# taz.de -- Tabakpolitik im Nationalsozialismus: An der Hungerschraube gedreht
> Das Buch "Reemtsma auf der Krim" von Karl Heinz Roth und Jan-Peter
> Abraham ist eine bestens belegte Studie über die deutsche
> Zigarettenindustrie im NS.
(IMG) Bild: Blick über einen Tabakversuchsgarten in Jalta, 1941/1943.
Behauptungen, dass der deutsche Nationalsozialismus sehr wesentlich ein
auch von massiven Kapitalinteressen betriebenes Unterfangen war, wirken
heute leicht altbacken. Viel stärker, so lesen wir, seien es ideologische
Interessen, persönliche Habgier oder mangelnde Zivilcourage gewesen, die
jene Diktatur und mit ihr das Verbrechen der Ermordung von 6 Millionen
europäischer Juden und den Tod von mehr als 20 Millionen Sowjetbürgern
ermöglichten.
Indes: Dass Kapitalinteressen im deutschen Faschismus eine treibende Rolle
spielten, beweist die soeben erschienene, ebenso dramatische wie
panoramatische, von Karl Heinz Roth und Jan-Peter Abraham verfasste Studie
"Reemtsma auf der Krim. Tabakproduktion und Zwangsarbeit unter der
deutschen Besatzungsherrschaft 1941-1944".
Die in zwölf Jahren intensiver und aufwändiger Quellenarbeit entstandene
Studie stellt nicht weniger als eine beispielhafte, in jedem Punkt bestens
belegte Fallstudie für eine Perspektive auf den Nationalsozialismus dar,
die in ihm nicht nur ein politisches, sondern vor allem auch ein
gesellschaftliches Koalitionsregime sieht. In diesem Koalitionsregime
verbündeten sich gegensätzliche Kräfte, miteinander konkurrierende Eliten
und um Kompetenzen rangelnde Institutionen der deutschen Gesellschaft zum
tödlichen Nachteil von Dritten: von Juden, von Angehörigen besiegter
Nationen und von kleineren Ethnien.
Adolf Hitler war bekanntlich Nichtraucher, und tatsächlich gab es in der
NS-Zeit erste Ansätze zur Erforschung von Lungenkrebs, die schon damals den
Genuss von Zigaretten als eine Hauptursache dieses Leidens kenntlich
machten. Andererseits war die Zigarette nicht nur ein populäres
Genussmittel, sondern auch eine akzeptierte, ja unverzichtbare Form des
Drogenkonsums, zumal in Zeiten unablässig geforderter Aufmerksamkeit, also
im Krieg. An Zigaretten und ihrem Konsum wurde im NS-Staat der Widerspruch
von darwinistischer Gesundheitsideologie hier und Kriegsmotivation dort
immer wieder ausgetragen.
Dafür stand beispielhaft der Tabakkonzern Reemtsma, der mit der Annexion
Österreichs 1938 unter Druck geraten war: Sowohl aus "gesundheits-" als
auch aus "sozialpolitischen" Gründen wollten Vertreter des
nationalsozialistischen Herrschaftsapparats die deutsche Tabakindustrie
verstaatlichen. Umgekehrt wollte die deutsche Zigarettenindustrie auch und
gerade in der "Ostmark" den Tabakhandel völlig privatisieren.
Indes: Dieser Schritt hätte in Österreich die treuesten Anhänger des
Nationalsozialismus, die vom staatlichen Monopol lebenden "Trafikanten", um
ihre Versorgungssicherheit gebracht, weshalb im Gegenzug die Parteikanzlei
der NSDAP immer stärker die Überführung der privaten Zigarettenindustrie,
namentlich des Reemtsma-Konzerns, in staatliches Eigentum ins Auge fasste.
Als Reaktion auf diese Bestrebungen diversifizierte der Konzern zunächst
seine Produktionspalette um Waschpulver und anderes.
## Der Markt der "Ostgebiete"
Der Raub- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion brachte schließlich
die Lösung. Was im "Reich" kaum noch möglich war, nämlich große Gewinne zu
erzielen, stellte sich in den nur drei Jahre aufrechterhaltenen,
kurzlebigen Kolonien ganz anders dar. Die Firma Reemtsma erkannte schnell,
dass in den eroberten "Ostgebieten" unter dem Schutz der Wehrmacht privates
Wirtschaften uneingeschränkt möglich war.
Es war die Eroberung der Halbinsel Krim - seit langem eine ob ihrer
klimatischen und geologischen Verhältnisse für den Tabakanbau geeignete
Region -, die sowohl dem Zigarettenkartell seine Rendite als auch
militärischer Front und Heimatfront die ausreichende Zufuhr der
kriegswichtigen Droge Nikotin sicherte.
Dazu musste sich die Firma Reemtsma vor allem mit den zuständigen Stellen,
in diesem Fall dem zuständigen "Wirtschaftskommando" der Wehrmacht,
einigen. Als Ergebnis dieser Einigung zwischen Kapital und Armee wurde
umgesetzt, was sich schon Hitler grundsätzlich in "Mein Kampf" als
deutsches Kolonialregime in Russland vorgestellt hatte: Ansiedlung
deutscher, "arischer" Bauern, intensive Ausbeutung der Arbeitskraft der
ansässigen Bevölkerung durch gezielte Verknappung der Nahrungsmittel, also
durch ein Drehen an der Hungerschraube, sowie die mittelfristige, durch
Hungertod bewusst herbeigeführte Verminderung, das heißt Ermordung von
Teilen der einheimischen Bevölkerung.
Hervorzuheben ist, dass es im Falle der Krim weder die NSDAP noch die SS
waren, die die wirtschaftlichen Interessen des Konzerns schützten, sondern
die Wehrmacht. Zu Recht schreiben die Autoren, dass der Konzern auf der
Krim im Einklang mit einer "Militärdiktatur" wirkte; die Wehrmacht war es,
die die Ermordung von Juden, Sinti und Roma sowie geisteskranken Menschen
nicht nur duldete, sondern tatkräftig förderte, mörderische Repressalien
gegen ganze Dörfer im Rahmen der "Partisanenbekämpfung" anordnete sowie
unmenschliche, entwürdigende Todesstrafen gegen einzelne Personen
verhängte.
Partei und SS spielten bei alledem nur die weltanschauliche und mörderische
Begleitmusik: sei es, dass die "Einsatzgruppen" hinter der Front die Juden
ermordeten, sei es, dass Mitarbeiter des SS "Ahnenerbes" oder Ideologen aus
der "Reichsleitung" Alfred Rosenbergs pseudowissenschaftlich darüber
spintisierten, ob und wie die Krim zur Zeit der Völkerwanderung die Heimat
der selbstverständlich "arischen" Goten gewesen sei.
Zu recht diskret, aber deutlich genug erörtern die Autoren zwei weitere
heikle Fragen, von denen eine seit der Publikation von Timothy Snyders
"Bloodlands" die zeithistorische Debatte in Atem hält. Also die Frage nach
einer "objektiven" Kooperation stalinistischer und nationalsozialistischer
Ausrottungspolitik gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen, zum anderen die
Frage nach der Kollaboration eben auch in Gebieten der Sowjetunion.
Vorsichtig abwägend kommen Abraham und Roth zu dem Schluss, dass auf der
von der Wehrmacht regierten Krim eine "parasitäre Ausbeutung" geherrscht
habe, die "es den Okkupanten gestattete, nahtlos an die zentralisierten und
auf unfreie Arbeitsverhältnisse getrimmten Produktionsverhältnisse [der
stalinistischen Sowjetunion, M. B.] anzuknüpfen und sie nach der
Einschaltung einer kollaborationsbereiten Mediatorenschicht effizient
auszubeuten."
## Gründe der Kollaboration
Nicht zu verhehlen ist auch, dass mindestens 30.000 Einheimische, darunter
viele Angehörige der tatarischen Volksgruppe, im Bereich polizeilicher,
administrativer und wirtschaftlicher und militärischer Tätigkeit
kollaborierten. Man mag das als Reaktion auf die sowjetischen
Zwangskollektivierungen der 1930er Jahre bewerten, kann aber nicht
übersehen, dass ein krimtatarisch-muslimischer Nationalismus zumal bei der
Judenverfolgung eine nicht unerhebliche Rolle spielte.
Im Übrigen kreuzten sich auch hier unterschiedliche weltanschauliche
Interessen divergierender Instanzen des Dritten Reiches: Während das
Auswärtige Amt, aber auch die SS auf die Herausbildung einer mit
Deutschland verbündeten türkischsprachigen muslimischen Staatlichkeit
setzten, war die Wehrmacht in diesem Fall zurückhaltender. Freilich wäre es
falsch, die Ethnie der Krimtataren insgesamt der Kollaboration zu zeihen,
zumal spätestens im November 1943 die von Hunger geplagte, unterworfene
Bevölkerung der Krim unterschiedlich Widerstand zu leisten begann.
Das von der Firma Reemtsma unter dem Schutz der Wehrmacht auf der Krim
errichtete Wirtschaftsregime stellte den nur vermeintlich paradoxen Fall
eines auf stalinistischer Politik beruhenden Kapitalismus dar: Der Firma
gelang es, so Roth und Abraham, "die unfreien Arbeitsverhältnisse der
stalinistischen Ära in ihren Kernelementen - Kolonnenarbeit, Tagewerke,
Normensysteme und Naturallohn - zu übernehmen und anschließend im Interesse
der Qualitäts- und Leistungssteigerung zu modifizieren."
Roths und Abrahams bahnbrechende Studie zeichnet sich dadurch aus, dass
keines ihrer Urteile einfach behauptet ist, vielmehr dürfte es nur wenige
Untersuchungen geben, die alle ihre Behauptungen mit einer solchen, beinahe
zu detailverliebten Sorgfalt belegen. Von den vorgesehenen Nahrungsmengen
für unterschiedliche Gruppen von Zwangsarbeitern bis hin zu Organigrammen
der deutschen Militärverwaltung - die Studie lässt keine Angabe unbelegt.
Sie stellt damit - über die pauschale "linke" Perspektive auf den
Nationalsozialismus hinaus - nicht weniger dar als eine weitere,
theoretisch begründete und vor allem empirisch gesättigte Untermauerung für
Max Horkheimers Diktum, dass wer vom Kapitalismus nicht sprechen möchte,
vom Faschismus schweigen soll.
Karl Heinz Roth, Jan-Peter Abraham: "Reemtsma auf der Krim. Tabakproduktion
und Zwangsarbeit unter der deutschen Besatzungsherschaft 1941- 1944",
Hamburg 2011, 576 Seiten, 39,90 Euro
Am Dienstag, den 18. Oktober stellt der Autor Karl Heinz Roth das Buch im
Gespräch mit taz-Redakteur Klaus Hillenbrand in Berlin im taz-Café vor,
19.30 Uhr
18 Oct 2011
## AUTOREN
(DIR) Micha Brumlik
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