# taz.de -- Mediziner Ulrich Frei über Organspende: "Das ist nicht Hokuspokus"
       
       > Ulrich Frei, Ärztlicher Direktor der Berliner Charité, über
       > Spenderprofile, die Vorzüge von Intensivmedizin während des
       > Sterbeprozesses und den Mythos Hirntod.
       
 (IMG) Bild: Ein Organ spenden? Oder die Netzhaut? Vor dieser Entscheidung fürchten sich immer noch viele Menschen.
       
       taz: Herr Frei, die große medizinethische Debatte dieses Herbstes berührt
       den vielleicht intimsten, vor allem aber einen mit Angst besetzten Bereich
       menschlicher Existenz: den Umgang mit dem eigenen Tod. Die gesetzliche
       Neuregelung der Organspende könnte so aussehen, dass sich jeder von uns
       künftig zu der Frage verhalten muss: Was soll mit seinem Körper geschehen,
       wenn das Hirn tot ist, einzelne Organe aber noch so funktionstüchtig sind,
       dass sie anderen Menschen das Leben retten könnten? Können Sie
       nachvollziehen, dass Menschen sich vor dieser Entscheidung fürchten? 
       
       Ulrich Frei: Selbstverständlich. Seit den 70er Jahren ist das zentrale
       Problem der Organspende, dass öffentlich nicht bekannt ist, unter welchen
       Bedingungen sie stattfinden kann, wer als Spender in Frage kommt und vor
       allem: wie verlässlich die Diagnose Hirntod ist. Hierum ranken sich Mythen,
       die der Spendebereitschaft nicht unbedingt förderlich sind.
       
       Dann entkräften Sie diese Mythen. Was passiert, wenn ein Motorradfahrer
       tödlich verunglückt und Sie seine Niere haben wollen? 
       
       Erstes Missverständnis! Der Mopedfahrer ohne Helm, das war der klassische
       Spender der 70er Jahre, ein Mensch, dessen Hirn tatsächlich verletzt war.
       Diesen Organspender gibt es praktisch nicht mehr: Selbst Fahrradfahrer
       tragen heute einen Helm. Nur noch ein Fünftel der heutigen Organspender hat
       eine Verletzungsursache.
       
       Sie sehen einen Zusammenhang zwischen glücklicherweise sinkenden tödlichen
       Unfallzahlen und dem Mangel an Spenderorganen? 
       
       Ich weise lediglich auf den Umstand hin, dass sich in den letzten 30 Jahren
       die Ursachen, die zum Hirntod führen, fundamental geändert haben: Über 80
       Prozent der heutigen Spender hatten einen Herzstillstand oder Schlaganfall
       - mithin keine Verletzung. Das sind Menschen, bei denen die Wiederbelebung
       für das Gehirn nicht erfolgreich war. Oder die einen Schlaganfall erlitten
       haben durch einen Gefäßverschluss oder durch eine Blutung. Dramatisch
       verändert hat sich daneben das Alter der Spender: Bis Mitte der 90er Jahre
       betrug der Anteil der über 65-Jährigen weniger als fünf Prozent. Heute
       nähern wir uns einem Drittel alter Organspender.
       
       Mit welcher Konsequenz für die Wartenden? 
       
       Die funktionstüchtige Niere eines Spenders ab 65 hat bei einem
       gleichaltrigen Empfänger gute Chancen, weiter gut zu arbeiten. Auch spielt
       die Übereinstimmung von Gewebeeigenschaften eine geringere Rolle als bei
       jüngeren Patienten. Für ältere Patienten ist das eine gute Nachricht. Die
       Wartezeit auf eine Niere etwa hat sich in der Gruppe der über 65-Jährigen
       seit 1999 von damals durchschnittlich sechs auf heute zwei Jahre verkürzt.
       Wir haben aber auch viele junge Patienten, die dringend warten.
       
       Die Bereitschaft, Organe zu spenden, ist vielleicht deshalb bei älteren
       Menschen größer, weil diese das Gefühl haben, ihr Leben gelebt zu haben.
       Jüngere hingegen fürchten, dass sie eventuell noch gar nicht richtig tot
       sind: Um Organe entnehmen zu können, muss ein Mensch hirntot sein - ein
       Zustand, in dem andere Körperfunktionen noch intakt sind. 
       
       Sterben ist ein Prozess. Der Hirntod ist der Nachweis des Todes nicht durch
       den Stillstand des Kreislaufs, sondern durch den kompletten Ausfall des
       Hirnorgans. Dies ist der Fall, wenn das Hirn - das ja ein extrem
       empfindliches Organ ist - länger als acht Minuten nicht durchblutet ist.
       Dann ist das Gehirngewebe irreversibel geschädigt. Diesen Nachweis können
       Mediziner diagnostisch seit den 60er Jahren erbringen: Es geht um den
       Zeitpunkt, an dem der Sterbeprozess unumkehrbar ist. Das ist nicht
       Hokuspokus. Hirntod ist etwas sehr Fassbares.
       
       Dennoch bleiben Zweifel, weil der Hirntote noch schwitzt, noch ausscheidet,
       einen Pulsschlag hat. 
       
       Warum das so ist? Weil bei einem Hirntoten jede Art von Regulation, die
       zuvor das Gehirn übernommen hat, weg ist. Die Blutdruckregulation, die
       Atemregulation, die Temperaturregulation, die Regulation von Hormonen - sie
       alle sind massiv gestört.
       
       Warum lassen Sie einem solchen Patienten überhaupt noch Intensivmedizin
       zuteil werden, wenn er doch tot ist? 
       
       Weil eine Organentnahme andernfalls nicht möglich ist. Organspende setzt
       Intensivmedizin voraus. Ein Herz, das aufgehört hat zu schlagen, können Sie
       nicht mehr transplantieren. Die Behandlung eines Hirntoten ist aufwendiger
       als die eines Lebendigen, weil die Intensivmedizin alles übernehmen muss,
       was vorher das Gehirn unwillkürlich gemacht hat.
       
       Das heißt umgekehrt: Sanftes Sterben und Organspende schließen einander
       aus. Damit dürften Sie für Ihr Anliegen eine große Zahl von Menschen
       verlieren. Diejenigen nämlich, die zwar grundsätzlich spendewillig sind,
       aber ein Sterben unter Apparatemedizin für sich ausschließen. 
       
       Es stimmt. Nur: Diese Patienten liegen bereits auf der Intensivstation -
       unter welchen akuten Umständen auch immer sie dahin gelangten. Wenn in der
       Patientenverfügung Intensivmedizin ausgeschlossen wird, dann ist
       automatisch auch Organspende ausgeschlossen. Hirntoddiagnostik ist auch
       eine Garantie, dass keine sinnlose Intensivmedizin angewendet wird. Für
       eine Organspende sind vielleicht 48 Stunden Intensivtherapie nötig. Das ist
       nicht das, was man sich unter einem langen Dahinvegetieren vorstellt.
       
       Viele Menschen haben Angst, dass die Ärzte vorschnell einen vermeintlichen
       Hirntod feststellen könnten. Schließlich herrscht in Deutschland
       Organmangel, schließlich ist jeder medizinische Eingriff auch immer ein
       Geschäft. 
       
       Der Hirntod darf absichtlich nicht von den behandelnden Intensivmedizinern
       festgestellt werden, sondern nur von einem externen Team. Zwei dafür
       qualifizierte Ärzte müssen den Hirntod unabhängig voneinander feststellen.
       Sie dürfen weder an der Entnahme der Organe noch an deren Transplantation
       beteiligt sein. Sie dürfen auch nicht der Weisung eines an der
       Transplantation beteiligten Arztes unterstehen. Ich sehe das Problem
       woanders: Viele Organe werden derzeit deswegen nicht transplantiert, weil
       das Krankenhaus nicht rechtzeitig die Angehörigen kontaktiert. Oder weil es
       gar nicht erkennt, wer sich als Spender eignet. Der durchschnittliche Arzt
       auf der Intensivstation kann das nicht ermessen. Dafür braucht es
       Spezialisten, geschulte Transplantationsbeauftragte. Hier müssen wir die
       Krankenhäuser weiterqualifizieren.
       
       Wie wird der Hirntod diagnostiziert? 
       
       Zunächst klinisch über die Prüfung der sogenannten Hirnnerven. Ein Zeichen
       für den Hirntod beispielsweise ist die weite, lichtstarre Pupille, die auch
       dann nicht reagiert, wenn Sie mit einer starken Lampe direkt ins Auge
       leuchten. Ein anderer Hirnnerv ist das Gleichgewichtsorgan, das man testen
       kann, indem man den Gehörgang mit eiskaltem Wasser spült. Schließlich kann
       man über Reize die Schmerzempfindung im Gesicht und den Schluckreflex
       testen. Dafür braucht man keine Maschine.
       
       Was ist mit der Atmung? 
       
       Das ist ein potenziell gefährlicher Test. Man kann ja nicht einfach das
       Beatmungsgerät abstellen und abwarten, ob der Patient noch atmet.
       
       Warum nicht? 
       
       Stellen Sie sich vor, der Patient ist gar nicht hirntot! Das Risiko ist zu
       groß. Was also machen wir? Wir setzen die Atemfrequenz des Beatmungsgeräts
       herunter. Sie kennen dieses Phänomen vom Luftanhalten: das Kohlendioxid im
       Blut steigt an, und den Reiz, wieder atmen zu wollen, kann der Wille
       irgendwann nicht mehr kontrollieren. Bevor wir die Beatmung ganz abtrennen,
       lassen wir über eine Sonde zehn Liter Sauerstoff direkt in die Lunge
       strömen. So entsteht keine Gefahr von Sauerstoffmangel, aber das
       Atemzentrum kommt an seine Grenzen. Jeder nicht Hirntote fängt dann
       zumindest mit einer Schnappatmung an.
       
       Irrtümer ausgeschlossen? 
       
       Schließlich können wir den Hirntod bildlich nachweisen. Die eindrücklichste
       Methode ist, mithilfe eines Kontrastmittels die Blutgefäße des Gehirns
       darzustellen. Beim Gesunden sehen Sie einen schönen Gefäßbaum, beim
       Hirntoten sehen Sie: nichts. Inzwischen geht das auch ohne Kontrastmittel,
       beispielsweise über die Magnetresonanztomografie (MRT). Oder der Arzt kann
       ein EEG schreiben. Sieht man über 30 Minuten keine einzige Hirnaktivität,
       dann ist der Patient hirntot.
       
       Anschließend können Sie - vorausgesetzt, Ihnen liegt eine Einwilligung vor
       - mit der Entnahme der Organe beginnen. In einigen Ländern wird der Körper
       des Hirntoten hierzu in Vollnarkose gelegt. Warum, wenn er doch angeblich
       gar nichts mehr spürt? Gibt es doch einen Restzweifel? 
       
       Nein. Es ist keine Narkose, sondern es sind spezielle Medikamente, um
       krampfartige Muskelbewegungen nach dem Tod zu unterdrücken, die sonst
       häufig - auch unabhängig von Organspende - beobachtet werden. Die
       Medikamente werden in erster Linie gegeben, um weniger erfahrenes
       medizinisches Personal nicht zu verstören.
       
       4 Oct 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Heike Haarhoff
       
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