# taz.de -- Trendsport Klettern: Es geht hoch hinaus
       
       > Immer mehr Kletterfreunde suchen in der Stadt den Weg in die Vertikale.
       > An einigen Routen in Berlin ist Schlange stehen angesagt.
       
 (IMG) Bild: Beim Klettern im Mauerpark.
       
       Um den Ehrentitel höchster Punkt Berlins konkurrieren der Große Müggelberg
       und der nach Kriegsende aus Trümmern aufgeschüttete Teufelsberg: zwei
       gerade einmal knapp 115 Meter hohe Erhebungen. Umso verwunderlicher, dass
       im Berliner Flachland ein ursprünglich alpiner Sport boomt: Kletterfreunde
       ziehen sich an Brücken, Mauern und Türmen empor. Noch in den 80er-Jahren
       erkundete eine Handvoll eingefleischter Bergliebhaber das Stadtgebiet auf
       eigene Faust nach neuen Kletterrouten. Heute wächst die Szene so rasch,
       dass das Angebot kaum mithalten kann.
       
       "Oah!" Kaum hat Alex Melnikov erschrocken aufgeschrien, da saust er schon
       hinab. Zufall oder nicht? Der Name der Kletterroute lautet Carton de
       Blamage. Nur gut, dass am Boden Kumpel Jacob Niemann sorgfältig sichert,
       die beiden Sportler sind an ihren Gurten per Seil miteinander verbunden.
       Sekunden später baumelt der durchtrainierte Melnikov in knapp zehn Meter
       Höhe vor der grauen Wand und unternimmt den nächsten Anlauf nach oben. Der
       22-Jährige, eigentlich ein furchtloser Bergabenteurer, und Niemann, ein
       typischer Sportkletterer und gleichzeitig Jugendleiter der ambitionierten
       BÄRK-Klettergruppe, sind am "Bunker" unterwegs. Die Anlage im Weddinger
       Humboldthain, einst einer von drei Flakbunkern Berlins, ist in der Szene
       über die Stadtgrenzen hinaus bekannt.
       
       Trotz versuchter Sprengung und teilweiser Verschüttung ragt die Nordseite
       des Bauwerks monströs gen Himmel. Etwas verwunschen liegt sie von
       spätsommerlichem Dickicht und Bäumen umwachsen in der Nähe des
       Rosengartens, nicht weit vom S-Bahnhof Gesundbrunnen. Wer hier klettert,
       weiß, was er tut. Anfänger sieht man keine. Die Routen werden teils durch
       Einschusslöcher aus dem zweiten Weltkrieg definiert, teils durch in die
       Wand gemeißelte Griffe. Ein Betonvorhang hat sich bei der Sprengung aus der
       Wand herausgeschoben.
       
       Die Nutzung der Anlage zu sportlichen Freizeitzwecken war lange umstritten.
       "Klettern verboten", lautet die mit etwas Fantasie noch lesbare, an die
       sogenannte Schattenwand gepinselte Botschaft, die vom Kampf um den Flakturm
       geblieben ist. Ein Kampf nicht zwischen Alliierten und Nazi-Deutschland,
       sondern zwischen abenteuerlustigen Kletter-Pionieren und einem um
       Sicherheit besorgten Senat.
       
       Schließlich war 1970 für Westberliner Berg- und Kletterfreunde der
       Kletterturm am Teufelsberg errichtet worden, deutschlandweit die erste
       künstliche Anlage dieser Art. Hier traf sich, wer für Bergwanderungen
       trainieren wollte. Noch dominierte die Idee vom technischen Klettern:
       Seile, Strickleitern oder Haken dienten als Hilfsmittel zur Fortbewegung.
       Der Kletterturm im Grunewald war ein kleiner Ersatzberg für die von den
       Alpen isolierten Berliner.
       
       Einer der ersten, der - angetrieben von seinem inneren Entdeckergeist -
       nach anderen urbanen Herausforderungen suchte, war Thomas Meier. Anfang der
       80er traf der gebürtige Berliner mit einer kleinen Gruppe Kletterpioniere
       auf den Bunker, mitten im Nirgendwo in Sichtweite zur Berliner Mauer. "Das
       war hier das Ende der Welt", so Meier, der 1977 als Elfjähriger seine
       Leidenschaft für das Klettern entdeckte. Seitdem ist Meier überall
       hochgeklettert, wo er winzige Ritze, Spalten oder Vorsprünge fand. Egal ob
       Olympiastadion oder der Molecule Man an der Elsenbrücke auf der Spree:
       Meier war schon mal oben.
       
       Am Bunker wurde das Klettern nach zähem Ringen 1987 unter der Obhut der
       Sektion Berlin des Deutschen Alpenvereins (DAV) legalisiert. Wie in der
       gesamten Bundesrepublik setzte sich in Berlin seitdem der Gedanke des
       freien Kletterns durch, wenn auch gegen anfangs etwas verhärtete Fronten,
       wie sich Meier erinnert: "Zuerst galten wir ja als Punks. Aber dann atmeten
       alle auf, dass das verknöcherte Konzept aufbrach." Technische Geräte werden
       beim freien Klettern nur noch zu Zwecken der Sicherung eingesetzt.
       Hilfsmittel zum Besteigen der Wand sind tabu.
       
       Für Sportkletterer stehen die Freude an der Bewegung und die Bewältigung
       von Herausforderungen im Vordergrund. Inzwischen ist der einstige
       Nischensport auf dem Weg zum Breitensport. Schulen, Jugendvereine und
       Universitäten haben sich eingeklinkt. In Parks und auf Kinderspielplätzen
       sind kleine Anlagen zu finden.
       
       In den letzten beiden Jahrzehnten wurden im gesamten Stadtgebiet vermehrt
       Klettertürme errichtet, dazu kommen kommerziell betriebene Kletterhallen.
       Seit einigen Jahren gewinnt insbesondere das Bouldern, also das Klettern in
       Absprunghöhe ohne Seil und Gurt, an Beliebtheit. Die Senatsverwaltung baute
       in Kooperation mit dem AlpinClub Ende der 90er in Hohenschönhausen und
       Marzahn zwei Klettertürme. Einer davon, der Monte Balkon, ist gleichzeitig
       recycelter Plattenbau, er besteht aus aufeinander geschichteten
       Balkonplatten.
       
       "Wer klettert, ist auf sich alleine gestellt. Es gilt die Herausforderung
       der Kletterwand zu suchen und zu bewältigen. Wir brauchen Vertrauen in die
       eigenen Fähigkeiten und die Sicherung durch den Seilpartner. Beides ist gut
       für die Entwicklung der Persönlichkeit", meint Daniel Joram, zweiter
       Vorsitzender des DAV und selbst Ausbilder. Allerdings sei es allein mit der
       Errichtung von Klettertürmen nicht getan, entscheidend sei "eine fundierte
       Grundausbildung und eine solide Betreuung der Anlagen", so Joram, der
       insbesondere Abstürzen und Unfällen vorbeugen will. Seit 1992 klettert er
       in Berlin: "Erstaunlich ist, dass es immer weiter boomt. Irgendwann würde
       man ja einen Status quo erwarten."
       
       Aber die Beliebtheit des Sports sorgt nicht bei allen für Begeisterung:
       Denn während am Bunker Fortgeschrittene und Könner weitestgehend unter sich
       sind - hohe Haken und schwierige Einstiege schrecken Anfänger ab -, tummeln
       sich an zentralen Kletterorten wie dem Kegel auf dem Friedrichshainer
       RAW-Gelände oder der Schwedter Nordwand im Mauerpark an schönen Tagen die
       Leute. An einigen Routen ist Schlange stehen angesagt. Nicht Wenige sind
       daher der Meinung, dass das Angebot mit der Entwicklung nicht mitgehalten
       hat. Immerhin: Das Land steht offenbar einem Ausbau der
       Kletterinfrastruktur grundsätzlich positiv gegenüber. Zudem hat der DAV
       kürzlich im Bezirk Mitte mit dem Bau eines neuen Kletterzentrums am
       Poststadion begonnen. Gerade ambitionierte Kletterer und engagierte Trainer
       wie Jürgen Lembcke, Nachwuchstreiner bei den BÄRK, erhoffen sich einiges
       von der neuen Halle, die im nächsten Jahr eröffnet werden soll.
       
       Und selbst Alex Melnikov, der eigentlich tagelange Märsche im Hochgebirge
       liebt, war überrascht, dass aus einem Bergabenteuer auch ein Stadtabenteuer
       werden kann: "Erst hab ich ja gedacht, was soll das denn. Aber seitdem
       Jacob mich vor einiger Zeit das erste mal zum Bunker mitgenommen hat,
       klettere ich auch begeistert in der Stadt."
       
       30 Sep 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Moritz Förster
       
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