaut und es tritt alles ein, was wir jetzt als
       Risiko prognostizieren - dann haben wir richtig Stress.
       
       Sie haben im Wahlkampf versprochen, das Land zahle keinen Cent mehr für das
       Projekt, jetzt mussten Sie überweisen. War das ein Fehler? 
       
       Das war das einzige Mal, dass ich das Maul in der Opposition zu voll
       genommen habe. Deshalb habe ich hier auch ein Glaubwürdigkeitsproblem. Wir
       gehen davon gestützt durch ein Gutachten des Staatsrechtlers Hans Meyer
       aus, dass die Mischfinanzierung Land/Bund verfassungswidrig ist, die SPD
       beruft sich auf ein Gegengutachten. Eine klassische Pattsituation.
       
       Finanzierung falsch eingeschätzt, Quorum nicht abgesenkt, ihr
       Verkehrsminister wollte die Zuständigkeit für den Bahnhofsbau gleich ganz
       abgeben. Welche Note geben Sie den Grünen bei S21 bisher? 
       
       Befriedigend. Die Frage ist nur, ob das mit der Schulnote so passt. Es ist
       ein Irrtum zu glauben, man kann in der Politik alles auf Bestnoten hin
       planen. Es gehört auch immer Fortune dazu.
       
       S21-Gegner diskutieren, ob sie überhaupt an der Abstimmung teilnehmen
       sollen. Verstehen Sie ihren Frust? 
       
       Nein. Solche Torheiten können den Erfolg zunichte machen. Würde sich eine
       solche Haltung breit machen, wäre das fatal. Wir würden uns damit um
       unseren Sieg bringen, den wir bei S21 schon eingefahren haben: Nämlich den,
       dass dieser Konflikt die ganze Republik fundamental geändert hat: In
       Zukunft wird kein Großprojekt mehr einfach von oben nach unten
       durchgedrückt werden können.
       
       Erwarten Sie von der Protestbewegung, dass sie das Votum der Bürger
       akzeptiert? 
       
       Genauso wie von den Befürwortern, wer das nicht tut, hat direkte Demokratie
       noch nicht richtig verstanden.
       
       Die S21-Gegner sollen dann aufhören zu demonstrieren? 
       
       Ich sähe dann keinen Sinn mehr in Demonstrationen. Wogegen denn?
       
       Gegen einen aus Gegner-Sicht immer noch unsinnigen Bahnhof? 
       
       Man kann natürlich ewig weiterdiskutieren. Und ich persönlich werde den
       unterirdischen Bahnhof nicht plötzlich für gut und richtig halten, sollte
       sich eine Mehrheit dafür aussprechen. Aber irgendwann müssen Entscheidungen
       gelten, und wann, wenn nicht dann, wenn das Volk gesprochen hat.
       
       22 Sep 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nadine Michel
 (DIR) Ulrich Schulte
       
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